Die "höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten" unter die Lupe genommen

Von Patrick Schreiner

13.05.2013 / annotazioni.de, 18.02.2013, 13.05.2013

Die Grünen mussten jüngst mächtig Kritik dafür einstecken, dass sie auf ihrem Parteitag Beschlüsse zur stärkeren steuerlichen Belastung hoher Einkommen und Vermögen gefasst hatten. Während SPD und Linke gleichfalls solche Steuererhöhungen fordern, sind insbesondere konservative Medien gemeinsam mit CDU/CSU und FDP über die Grünen hergefallen. Ein dabei immer wiederkehrendes Argument ist, dass an Steuererhöhungen kein Bedarf bestehe, da Deutschland heute schon über die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten verfüge. Anlass genug, diese Behauptung zu prüfen. – Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.

Wie jedes Jahr, hat der „Arbeitskreis Steuerschätzung“, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes- und der Länderfinanzministerien, Anfang Mai seine aktualisierte Steuerschätzung vorgelegt. In Anlehnung an einen früheren Artikel überprüfe ich im Folgenden erneut die These, dass Deutschland die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten hätte. Ich tue dies anhand der aktualisierten Daten der eben genannten Steuerschätzung.

Zuvor eine kurze einleitende Bemerkung. Die vergangenen Jahre und Jahrzehnte waren – keineswegs nur, aber eben auch in Deutschland – von einem Trend zu Steuersenkungen zu Gunsten von hohen Einkommen, Vermögen und von Unternehmensgewinnen geprägt. Dies hat zum einen dazu beigetragen, die Verteilung von Wohlstand in Deutschland immer ungleicher werden zu lassen. Zum anderen hat es zu einer deutlichen Schwächung der öffentlichen Haushalte geführt:

Abbildung 1 gibt für die Jahre 2000 bis 2011 die Steuerausfälle wieder, die durch alle Änderungen im Steuerrecht seit 1998 zu verzeichnen waren. Die Zahlen zeigen: Gälte heute noch das Steuerrecht von 1998, so könnten die öffentlichen Haushalte pro Jahr zwischen 20 Mrd. Euro (2007/2008) und 53 Mrd. Euro (2011) mehr an Steuereinnahmen erzielen. Insgesamt betrugen die Steuerausfälle im genannten Zeitraum knapp 389 Mrd. Euro. Zahlenmäßig am stärksten getroffen waren dabei die Länder mit etwa 191 Mrd. Euro, danach der Bund mit etwa 156 Mrd. Euro; aber auch für die angespannte Finanzlage der Kommunen sind die steuerreformbedingten Mindereinnahmen in Höhe von etwa 42 Mrd. Euro eine der wichtigsten Ursachen.

Dennoch wehren sich vor allem FDP, CDU/CSU, ihnen nahestehende Verbände sowie konservative Medien dagegen, die öffentliche Einnahmesituation durch höhere Steuern zu verbessern. Ihr Argument: Noch nie seien die Steuereinnahmen so hoch gewesen wie heute, folglich hätten die öffentlichen Haushalte kein Einnahmeproblem. Sie hätten vielmehr ein Ausgabeproblem, dem durch Ausgabekürzungen begegnet werden müsse. Zu diesem angeblichen “Ausgabeproblem” soll hier der Hinweis genügen, dass bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise kein Industrieland mit Ausnahme Japans so niedrige öffentliche Ausgabensteigerungen hatte wie Deutschland. Inflationsbereinigt sanken die Ausgaben im Zeitraum 1998 bis 2008 hierzulande durchschnittlich sogar um 0,2 Prozent pro Jahr.

Was aber steckt hinter der Behauptung, Deutschland habe noch nie so hohe Einnahmen gehabt wie heute?

Betrachtet man die Steuereinnahmen in absoluten Zahlen und nicht inflationsbereinigt (also nominal), so stimmt diese Behauptung durchaus. Mit 600 Mrd. Euro lagen sie 2012 über dem bisherigen Höchstwert von 562 Mrd. Euro aus dem Jahr 2008, 2013 sollen sie sogar 615 Mrd. Euro erreichen (Abbildung 2). Diese Zahlen sind allerdings alles andere als aussagekräftig, schließlich sind sie nicht inflationsbereinigt. Ein Euro im Jahr 2012 ist aufgrund der Geldentwertung nun einmal deutlich weniger wert, als es ein Euro im Jahr 2008 war.

Die folgende Abbildung 2 stellt neben der Entwicklung der nominalen, also nicht inflationsbereinigten Steuereinnahmen (blaue Kurve) aussagekräftigere Daten dar. Sie bereinigt die Steuereinnahmen zum einen um die Preissteigerung und bezieht sie zum anderen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP):

Abbildung 2: Steuereinnahmen Deutschlands 1991-2012 nominal, real (inflationsbereinigt, Deflator: Verbraucherpreisindex, Basisjahr 1991, für 2013 vorsichtige Schätzung), relativ zum Bruttoinlandsprodukt sowie als Fortführung des Trends der „Spitzenjahre“ der Jahre 1992-2000. Quelle: Statistisches Bundesamt, für 2013 Prognose der amtlichen Steuerschätzung, eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 2 macht Folgendes deutlich:

