Wahlprogramm der Illusionen?

Von Axel Troost

14.11.2013 / 14.11.2013

Die kommende Europawahl findet statt in einer Phase zunehmender sozialer und ökonomischer Spaltung Europas. In vielen Ländern stehen die Menschen vor einem sozio-ökonomischen Trümmerhaufen des entfesselten Kapitalismus; die vorherr­schende politische Antwort auf die anhaltende Krise der europäischen Gesellschaften besteht aus Kürzungs-und Austeritätsprogrammen. Offenkundig bringt die Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung keine zukunftsfähige Gesellschafts­entwicklung. Die Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission hat mit ihrer Politik der Kürzung von Sozialleistungen, Löhnen, Bildung, Gesundheit und Renten ganze Bevölkerungen ins Elend gestürzt.

Die deutsche Bundesregierung hat die herrschende Austeritätspolitik zentral mit durch­gesetzt, mit der nicht nur die Krise verschärft und die soziale Spaltung vertieft, sondern auch die Zerstörung der demokratischen Willensbildung massiv befördert wird. Deutschland spielt eine zentrale Rolle in der Politik für und von Europa: es ist Politik und Medien gelungen, die Krise der Banken, die Krise des Finanzsektors, die Krise des finanzgetriebenen Kapitalismus umzudefinieren. Als seien die Bevölkerungen an den Krisen ihrer Länder schuld, weil sie über ihre Verhältnisse gelebt hätten – nicht die politische beförderte Deindustrialisierung und Zerstörung der Lebensgrundlagen breiter Bevölkerungsschichten.

In der LINKEN wird derzeit wie in allen anderen Parteien über das Programm und Personal für die Wahlen zum europäischen Parlament debattiert. Die Diskussion des Entwurfs ist Teil der Auseinandersetzung über den weiteren Kurs der Partei. Der Parteivorstand, der einen Entwurf des Wahlprogramms ausarbeitet und zur Diskussion stellt, orientiert sich an einem grundlegenden Politikwechsel: DIE LINKE wirbt für ein soziales, demokratisches und solidarisches Europa, das aus dem Klammergriff der Finanzmärkte befreit wird.

Die Argumentation für einen Politikwechsel ist keineswegs neu. DIE LINKE hat als einzige Partei im Bundestag die so genannten Rettungspakete der Bundesregierung abgelehnt. Nicht, weil wir gegen Solidarität in Europa sind, sondern weil wir für eine gemeinsame Korrektur der Fehlentwicklungen sind. Zusammen mit den sozialen Bewegungen und kapitalismuskritischen Parteien wollen wir sowohl in Europa als auchin Deutschland um gute soziale Standards ringen, die mit einer alternativen Ökonomie verknüpft sind. Aus der Spirale der Konkurrenz um Standorte und niedrige Steuern für Unternehmen können wir nur gemeinsam aussteigen. Dass immer mehr Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge dem Markt geöffnet werden, lässt sich nur in ganz Europa bekämpfen.

Diese Grundorientierung richtet sich gegen eine zunehmende Europa-Skepsis, denn auch in der politischen Linken – d.h. innerhalb und außerhalb der Linkspartei – wird die positive Haltung zu Europa und zur europäischen Solidarität angegriffen. „Es geht um die Frage, ob sich Die LINKE auf Bundesebene weiterhin als gesellschaftliche Oppo­sition oder als eine potentielle Regierungspartei verstehen will.“ Politiker vom linken Flügel kritisieren, dass der Entwurf ‚ein verklärtes illusionistisches Bild der EU‘ entwirft“

– so Andreas Wehr am 5.11. in der „jungen welt“. DIE LINKE müsse der Europäischen Union grundsätzlich kritisch gegenübertreten. Sie habe zwar den Lissabonner Vertrag abgelehnt und stimme regelmäßig gegen die sogenannten Rettungspakete, aber mit der im Wahlprogrammentwurf formulierten Grundrichtung bereite die Linkspartei die „Aussöhnung mit der real existierenden EU und damit mit einem entscheidenden Teil der kapitalistischen Wirtschaftsordnung vor. Damit kommt man zwar SPD und Grünen einen großen Schritt entgegen, doch zugleich wird die grundsätzlich ablehnende Haltung der Linkspartei gegenüber der EU aufgegeben.“ Die EU werde demnach als offenes Gefäß angesehen, das sich beliebig mit unterschiedlichsten Politikinhalten füllen ließe. Dies führe zu illusionären Vorstellungen über die Möglichkeit ihrer Veränderung. Tatsächlich sei aber die wirtschaftsliberale Ordnung der EU vertraglich fest eingeschrieben, und das seit ihrer Gründung 1957.

