Vertiefung von EU und Eurozone?

30.06.2017 / Axel Troost

Alle „Zeichen deuten nun auf eine Festigung und Verbreiterung der Erholung in der Eurozone hin“ – so EZB-Präsident Mario Draghi. Er blicke mit Zuversicht auf die wirtschaftliche Entwicklung im Währungsraum. Allerdings gäbe es immer noch größere Unterschiede in der Wachstumsdynamik und der Arbeitslosigkeit in den Mitgliedsländern. Seine Schlussfolgerung: Ein erhebliches Ausmaß an geldpolitischer Lockerung sei immer noch erforderlich. „Wenn die Konjunktur anzieht, werden wir graduell vorgehen müssen, wenn wir unsere geldpolitischen Parameter anpassen“, sagte der Italiener. So will die EZB sicherstellen, dass der geldpolitische Stimulus bei fortbestehenden Unsicherheiten die Erholung weiter unterstützt.

Der Verweis auf die leichte Aufwärtsbewegung in der Euro-Zone ist zutreffend. Die Unternehmen in der Eurozone hatten zu Beginn des zweiten Quartals ihre Produktion merklich erhöht. Dies spricht für anhaltendes Wirtschaftswachstum, nachdem im ersten Quartal das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit 0,6% doppelt so stark zugelegt hatte wie das der weltgrößten Volkswirtschaft USA. Auch die Arbeitslosenquote ist rückläufig – freilich langsamer als in den USA, aber das ist teilweise auf unterschiedliche Trends in der Erwerbsbeteiligung zurückzuführen. Die Arbeitslosigkeit ist mit unter 10% auf das niedrigste Niveau seit dem Jahr 2009 gesunken und das real verfügbare Einkommen für die Menschen im Euro-Raum steigt. Darüber hinaus haben sich die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen verbessert; das Gleiche gilt für die Kreditvergabe durch die Banken. Es ist der massiven Unterstützung der Europäischen Zentralbank zu verdanken, dass die Mitgliedstaaten vor dem brutalen Druck der Finanzmärkte geschützt wurden und durch die Niedrigzinspolitik wieder mehr fiskalischen Handlungsspielraum bekamen. Das hat die Grundlage für eine konjunkturelle Trendwende gelegt, die sich jedoch nicht ausreichend in einer Verbesserung der Arbeitsmarktlage niedergeschlagen hat, wie die alarmierend hohen Werte der Jugendarbeitslosigkeit in vielen EU Mitgliedsländer zeigen.

Die Erholung der Eurozone ist ohne weitere Konjunkturprogramme erfolgt. Freilich sollte man die langfristige wirtschaftliche Stärke der Eurozone nicht überschätzen. Obwohl die durchschnittliche Wachstumsrate in den nächsten paar Jahren wohl über 2% bleiben könnte, sind in etlichen Ländern erhebliche Fehlentwicklungen wegen zu geringer öffentlicher Investitionen nicht zu übersehen. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern sind nicht abgebaut worden. Vom Wirtschaftswachstum in Europa bekommt Italien derzeit zu wenig zu spüren: Gemäß der OECD-Statistik wird Italien 2017 nur knapp 1 Prozent wachsen – das ist der letzte Platz in Europa. 2018 soll das Wachstum sogar nur noch 0,8 Prozent betragen – was den Italienern in der OECD-Statistik gar den global letzten Platz beschert

Ich bleibe trotz dieser minimalen Trendwende bei der Feststellung: Die von Deutschland seit Jahren propagierte und den anderen Ländern aufgezwungene Vorstellung, wonach mehr Wachstum und mehr Beschäftigung nur durch nationale Spar- und „Reform“-Anstrengungen erreicht werden könnten, ist ökonomisch und politisch gescheitert. In der Folge und als Antwort hat der Rechtspopulismus in vielen Ländern Europas eine massive Stärkung erfahren, wenngleich dieser Schub vorerst gestoppt ist, wie die jüngsten Wahlergebnisse in Frankreich und Großbritannien zeigen. Mit der Wahl von Emmanuel Macron konnte eine schwere Krise für Europa gerade noch einmal abgewendet werden. Es wäre jedoch falsch, damit zur Tagesordnung zurückzugehen und an der bisherigen wirtschaftspolitischen Strategie für die Euro-Zone festzuhalten.

Die neoliberale Führungselite interpretiert die Ergebnisse dieser Entwicklung in der Eurozone als Beweis für die Segnungen der Austeritätspolitik. Mit Blick auf die hohe Beschäftigungsquote in der EU und die seit dem Brexit-Votum der Briten bestehende Geschlossenheit der EU-27 sagte Bundeskanzlerin Merkel, dass es um den Zusammenhalt Europas deutlich besser bestellt sei „als es manche hitzige Debatte vermuten lässt“. Sie hat sich in ihrer Regierungserklärung daher zu einem Fahrplan für eine mittelfristige Vertiefung der EU und der Euro-Zone ausgesprochen. Dies habe sie beim EU-Gipfel mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vereinbart. „Risiken, Haftung und Entscheidungsmöglichkeiten sollten weiterhin in einer Hand bleiben“, betonte die Kanzlerin mit Blick auf die angestrebte Reform der Euro-Zone. Die Interessen Deutschlands und Frankreichs seien bei der Gestaltung Europas aufs engste miteinander verbunden.