  • Bereinigt um die Preissteigerung (Basisjahr: 1991) lagen die Steuereinnahmen 2011 keineswegs auf einem Höchstwert, sondern (mit 393 Mrd. Euro) noch immer deutlich unter den Werten vor der Finanzkrise (2008: 400 Mrd. Euro) (dunkelgrüne Kurve). 2011 lagen sie zudem nur wenig über den Werten, die schon Anfang der 2000er Jahre erreicht wurden (2000: 384 Mrd. Euro). 2012 lagen sie mit 403 Mrd. Euro nur leicht oberhalb des bisherigen Höchstwertes aus dem Jahr 2008. Dies wird gemäß der aktuellen Steuerschätzung 2013 kaum anders sein, die inflationsbereinigten Steuereinnahmen werden mit 406 Mrd. Euro erneut nur minimal – nämlich 1,5 Prozent – über den Werten des Jahres 2008 liegen. An der dunkelgrünen Kurve gut erkennbar sind übrigens die massiven Steuersenkungen der damaligen rot-grünen Bundesregierung, die sich vor allem in den Jahren 2001 bis 2006 besonders deutlich niederschlugen.
  • Auch relativ zum Bruttoinlandsprodukt fallen die Steuereinnahmen des Jahres 2011 mit nur 22,1 Prozent deutlich hinter die Werte früherer Jahre zurück (hellrote Balken). Mitte der 1990er Jahre betrugen sie noch bis zu 22,8 Prozent, im Jahr 2000 sogar 22,9 Prozent, und selbst 2007 – vor der Finanzkrise – betrugen sie trotz zurückliegender massiver Steuersenkungen noch 22,7 Prozent des BIP. Diese 22,7 Prozent wurden auch 2012 gemäß der Daten der aktuellen Steuerschätzung nicht wieder erreicht, im vergangenen Jahr betrug dieser Wert nur 22,6 Prozent. Für 2013 wird ein weiterer Rückgang auf 22,5 Prozent prognostiziert.
  • Die hellgrüne Kurve in Abbildung 1 schließlich schreibt den Trend der Spitzenwerte der inflationsbereinigten Steuereinnahmen der 1990er Jahre bis ins Jahr 2012 fort. Sie gibt also an, wie hoch die Steuereinnahmen in konjunkturellen “Spitzenjahren” gewesen wären, wenn sie im gleichen Maße weitergewachsen wären, wie sie auch in den 1990er Jahren gewachsen sind. Auch hier zeigt sich, dass die heutigen realen Steuereinnahmen deutlich hinter den Werten zurückbleiben, die ohne Steuersenkungen hätten erreicht werden können: In den konjunkturell guten bis sehr guten Jahren 2011, 2012 und 2013 bleiben bzw. blieben die inflationsbereinigten Steuereinnahmen hinter dem Niveau vergleichbar guter Jahre der 1990er zurück.

Ich will aus gegebenem Anlass darauf verweisen, dass die hellgrüne Kurve aus Abbildung 2 mit voller Absicht keine echte Regressionsgerade ist. Aus methodischen Gründen halte ich es für sinnvoller, konjunkturelle “Spitzenjahre” miteinander zu vergleichen. Daher schreibt diese Kurve lediglich den Trend solcher “Spitzenjahre” der 1990er fort und soll auch lediglich zum Vergleich von “Spitzenjahren” anregen. Der Vollständigkeit halber sei allerdings mit der folgenden Abbildung 3 eine echte Regressionsgerade dargestellt, die den Trend der 1990er Jahre fortschreibt:

Es zeigt sich, dass der Trend der 1990er Jahre (rote Kurve) von den realen Steuereinnahmen (blaue Kurve) nur 2007 und 2008 und auch nur leicht übertroffen wurde. Selbst in den konjunkturell guten Jahren 2011, 2012 und 2013 bleiben die realen Steuereinnahmen hingegen hinter diesem Trend zurück. Hier schlagen sich die zurückliegenden Steuersenkungen unmittelbar nieder. Diese zeigen sich ferner auch daran, dass die Differenz zwischen Trend und realen Steuereinnahmen seit 2001 fast durchgehend negativ ist, in einigen Jahren sogar sehr deutlich negativ (grüne Balken). Dahinter stehen viele Milliarden Euro, die den öffentlichen Haushalten Jahr für Jahr fehlen.

Von “höheren Steuereinnahmen als jemals zuvor” kann angesichts dieser Entwicklungen ganz offensichtlich nur äußerst eingeschränkt die Rede sein.

Abschließend sei noch auf einen weiteren Umstand verwiesen: Es gibt gute wirtschaftspolitische Gründe dafür, Steuerpolitik antizyklisch zu gestalten. Gemeint ist damit, dass eine Regierung in wirtschaftlichen Schwächephasen die Steuern eher senken sollte, um die Konjunktur wieder anzukurbeln, während sie in wirtschaftlich guten Zeiten das Gegenteil machen sollte. Die schwarz-rote Bundesregierung beispielsweise hat daher im Rahmen ihrer Konjunkturpakete während der Krise 2008/2009 eben auch Steuersenkungen vorgenommen. Eine konjunkturgerechte Steuerpolitik bedeutet aber nun umgekehrt auch, in wirtschaftlich guten Zeiten die Steuern auf hohe Einkommen, hohe Unternehmensgewinne sowie große Vermögen wieder anzuheben. Dies ist gerade in solchen Zeiten wirtschaftlich verkraftbar, und es ist zur adäquaten Finanzierung der durch die Krise aufgelaufenen Staatsverschuldung sowie wichtiger öffentlicher Aufgaben auch mehr als notwendig. Dies gilt umso mehr, als sich Deutschland in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld befindet und die aktuell vergleichsweise gute Konjunktur rasch wieder der Vergangenheit angehören könnte.

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