Sofortprogramm gegen Substanzverluste der öffentlichen Infrastruktur

Von Rudolf Hickel

06.09.2014 / September 2014

Jahrzehnte profitierte Deutschland von dem ordnungspolitischen Credo: Eine international erfolgreiche und national funktionsfähige Wettbewerbswirtschaft ist auf eine bedarfsgerechte, qualitativ wertvolle öffentliche Infrastruktur angewiesen. Bereits Adam Smith hat in seinem Werk „Wealth of Nations“ 1776 im 5. Buch am Beispiel „der Erleichterung des gesellschaftlichen Verkehrs“ gezeigt, warum mangels einzelwirtschaftlicher Rentabilität einerseits die Märkte diese infrastrukturelle Vorleistung nicht bereit stellen können, jedoch andererseits auf dieses öffentliche Gut angewiesen sind.

Die öffentliche Infrastruktur in Deutschland, die als erfolgreiche Standortvoraussetzung weltweit gepriesen wird, verliert schon seit Jahren an Substanz. Die vielen einzelnen Schreckensmeldungen allein aus dem Bereich öffentlicher Mobilitätssicherung belegen das: Einzelne Autobahn- und Eisenbahnbrücken, Straßenteile, Hafen- und Kanalanlagen sowie Teile des öffentlichen Personennah- und Fernverkehrs sind marode. Heute schon erzeugen diese Mobilitätsstörungen etwa durch Staus, erhöhte Unfallgefahr und erzwungene Liegezeiten bedrohlich wachsende gesamtwirtschaftliche Kosten.

Substanzverlust beim Infrastrukturkapital

Empirische Untersuchungen belegen eindeutig den Rückgang der für die öffentliche Infrastruktur eingesetzten gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung.

Der Anteil öffentlicher Investitionen am Bruttoinlandsprodukt, der noch 1970 bei 4,7 Prozent lag, ist ab 2000 von 1,9 Prozent auf den Tiefstand in den Jahren 2006 und 2007 mit jeweils 1,5 Prozent zurückgefallen. 2012 gibt es eine leichte Korrektur nach oben. Würde die im Durchschnitt höhere öffentliche Investitionsquote in ökonomisch wichtigen Ländern der EU realisiert, müssten in Deutschland dafür 20 Milliarden Euro mehr ausgegeben werden. In den kommenden Jahren wird trotz der Vorgabe der Großen Koalition, fünf Jahre jeweils fünf Milliarden Euro für den Ausbau und Erhalt der Verkehrswege extra zu finanzieren, der Anteil kaum über 1,6 Prozent hinausgehen. Betroffen vom längerfristigen Fall der Infrastrukturquote sind vor allem die Städte und Gemeinden, die für 60 Prozent der Infrastrukturausgaben verantwortlich zeichnen. Die Dramatik unterfinanzierter öffentlicher Investitionen zeigt sich mit der Unterscheidung zwischen Brutto- und Nettoinvestitionen, zwischen die sich die Abschreibungen schieben. Die staatlichen Bruttoinvestitionen reichen in Deutschland seit 2013 nicht mehr aus, wenigstens die Abschreibungen, also den Wertverzehr des öffentlichen Kapitalstocks, auszugleichen. Sinkende Neuinvestitionen sind die Folge. Der schleichende Substanzverlust des öffentlichen Kapitalstocks trifft allein die Kommunen. Seit elf Jahren ist bei den Städten und Gemeinden ein Investitionsstau von 43 Milliarden Euro herangewachsen. Dieses Reinvestitionsdefizit muss abgebaut werden. Dazu kommen zusätzliche Neuinvestitionen etwa im Verkehrssystem wegen wachsenden Transportaufkommens, zur Umsetzung der energiepolitischen Wende sowie zum Ausbau der Breitbandtechnologien.

Diese infrastrukturellen Defizite bedrohen auf Dauer die Zukunft des Standorts Deutschland. Während Unternehmen Produktionsaufgaben im Bereich der öffentlichen Infrastruktur entzogen werden, kommt es durch massive Mobilitiätseinschränkungen zu gesamtwirtschaftlichen Kostensteigerungen. Bei den privaten Haushalten verschlechtern sich die Arbeits- und Lebensbedingungen. Dabei konzentriert sich der öffentliche Substanzverlust vorrangig auf die zum Großteil überforderten Städte und Gemeinden.

Schrumpfstaat gefährdet Zukunftsvorsorge

Die jüngste Debatte über die wichtigsten Ursachen für diese Standortbelastungen zeigt, was zu tun ist:

