30 Stunden sind genug

Von Heinz-J. Bontrup, junge Welt

07.04.2012 / 04.04.2012

Debatte. Eine Verkürzung der Arbeitszeit ist längst überfällig – und bei vollem Lohn- und Personalausgleich realisierbar

In kapitalistischen Ordnungssystemen erhalten die abhängig Beschäftigten aufgrund der Eigentumsverhältnisse nie den vollen Wert ihrer Arbeit, sondern nur den Wert ihrer Arbeitskraft als Lohn. Das so entstehende Überschußprodukt ist vom Unternehmer, vom Kapital, angeeignete Mehrarbeitszeit in Form von Gewinn, Zins, Miete und Pacht. Der US-amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith spitzte dies zu und bezeichnete diesen kapitalismusimmanenten Vorgang als »plumpen Diebstahl« an der Arbeiterschaft.

Die Ware Arbeitskraft

Im Gegensatz zur heute in der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung dominanten neoklassischen/neoliberalen Theorie, die die Ausbeutung mit ihrer subjektiven Wertlehre schlicht wegdefiniert hat, ist der Austausch der Ware Arbeitskraft und ihre Arbeitszeit an den Arbeitsmärkten nicht mit jeder anderen Ware gleichzusetzen. In extrem offensiver Weise vertritt diese Gleichsetzungsthese dennoch u. a. der Präsident des Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn: »Der Markt für die Ware Arbeitskraft unterscheidet sich (…) nicht vom Markt für Äpfel. Das mag man bedauern, aber so ist es.« Diese bewußte interessengeleitete Mystifikation stimmt aber in vielerlei Hinsicht realiter nicht. Der deutsche Ökonom Erich Preiser hat 1933 diese Gleichstellungsthese bereits hinlänglich widerlegt: Die Ware Arbeitskraft wird nicht »produziert«, das Angebot ist weitgehend starr bzw. unelastisch. Es läßt sich bei steigendem Preis (Lohn) nicht beliebig vermehren, bei sinkendem nicht vermindern.

In der wirtschaftlichen Realität kommt es dadurch zu einer strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten gegenüber den nachfragenden Unternehmern, die wesentlich länger mit ihrem laufenden Geschäftsbetrieb auf eine Anstellung warten können als die Arbeitskraftanbieter, die lebensnotwendig ein Einkommen benötigen und darüber hinaus auch noch mit anderen Beschäftigten um eine freie Stelle konkurrieren müssen. Und bei der besonderen Ware Arbeitskraft kommt noch etwas Entscheidendes, etwas Individuelles, hinzu: Der Arbeitsplatz ist nicht nur die »wirtschaftliche Existenzgrundlage« des Beschäftigten und regelmäßig auch seiner Familie, stellt das Bundesverfassungsgericht fest. »Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dieses ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht in Frage gestellt. Die Aussichten, eine ähnliche Position ohne Einbußen an Lebensstandard und Verlust von Nachbarschaftsbeziehungen zu finden, hängen vom Arbeitsmarkt ab.« Ausnahmen von der allgemeinen Unterlegenheitssituation der Arbeitskräfte liegen nur vor, »wenn auf einem Teilmarkt Mangel an Spezialkräften herrscht oder wenn eine allgemeine Vollbeschäftigungssituation vorliegt«, betont der deutsche Ökonom Alfred Stobbe.

Das ist jedoch, historisch gesehen, nicht die Regel. Vollbeschäftigung, so stellten schon der polnische Ökonom Michal Kalecki 1943 und seine britische Kollegin Joan Violet Robinson 1949 fest, schwächt die Macht der Unternehmer und stärkt die der Beschäftigten bzw. ihre Gewerkschaften. So überrascht es nicht, daß bei relativen Verknappungen auf Teilarbeitsmärkten, bei aber gleichzeitig dennoch vorliegender Massenerwerbslosigkeit, sofort der Ruf der Unternehmer nach der Politik erschallt. Zuwanderung, sonst allgemein im Unternehmerlager verpönt, ist dann auf einmal kein Problem mehr. Man akzeptiert eben keine Lohnsteigerungen aufgrund von Verknappungen an Arbeitsmärkten. Die aktuelle Phantomdiskussion, wie wissenschaftliche Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) um eine angebliche Fachkräftelücke zeigen, macht dies überdeutlich.

