Debatte. Eine Verkürzung der Arbeitszeit ist längst überfällig – und bei vollem Lohn- und Personalausgleich realisierbar
In kapitalistischen Ordnungssystemen erhalten die abhängig Beschäftigten aufgrund der Eigentumsverhältnisse nie den vollen Wert ihrer Arbeit, sondern nur den Wert ihrer Arbeitskraft als Lohn. Das so entstehende Überschußprodukt ist vom Unternehmer, vom Kapital, angeeignete Mehrarbeitszeit in Form von Gewinn, Zins, Miete und Pacht. Der US-amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith spitzte dies zu und bezeichnete diesen kapitalismusimmanenten Vorgang als »plumpen Diebstahl« an der Arbeiterschaft.
In der wirtschaftlichen Realität kommt es dadurch zu einer strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten gegenüber den nachfragenden Unternehmern, die wesentlich länger mit ihrem laufenden Geschäftsbetrieb auf eine Anstellung warten können als die Arbeitskraftanbieter, die lebensnotwendig ein Einkommen benötigen und darüber hinaus auch noch mit anderen Beschäftigten um eine freie Stelle konkurrieren müssen. Und bei der besonderen Ware Arbeitskraft kommt noch etwas Entscheidendes, etwas Individuelles, hinzu: Der Arbeitsplatz ist nicht nur die »wirtschaftliche Existenzgrundlage« des Beschäftigten und regelmäßig auch seiner Familie, stellt das Bundesverfassungsgericht fest. »Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dieses ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht in Frage gestellt. Die Aussichten, eine ähnliche Position ohne Einbußen an Lebensstandard und Verlust von Nachbarschaftsbeziehungen zu finden, hängen vom Arbeitsmarkt ab.« Ausnahmen von der allgemeinen Unterlegenheitssituation der Arbeitskräfte liegen nur vor, »wenn auf einem Teilmarkt Mangel an Spezialkräften herrscht oder wenn eine allgemeine Vollbeschäftigungssituation vorliegt«, betont der deutsche Ökonom Alfred Stobbe.
Das ist jedoch, historisch gesehen, nicht die Regel. Vollbeschäftigung, so stellten schon der polnische Ökonom Michal Kalecki 1943 und seine britische Kollegin Joan Violet Robinson 1949 fest, schwächt die Macht der Unternehmer und stärkt die der Beschäftigten bzw. ihre Gewerkschaften. So überrascht es nicht, daß bei relativen Verknappungen auf Teilarbeitsmärkten, bei aber gleichzeitig dennoch vorliegender Massenerwerbslosigkeit, sofort der Ruf der Unternehmer nach der Politik erschallt. Zuwanderung, sonst allgemein im Unternehmerlager verpönt, ist dann auf einmal kein Problem mehr. Man akzeptiert eben keine Lohnsteigerungen aufgrund von Verknappungen an Arbeitsmärkten. Die aktuelle Phantomdiskussion, wie wissenschaftliche Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) um eine angebliche Fachkräftelücke zeigen, macht dies überdeutlich.
Arbeitslosigkeit entsteht aber auch, wenn die Produktion neben fehlender Nachfrage aufgrund zu niedriger Löhne von der Produktivität überholt wird. Ist das preisbereinigte Wachstum (die Produktionsrate) kleiner als die Produktivitätsrate, so sinkt in Folge das benötigte Arbeitsvolumen, wie die Werte in Tabelle 1 für die bundesdeutsche Wirtschaft bereits seit Beginn der 1960er Jahre, mit Ausnahme der 1980er Jahre, zeigen. Kommt es bei einer solchen Konstellation dann nicht zu einer Reduzierung der Arbeitszeit je Beschäftigten, dann werden weniger Arbeitskräfte benötigt, und es entsteht Arbeitslosigkeit, die wiederum die Ursache für eine Umverteilung zu Lasten der Beschäftigten in Form eines Lohnverfalls ist. Ein sich verstärkender Teufelskreis. Auch kann es dann nicht verwundern, daß immer mehr atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstehen, die vom Normalarbeitsverhältnis abweichen, das auf Vollzeit und einer unbefristeten sowie sozialversicherungspflichtigen Arbeit basiert. Diese »normale« Arbeit gilt für Millionen von Beschäftigten in Deutschland aber nicht mehr. Sie arbeiten vielmehr in Teilzeit, Minijobs, auf befristeten Stellen oder als Leiharbeiter, häufig zu Arbeitsbedingungen mit Prekaritätslöhnen in einem Niedriglohnsektor. Mittlerweile ist davon fast jeder vierte deutsche Beschäftigte betroffen – das sind acht Millionen Menschen. Sie erhalten durchschnittliche Stundenlöhne von 6,68 Euro in West- und 6,52 Euro in Ostdeutschland. Niedrige Löhne bewirken bei den Betroffenen eine weitere ökonomische Gesetzmäßigkeit: Um die Einkommensverluste auszugleichen, bieten die abhängig Beschäftigten mehr Arbeit an (legal und auch in Schwarzarbeit), so daß es hierdurch bei schon bestehendem Überschußangebot zu einem noch weiteren Lohnverfall kommt. Man nennt dies unter Ökonomen auch eine anormale Arbeitsangebotsreaktion.