  • Ausgewirkt hat sich die unselige neoliberale Doktrin des schrumpfenden Staa-tes auch im investiven Bereich. Privatwirtschaftliche Wertschöpfung sei der staatlich veranlassten Produktion von öffentlichen Gütern vorzuziehen. Die Folgekosten zeigen, der Staat muss wieder konzeptionell und fiskalisch hand-lungsfähig gemacht werden.
  • Einfluss hatten auch die den schrumpfenden Staat begleitenden Steuersenkungen vor allem durch die Schröder-Fischer-Regierung Gemessen an den unveränderten Steuergesetzen von 1998 fehlen heute dem Staat insgesamt 45 Milliarden Euro. Dabei sind die Steuerentlastungen kaum zur Finanzierung zusätzlicher Unternehmensinvestitionen eingesetzt worden.
  • Entscheidend für den sich beschleunigen Substanzverlust des staatlichen Infrastrukturkapitals ist der finanzpolitische Epochenwechsel zur Schuldenbremse. Sie treibt die restriktive Ausgabenpolitik bei Infrastrukturinvestitionen vor allem von Bund und Ländern an, die den Druck an ihre Gemeinden weitergeben. Abgeschafft wurde die „goldene Regel“ (Art. 115 GG), die die Finanzierung mit öffentlicher Kreditaufnahme zulässt, jedoch neben Maßnahmen zur Stabilisierung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auf den Umfang der öffentlichen Investitionen beschränkt. Sicherlich war es richtig, vor allem den konsumtiven Schuldenstaat zu bremsen. Aber der Preis für den Rückgang der öffentlichen Investitionen ist viel zu hoch. Künftigen Generationen wird eine marode Infrastruktur vererbt.

Sofort-Infrastrukturfonds zumindest zur Sicherung der Ersatzinvestitionen

Da eine verfassungsrechtliche Öffnung der Schuldenbremse umstritten und zügig nicht durchsetzbar ist, müssen unverzüglich dennoch zulässige Finanzierungsmodelle gegen den infrastrukturellen Aderlass realisiert werden. Vorgeschlagen wird ein Infrastrukturfonds, der sich zu allererst auf die Finanzierung der notwendigen Investitionen zum Substanzerhalt der Infrastruktur konzentriert. Vergleichbar dem Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP) zur „wachstums- und umweltpolitischen Vorsorge“ von 1978 wird der Fonds vom Bund gemanagt. Vor allem die Kommunen haben das Recht, direkt Projektanträge zu stellen. Bei der Genehmigung wird auf eine überregionale Abstimmung Wert gelegt. Auf der Basis der vielen Studien zur Schätzung des öffentlichen Investitionsrückstands liegt das minimale Volumen für den zusätzlichen Finanzierungsbedarf vor allem für dringliche Ersatzinvestitionen bei jährlich zehn Milliarden Euro über 15 Jahre. Allein für die Verkehrsinfrastruktur sieht die Bodewig-Kommission einen jährlichen zusätzlichen Bedarf von 7,2 Milliarden Euro über 15 Jahre ab 2013 vor.

Die Vorteile dieses Bundes-Infrastrukturfonds mit dem Schwerpunkt auf die Kommunen sind:

  • Das Programm schafft der Produktionswirtschaft ökonomisch und gesellschaftlich sinnvolle effektive Nachfrage zur Stärkung des qualitativen Wirtschaftswachstums.
  • Durch den Produktionszuwachs werden zusätzliche Steuerzahlungen generiert.Vor allem im Bereich der Infrastrukturinvestitionen in das kommunale Verkehrssystem lässt sich der derzeitige regionale Egoismus durch übergreifende Lösungen nutzen.
  • Für den Fonds gelten: Durch den erforderlichen Personalabbau, die effektive Planungs- und Kostenkontrolle, die richtige Prioritätensetzung sind künftig Mega-Fehlinvestitionen zu vermeiden (Elb-Philharmonie, Berliner Großflughafen, Hochmoselbrücke) und Kostenexplosionen zu vermeiden.

Dieser Infrastrukturfonds beim Bund erhält die Möglichkeit, streng kontrolliert gezielt öffentliche Kredite am Kapitalmarkt aufzunehmen. Aus der zu erwartenden gesamtwirtschaftlichen Rendite lässt sich, durchaus den Unternehmen der Privatwirtschaft vergleichbar, der Kapitaldienst finanzieren. Die realökonomische Substanz des Fonds bildet das gesamtwirtschaftlich rentable öffentliche Infrastrukturkapital. Der Fonds sichert auch die Zukunftsfähigkeit. Kommenden Generationen werden bessere Produktions- und Lebensverhältnisse vererbt. Mit der öffentlichen Finanzierung öffentlichen Güter wird die Debatte über spezielle Gebührenmodelle wie die MAUT für die Aus- oder auch Inländer überflüssig.

Derzeit wird überprüft, inwieweit im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) der Einsatz von überschüssigem Kapital etwa der Versicherungsunternehmen zur Finanzierung öffentlicher Infrastrukturprojekte genutzt werden kann. Die fiskalischen Erfahrungen mit ÖPP-Projekten sind negativ. Vor allem sind die Kosten vergleichsweise deutlich höher. Der durch den Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel einberufene „Beirat“, dem auch jeweils ein Vertreter der Banken und Versicherung angehört, sollte die vielen offenen Fragen objektiv klären. Am Ende liegt jedoch die Gesamtverantwortung für die Projekte beim politisch-demokratischen System, nicht bei einer bestimmten Klientel. Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts (2013) kritisiert die große Mehrheit der Bevölkerung diesen öffentlichen Investitionsstau. Politische Entscheidungen für Infrastrukturinvestitionen sind durch eine hohe Präferenz der Bürgerinnen und Bürger gerechtfertigt.