Doppelte Fremdbestimmung

Die Ware Arbeitskraft unterliegt bei ihrem Verkauf neben der strukturellen Unterlegenheit und der Notwendigkeit auf einen Arbeitsplatz angewiesen zu sein, zusätzlich noch einer doppelten Fremdbestimmung. Menschliche Arbeit hat sich erstens in den Unternehmen im arbeitsteiligen Produktionsprozeß den jeweils dort gestellten Anforderungen und Hierarchien unterzuordnen. Im unternehmerischen Innenverhältnis herrscht gegenüber den abhängig Beschäftigten das »Investitionsmonopol des Kapitals« (Erich Preiser). Nur die Eigentümer entscheiden hier final wann, wie und wo investiert wird. Damit liegt die gesamte Macht in den Händen der Unternehmer/Manager. Selbst anhand der neoklassischen Produktionsfunktion kann man aber wie folgt zeigen, daß dies ein Paradoxon ist. In der Produktion gibt es immer zwei Inputfaktoren, Arbeit und Kapital. Mit dem Einsatz nur eines Faktors ist dabei kein Output zu erzielen. Arbeit und Kapital sind aufeinander angewiesen. Wieso bestimmt dann aber nur das Kapital in den Unternehmen über die Investitionen, den Arbeitseinsatz, Entlassungen und die Gewinnverwendung? Darauf gibt es keine ökonomisch logische Antwort. Hieraus leitet sich aber ökonomisch zwingend eine paritätische Mitbestimmung der Beschäftigten in allen wirtschaftlichen Angelegenheiten ab, was aber die angeblich politisch Herrschenden gegenüber dem wirklich herrschenden Kapital nicht durchzusetzen vermögen – und es auch offensichtlich nicht wollen. Und zweitens unterliegt die Arbeitskraft im kapitalistischen System, wie das Kapital selbst, den immanenten Markt- und Konkurrenzgesetzen. Dies zeigt gerade einmal mehr der aktuelle »Schlecker-Fall«. Daher ist das Kapital ständig bemüht, die »Peitsche« des Wettbewerbs durch Monopolisierung, Oligopolisierung oder Kartellierung zu eliminieren. Gelingt dies, so ist in der Regel das Kapital sogar bereit, den Beschäftigten ein wenig vom ausbeuterischen Monopolgewinn abzugeben. Hier entstehen dann merkwürdige Allianzen zwischen Kapital und Arbeit zu Lasten Dritter. Auch zu Lasten der Beschäftigten in den nicht marktbeherrschenden, sondern von den Monopolen ausgebeuteten Unternehmen.

Folgen der Umverteilung

Beim Austausch von Arbeitskraft und Arbeitszeit ist weiter zu beachten, daß Arbeitsmärkte immer nur von den Güter-, Geld- und Kapitalmärkten abgeleitete Märkte sind. Wieviel Arbeitskräfte bzw. Arbeitszeit letztlich nachgefragt werden, darüber entscheidet schlicht der Tatbestand, wieviel Arbeit im Produktions- und Realisationsprozeß in einer Volkswirtschaft zu verrichten ist. Entscheidenden Einfluß auf die Arbeitsnachfrage hat hier das Verhältnis der von der Nachfrage an den Gütermärkten bestimmten Produktion und ihrer jeweils immanenten Produktivität. Wird in diesem Kontext in Anbetracht des Lohn-Doppelcharakters, der auf der einen Seite Kosten bei gleichzeitiger Leistung beinhaltet, und auf der anderen Seite kaufkraftschaffendes Einkommen impliziert, der reale (inflationsbereinigte) Lohn immer mehr unter die Produktivitätsrate gedrückt, dann fällt schließlich Nachfrage auf den Gütermärkten aus, und es kommt in Folge zu Arbeitslosigkeit. Sie ist dann das Ergebnis nicht zu hoher, sondern – im Vergleich zur Produktivität – zu niedriger Reallöhne. So ist in Deutschland, bedingt durch eine neoliberale Umverteilung von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen (Gewinn, Zins, Mieten und Pachten), von 2000 bis 2007 (bis zum Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise) die gesamtwirtschaftliche Bruttolohnquote um fast neun Prozentpunkte gesunken und in gleicher Höhe die Gewinnquote gestiegen. Dies bedeutet etwa eine marktbezogene Umverteilung von 150 Milliarden Euro jährlich zu Lasten der Beschäftigten.