Daher wäre über einen Zeitraum von fünf Jahren eine Arbeitszeitverkürzung von fünf Prozent pro Jahr bei den heute Vollzeitbeschäftigten mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von gut 38 Stunden (vgl. Tabelle 2) auf eine 30-Stunden-Woche dringend notwendig. Dies würde sukzessive einen rechnerischen Arbeitskräftemehrbedarf von gut 6,6 Millionen abhängig Beschäftigten notwendig machen. Hiervon abzuziehen ist, wegen der verkürzten Arbeitszeit, ein induzierter Produktivitätseffekt von etwa 30 Prozent, so daß sich der tatsächliche Beschäftigungseffekt auf einen personellen Mehrbedarf von knapp 4,7 Millionen Arbeitskräften reduziert. Da aber außerdem viele heute nur Teilzeitbeschäftigte Vollzeit arbeiten wollen (und selbst wenn es nur zwei Millionen von den insgesamt gut 12,5 Millionen sind; vgl. Tabelle 2), sinkt noch einmal bei einer Aufstockung ihrer Arbeitszeit auf eine 30-Stunden-Woche der tatsächliche Beschäftigungseffekt der Arbeitszeitverkürzung auf einen Mehrbedarf an Arbeitskräften von etwa 4,1 Millionen. Diese Arbeitszeitverkürzung reicht also nicht, um die bestehende Beschäftigungslücke von rund fünf Millionen fehlenden Arbeitsplätzen wirklich zu schließen. Zusätzlich müßte es noch zu einem Ausbau an Beschäftigung im öffentlichen Sektor kommen. Hier wurde in der Vergangenheit zum Nachteil der Gesellschaft ein kontraproduktiver Abbau an Arbeitsplätzen betrieben. In Deutschland fehlen beim Staat (Bund, Länder, Kommunen) Arbeitskräfte in fast allen Bereichen. In der staatlichen Administration, im Umweltschutzbereich, in Kindergärten, in Schulen und Hochschulen und im Gesundheitswesen. Dies natürlich umso mehr, wenn auch hier die Arbeitszeit auf eine 30-Stunden-Woche reduziert würde.
Dennoch reicht dies zur Finanzierung der hier in den nächsten fünf Jahren vorgeschlagenen Arbeitszeitverkürzung von fünf Prozent pro Jahr auf eine 30-Stunden-Woche nicht aus. Geht man wie aufgezeigt von einer Produktivitätssteigerung von jahresdurchschnittlich 1,8 Prozent und einer Inflationsrate von 1,2 Prozent aus, so läge der verteilungsneutrale Spielraum bei drei Prozent im Jahr. Unterstellt man dabei, daß die 1,2 Prozent Preissteigerungsrate zum Ausgleich der Kaufkraft in Lohnerhöhungen fließen, dann wird bei einer fünfprozentigen Arbeitszeitverkürzung der verteilbare Produktivitätszuwachs in Höhe von 1,8 Prozent mit 3,2 Prozentpunkten überzogen. Es käme also zu einer Umverteilung zu Lasten der Besitzeinkommen bzw. der volkswirtschaftlichen Gewinnquote. Dies wäre aber vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit vollzogenen Umverteilung zu Lasten der Lohnquote geradezu geboten. Erstens, um wieder mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen und zweitens um eine der Hauptquellen der Finanzspekulationen und Finanzkrisen auszutrocknen, die ihre Ursache letztlich in den stark gesunkenen Lohnquoten der letzten Jahrzehnte hatte.
Eine Umverteilung von oben nach unten wird natürlich nicht ohne heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen, sowohl zwischen Kapital und Arbeit als auch im politischen Raum erreichbar sein. Es war aber in kapitalistischen Systemen schon immer ein Kampf um die Aufteilung der arbeitsteilig geschaffenen Wertschöpfungen bzw. Produktivitäten. Die Gewerkschaften und ihre Beschäftigten in den Unternehmen allein werden es jedoch nicht mehr schaffen, die Weiche in Richtung kollektiver Arbeitszeitverkürzung zu stellen. Arbeitszeitverkürzung muß dringend ein gesamtgesellschaftliches Projekt werden, das auch die politischen Parteien auf ihre Fahnen schreiben müssen, ebenso die Kirchen und Sozialversicherungsträger, die Erwerbsloseninitiativen und die Umweltschutzverbände. Sonst wird es nichts mit einer schon lange überfälligen Arbeitszeitverkürzung.
Heinz-J. Bontrup/Lars Niggemeyer/Jörg Melz, Arbeitfairteilen, VSA-Verlag, Hamburg 2007, 88 Seiten, 6,50 Euro, Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarrat mit einem Vorwort von Eckart Spoo, Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, Sonderdruck, in: Ossietzky, Mai 2011, 20 Seiten, 2 Euro
Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup, Wirtschaftswissenschaftler an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Vor seiner Berufung zum Professor war er Arbeitsdirektor (Personalvorstand) in der Stahlindustrie
GREGOR GYSI: 90 Prozent unserer Zeit darauf verwenden, Politik zu machen
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