Keine Frage: in der Eurokrise sind die Gegensätze zwischen den europäischen Kern­staaten und jenen in der Peripherie stärker geworden. So entsteht nicht »eine immer engere Union«, wie es der offizielle Leitspruch der Union verheißt, es verstärken sich vielmehr die zentrifugalen Kräfte und drohen die Union am Ende zu zerreißen. Die gemeinsame Währung wird bereits in einigen Euroländern, so in Griechenland und in Zypern, als auch EU-Mitgliedern außerhalb der Eurozone von politischen Kräften offen zur Disposition gestellt. Soll DIE LINKE daher einen Austritt aus der Währungsunion betreiben und auf dem nationalstaatlichen Terrain für einen Politikwechsel streiten?

Der Ratschlag, dass eine Beteiligung auf europäischer Ebene und eine Orientierung auf einen grundlegenden Politikwechsel illusionär sind, verkennt den aktuellen Zusam­menhang zwischen nationaler und europäischer Ebene. „Die Gleichsetzung von europäischer und nationaler Ebene im Entwurf ignoriert, dass die Kampfbedingungen in den Mitgliedsländern im Vergleich zur europäischen Ebene ungleich günstiger sind. So ist das Sozialstaatsprinzip nur in Nationalstaaten, etwa im deutschen Grundgesetz, fest verankert. Die Union kennt in ihren Verträgen nichts Vergleichbares. Nur auf nationaler Ebene gibt es starke Gewerkschaften und handlungsfähige linke Parteien. Nur hier existieren Medien, die eine öffentliche Auseinandersetzung über den Kurs eines Landes überhaupt erst möglich machen.“ (Andreas Wehr)

Die Annahme günstigerer „Kampfbedingungen“ im nationalstaatlichen Kontext ist kein belastbares Argument. Selbst die Proteste von mehreren hunderttausend Menschen in den betroffenen Südländern haben den Austeritätskurs nicht verändern können. Im EU-Kernland Frankreich steht ein weiteres Erstarken der rechtsextremen „Front National“ zu befürchten. Insgesamt ist die politische Linke in Europa geschwächt, während rechtspopulistische bis rechtsextreme Strömungen wachsen.

Natürlich treten wir auch auf nationaler Ebene für soziale Forderungen und demo­kratische Rechte ein, aber jeder nationale Politikwechsel schließt eine Veränderung auf europäischer Ebene ein: denn das Kapital und die Konzerne agieren europäisch und international; sie setzen ihre ökonomische Macht auch politisch zur Durchsetzung ihrer Interessen in Europa ein. Das ist doch gerade die materielle Basis der neoliberalen Hegemonie in Europa. Die Beschäftigten internationaler Konzerne machen in immer kürzeren Abständen die Erfahrung, wie ihre Standorte gegeneinander ausgespielt werden, und wie ohnmächtig sie sind, wenn sie nicht in der Lage sind, grenz­übergreifende Solidarität herzustellen.

Deshalb führt an der Zusammenarbeit, Koordination und Verständigung der Gewerk­schaften, Linksparteien und Gruppen der sozialen Bewegungen kein Weg vorbei. Unser Programm und unsere Politik müssen dazu beitragen diesen Prozess zu befördern. Die zweite Bändigung des entfesselten Kapitalismus oder die Transformation dieses überholten Gesellschaftssystems, die Regulierung von Finanzmärkten, die Entwicklung von sozial gesicherten und ökologisch verträglichen Arbeitsplätzen sind eine gesamt­europäische Aufgabe; einen nationalen Ausweg aus den ökonomisch und ökologischen Krisen wird es im 21. Jahrhundert nicht geben.

Der Vorschlag, die europäische Gestaltungsebene auszublenden und sich auf die Veränderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses im nationalstaatlichen Rahmen zu konzentrieren, verkennt die ökonomisch-sozialen Verflechtungen. Einen Ausweg aus der Abwärtsspirale der neoliberalen Austeritätspolitik können wir nur gemein in Europa durchsetzen. Die Linke tritt sowohl für den nationalen wie den europäischen Rahmen mit konkreten Alternativen an. Wir werben für ein sofortiges Ende der diktierten Spar­programme. Wir wollen, dass über die Politik in den Krisenländern die dortigen gewählten Parlamente entscheiden, und nicht die Regierungschefs anderer Länder und andere demokratisch nicht legitimierte Institutionen (wie die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds). Ein sofortiges Ende der Renten-, Lohn- und Sozialkürzungen sowie der Privatisierungen soll den Übergang zu einer anderen ökonomischen Entwicklung eröffnen. Wir wollen sinnvolle Investitionen in die Zukunft für nachhaltige Wirtschaftsstrukturen und Energieversorgungssysteme wie sie auch im Marshallplan des DGB für Europa vorgesehen sind.