Mehr Wachstum und ein spürbarer Rückgang der Arbeitslosigkeit – vor allem in Ländern wie Spanien, Griechenland und Italien, aber auch Frankreich – sind die beste Voraussetzung dafür, dass die BürgerInnen Europa und den Euro nicht mehr nur als Flexibilitätszumutung erfahren, sondern als Motor eines „Wohlstands für alle“ und damit auch für politische Stabilität. Für eine solche Perspektive reicht der „Plan einer Vertiefung“ nicht aus. Für eine Wachstumsunion wäre eine europäische Investitionsinitiative unverzichtbar, die weit über den Juncker-Plan hinausgeht. Er sollte so modifiziert werden, dass künftig ein größerer Teil der angeregten Investitionen in jenen Ländern umgesetzt wird, die derzeit unter besonderer Investitions- und Wachstumsschwäche leiden und in denen das Finanzierungsumfeld für Investitionen wegen hoher länderbezogener Risikozuschläge besonders groß ist. Zudem sollten Investitionen stärker in Bereichen mit niedriger einzelwirtschaftlicher, aber hoher gesellschaftlicher Rendite gefördert werden.

Für die europäische Krise gibt es europäische Lösungen und dies ist keine unkritische EU-Bejubelung. Ich teile nicht die Auffassung von Sahra Wagenknecht, die jüngst meinte: „Aber der Weg, immer mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, ist der falsche Weg, weil er Demokratie untergräbt. Denn die Demokratie in Brüssel funktioniert nicht, weil die Voraussetzungen für demokratische Entscheidungen einfach nicht da sind. Demokratie verlangt Bürgernähe. Deswegen ist es besser, wenn in den Parlamenten der einzelnen Mitgliedstaaten die wichtigen Dinge für das betreffende Land entschieden werden. Nur dann werden die Menschen sich nicht entmachtet und entmündigt fühlen. (…) Aber es geht überhaupt nicht um das Nationale, sondern um eine Rückkehr zur Souveränität demokratischer Entscheidungen. Halbwegs funktionierende demokratische Strukturen gibt es aktuell nur in den einzelnen Ländern. Auch sie werden durch den Einfluss des großen Geldes ausgehöhlt, aber es gibt immerhin auch schlagkräftige Interessenorganisationen, die ein Gegengewicht bilden: Gewerkschaften, Sozialverbände. In Brüssel gibt es keine handlungsfähige zivilgesellschaftliche Gegenmacht gegen den Einfluss der Konzerne.“

Ich halte diese Position für eine Überschätzung der Spielräume nationalstaatlicher Politik. Die Stabilität nationaler Austeritätsregime begründet sich durch politische Kräfteverhältnisse in den Nationalstaaten. Eine Rückkehr zu nationalen Währungen – die radikalste Variante einer Renationalisierung – garantiert keine Lösungen gesellschaftlicher Probleme und ist für mich daher keine wünschenswerte politische Option. Dieser Weg würde mit dramatischen ökonomischen und sozialen Verwerfungen einhergehen. Die Alternative zu weniger Europa ist mehr Europa, aber anders. Ziel ist ein demokratisches und soziales Europa, das mit der nationalstaatlich begründeten Austeritätspolitik bricht und neue europäische Kooperationsmöglichkeiten eröffnet.

Durch die Einführung von Reformen – wie der alternativen Wirtschaftspolitik, der Ausgleichsunion, der gemeinsamen Schuldenaufnahmepolitik, der Schritte auf dem Wege zu einer europäischen Sozialunion, einer verbesserten Bankenregulierung und Bekämpfung von Steuerdumping sowie einer demokratisch gewählten und kontrollierten Europäischen Wirtschaftsregierung – lassen sich die EU und der Euro wirkungsvoll in Richtung eines solidarischen Europas transformieren.[1]

Europa braucht wirtschaftliches sozial-ökologisches Wachstum und zugleich einen Strukturwandel in der Förderung öffentlicher und privater Investitionen. Die Führungsrolle Deutschlands, die bislang in der massiven Durchsetzung von Austeritätspolitik besteht, muss überwunden werden, indem sich die ökonomische Hegemonialmacht von einer auf Leistungsbilanzüberschüsse ausgerichteten Wirtschaftspolitik verabschiedet und eine eher ausgeglichene Handelsbilanz anstrebt.

Gegenwärtig stehen die Signale auf Stopp. Die bevorstehenden Bundestagswahlen am 24. September lassen bis dahin aus Berlin keinerlei neue Initiativen zur Korrektur der bisherigen Europa-Politik der GroKo erwarten. Aus der EU-Kommission kommen Signale, die andere Optionen verfolgen: Wegen des Brexits und neuer Aufgaben für die EU sieht Haushaltskommissar Günther Oettinger eine Finanzierungslücke von jährlich rund 20 Mrd. Euro im EU-Budget. „Alleine der Ausstieg des Vereinigten Königreichs lässt uns mit einem Einnahmeminus von mindestens zehn Mrd. Euro pro Jahr zurück“, erklärte Oettinger. Hinzu kämen „neue Prioritäten wie Migration oder Verteidigung“. „Die Gesamtlücke könnte deshalb bis zu doppelt so hoch ausfallen.“ Deshalb brauche die EU entweder „die finanziellen Ressourcen, um diese neuen Aufgaben zu erfüllen“ oder müsse ihre „Ziele zurückschrauben“. Der EU-Haushalt beträgt derzeit rund 150 Mrd. Euro pro Jahr.

Ich trete dafür ein, alle Vorschläge zu stützen und zu bündeln, die dem gegenwärtigen gefährlichen Prozess der Desintegration der EU entgegentreten. Es kommt nicht darauf an, dass alle Maßnahmen genau in der beschriebenen Art und Weise verwirklicht werden. Es ist aber wichtig, die Alternative zum bisherigen Kurs sichtbar werden zu lassen und ausreichend auszustatten.

[1] Siehe hierzu u.a. www.axel-troost.de sowie restart-europe-now.eu

 

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