Arbeitslosigkeit entsteht aber auch, wenn die Produktion neben fehlender Nachfrage aufgrund zu niedriger Löhne von der Produktivität überholt wird. Ist das preisbereinigte Wachstum (die Produktionsrate) kleiner als die Produktivitätsrate, so sinkt in Folge das benötigte Arbeitsvolumen, wie die Werte in Tabelle 1 für die bundesdeutsche Wirtschaft bereits seit Beginn der 1960er Jahre, mit Ausnahme der 1980er Jahre, zeigen. Kommt es bei einer solchen Konstellation dann nicht zu einer Reduzierung der Arbeitszeit je Beschäftigten, dann werden weniger Arbeitskräfte benötigt, und es entsteht Arbeitslosigkeit, die wiederum die Ursache für eine Umverteilung zu Lasten der Beschäftigten in Form eines Lohnverfalls ist. Ein sich verstärkender Teufelskreis. Auch kann es dann nicht verwundern, daß immer mehr atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstehen, die vom Normalarbeitsverhältnis abweichen, das auf Vollzeit und einer unbefristeten sowie sozialversicherungspflichtigen Arbeit basiert. Diese »normale« Arbeit gilt für Millionen von Beschäftigten in Deutschland aber nicht mehr. Sie arbeiten vielmehr in Teilzeit, Minijobs, auf befristeten Stellen oder als Leiharbeiter, häufig zu Arbeitsbedingungen mit Prekaritätslöhnen in einem Niedriglohnsektor. Mittlerweile ist davon fast jeder vierte deutsche Beschäftigte betroffen – das sind acht Millionen Menschen. Sie erhalten durchschnittliche Stundenlöhne von 6,68 Euro in West- und 6,52 Euro in Ostdeutschland. Niedrige Löhne bewirken bei den Betroffenen eine weitere ökonomische Gesetzmäßigkeit: Um die Einkommensverluste auszugleichen, bieten die abhängig Beschäftigten mehr Arbeit an (legal und auch in Schwarzarbeit), so daß es hierdurch bei schon bestehendem Überschußangebot zu einem noch weiteren Lohnverfall kommt. Man nennt dies unter Ökonomen auch eine anormale Arbeitsangebotsreaktion.

Mehr Aufklärung nötig

Nur durch eine Beseitigung der Arbeitslosigkeit kann diese unheilvolle und sozio-ökonomisch gefährliche Entwicklung zum Stoppen gebracht werden. Ansonsten wird der Druck auf die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften nicht schwinden, und sie müssen immer weitergehende Zugeständnisse an Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und Bezahlung machen. Natürlich klafft hier ein kapitalistisch immanenter Widerspruch zwischen Einzel- und Gesamtwirtschaft. Und auch viele Beschäftigte in den Unternehmen, die in der Vergangenheit verstärkt Realeinkommensverluste haben hinnehmen müssen, sind nicht – auch nicht in Solidarität mit den Erwerbslosen – an Arbeitszeitverkürzungen interessiert. Sie glauben aus Erfahrungen, daß Arbeitszeitverkürzungen zu Intensivierungen ihrer Arbeit führen, weil es nicht zu entsprechenden Personaleinstellungen gekommen ist, und vor allen Dingen glauben sie nicht daran, daß die Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich stattfinden. Dies macht es den Gewerkschaftsspitzen so schwer, die Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzungen der betrieblichen Basis in den Unternehmen zu vermitteln. Hier hilft nur ökonomische Aufklärungsarbeit und Schulung. Arbeitszeitverkürzungen können bei vollem Lohn- und Personalausgleich vorgenommen werden. Der Lohnsatz kann gemäß der Produktivitäts- und Inflationsrate steigen, damit das absolute reale Monats- oder Jahreseinkommen konstant bleibt. Für den »Verzicht« auf ein steigendes reales Einkommen arbeiten die Beschäftigten dann weniger und gewinnen an persönlicher Zeitsouveränität, um Zeit für eine nicht fremdbestimmte Selbstentfaltung zu haben und auch weniger durch krankmachende Arbeit belastet zu sein. Und die heute Erwerbslosen hätten Lohnarbeit und würden nicht weiter gesellschaftlich ausgegrenzt und durch staatliche Alimentierung gedemütigt. Der »Gewaltakt« (Oskar Negt), der Menschen mit Arbeitslosigkeit angetan wird, wäre beendet.

Beschäftigungslücke schließen

Reicht Arbeitszeitverkürzung aber noch aus? Um es vorweg zu sagen, nein, sie reicht aufgrund der nicht adäquat verkürzten Arbeitszeit in der Vergangenheit nicht mehr aus, um eine vollbeschäftigte Wirtschaft zu bekommen. Die gesamtwirtschaftliche Rechnung ist dabei einfach. Unterstellt, die Wirtschaft wächst in Zukunft um real 1,5 Prozent und die Produktivität mit 1,8 Prozent, dann sinkt in Folge das Arbeitsvolumen um jährlich 0,3 Prozentpunkte. Diese durchschnittliche wirtschaftliche Konstellation war etwa der empirische Befund der letzten dreißig Jahre. Wird weiter unterstellt, daß der Rückgang des Arbeitsvolumens zukünftig durch die demographische Entwicklung in Form eines rückläufigen gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots kompensiert werden kann, dann würde sich an der bestehenden Beschäftigungslücke von rund fünf Millionen fehlenden Arbeitsplätzen in Deutschland nichts ändern. Und selbst wenn der demographische Effekt stärker durchschlagen sollte, wird in Deutschland weiter Massenerwerbslosigkeit vorliegen, deren fiskalische Kosten übrigens bei rund 60 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Darin sind enthalten: Arbeitslosengeld I und II, Steuerausfälle und Ausfälle bei den Sozialbeiträgen. Noch nicht eingerechnet sind hier die Folgekosten von Erwerbslosigkeit durch Krankheit, soziale Isolation etc.

Daher wäre über einen Zeitraum von fünf Jahren eine Arbeitszeitverkürzung von fünf Prozent pro Jahr bei den heute Vollzeitbeschäftigten mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von gut 38 Stunden (vgl. Tabelle 2) auf eine 30-Stunden-Woche dringend notwendig. Dies würde sukzessive einen rechnerischen Arbeitskräftemehrbedarf von gut 6,6 Millionen abhängig Beschäftigten notwendig machen. Hiervon abzuziehen ist, wegen der verkürzten Arbeitszeit, ein induzierter Produktivitätseffekt von etwa 30 Prozent, so daß sich der tatsächliche Beschäftigungseffekt auf einen personellen Mehrbedarf von knapp 4,7 Millionen Arbeitskräften reduziert. Da aber außerdem viele heute nur Teilzeitbeschäftigte Vollzeit arbeiten wollen (und selbst wenn es nur zwei Millionen von den insgesamt gut 12,5 Millionen sind; vgl. Tabelle 2), sinkt noch einmal bei einer Aufstockung ihrer Arbeitszeit auf eine 30-Stunden-Woche der tatsächliche Beschäftigungseffekt der Arbeitszeitverkürzung auf einen Mehrbedarf an Arbeitskräften von etwa 4,1 Millionen. Diese Arbeitszeitverkürzung reicht also nicht, um die bestehende Beschäftigungslücke von rund fünf Millionen fehlenden Arbeitsplätzen wirklich zu schließen. Zusätzlich müßte es noch zu einem Ausbau an Beschäftigung im öffentlichen Sektor kommen. Hier wurde in der Vergangenheit zum Nachteil der Gesellschaft ein kontraproduktiver Abbau an Arbeitsplätzen betrieben. In Deutschland fehlen beim Staat (Bund, Länder, Kommunen) Arbeitskräfte in fast allen Bereichen. In der staatlichen Administration, im Umweltschutzbereich, in Kindergärten, in Schulen und Hochschulen und im Gesundheitswesen. Dies natürlich umso mehr, wenn auch hier die Arbeitszeit auf eine 30-Stunden-Woche reduziert würde.

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Wer soll die 30-Stunden-Woche finanzieren? Zunächst einmal würde durch den Abbau der Arbeitslosigkeit teilweise ein gesamtwirtschaftlicher Selbstfinanzierungseffekt eintreten. Die heute entstehenden enormen fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit würden entfallen. Der Staat hätte durch eine vollbeschäftigte Wirtschaft höhere Steuereinnahmen und die Sozialversicherungssysteme ebenfalls mehr Beitragseinnahmen. Außerdem müßte der Staat keine Erwerbslosen mehr mit Arbeitslosengeld alimentieren. Die Staatsausgaben würden bei vermehrten Einnahmen sinken, so daß auch die Staatsverschuldung zurückgehen würde und der Staat außerdem weniger an Zinsen zahlen müßte. Dadurch würden noch einmal die Staatsausgaben sinken. Auch die Wirtschaft würde insgesamt profitieren. Es fiele weniger an Nachfrage aus, da nun einmal Erwerbslose weniger konsumieren können als Beschäftigte.

Dennoch reicht dies zur Finanzierung der hier in den nächsten fünf Jahren vorgeschlagenen Arbeitszeitverkürzung von fünf Prozent pro Jahr auf eine 30-Stunden-Woche nicht aus. Geht man wie aufgezeigt von einer Produktivitätssteigerung von jahresdurchschnittlich 1,8 Prozent und einer Inflationsrate von 1,2 Prozent aus, so läge der verteilungsneutrale Spielraum bei drei Prozent im Jahr. Unterstellt man dabei, daß die 1,2 Prozent Preissteigerungsrate zum Ausgleich der Kaufkraft in Lohnerhöhungen fließen, dann wird bei einer fünfprozentigen Arbeitszeitverkürzung der verteilbare Produktivitätszuwachs in Höhe von 1,8 Prozent mit 3,2 Prozentpunkten überzogen. Es käme also zu einer Umverteilung zu Lasten der Besitzeinkommen bzw. der volkswirtschaftlichen Gewinnquote. Dies wäre aber vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit vollzogenen Umverteilung zu Lasten der Lohnquote geradezu geboten. Erstens, um wieder mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen und zweitens um eine der Hauptquellen der Finanzspekulationen und Finanzkrisen auszutrocknen, die ihre Ursache letztlich in den stark gesunkenen Lohnquoten der letzten Jahrzehnte hatte.

Eine Umverteilung von oben nach unten wird natürlich nicht ohne heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen, sowohl zwischen Kapital und Arbeit als auch im politischen Raum erreichbar sein. Es war aber in kapitalistischen Systemen schon immer ein Kampf um die Aufteilung der arbeitsteilig geschaffenen Wertschöpfungen bzw. Produktivitäten. Die Gewerkschaften und ihre Beschäftigten in den Unternehmen allein werden es jedoch nicht mehr schaffen, die Weiche in Richtung kollektiver Arbeitszeitverkürzung zu stellen. Arbeitszeitverkürzung muß dringend ein gesamtgesellschaftliches Projekt werden, das auch die politischen Parteien auf ihre Fahnen schreiben müssen, ebenso die Kirchen und Sozialversicherungsträger, die Erwerbsloseninitiativen und die Umweltschutzverbände. Sonst wird es nichts mit einer schon lange überfälligen Arbeitszeitverkürzung.

Heinz-J. Bontrup/Lars Niggemeyer/Jörg Melz, Arbeitfairteilen, VSA-Verlag, Hamburg 2007, 88 Seiten, 6,50 Euro, Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarrat mit einem Vorwort von Eckart Spoo, Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, Sonderdruck, in: Ossietzky, Mai 2011, 20 Seiten, 2 Euro
Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup, Wirtschaftswissenschaftler an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Vor seiner Berufung zum Professor war er Arbeitsdirektor (Personalvorstand) in der Stahlindustrie