Fünf Argumente für ein "Alter Summit"

Von Elisabeth Gauthier, aus dem neuen "Sozialismus" (Heft Nr. 12 – Dezember 2012)

06.12.2012 / sozialismus.de, vom 29.11.2012

Vieles wurde zu den Europa betreffenden Herausforderungen äußerst zutreffend in drei Artikel der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift (Sozialismus 11-2012) aufgezeigt. Thomas Händel und Frank Puskarev sprechen von einem »missing link« in der bisherigen Debatte, nämlich der notwendigen realwirtschaftlichen Basis für ein »zukunftsfähiges, demokratisch gesteuertes Europa«.

Tatsächlich beschränkt sich die Debatte auch von linker Seite oft auf die Sphäre der Zirkulation (Finanzen, Waren, Kapital ...) und blendet Wesentliches aus: die Krise der Arbeit, die reale Ökonomie oder allgemeiner das Verhältnis von Arbeit und Kapital. In der Fortsetzung der Diskussion über »Euro­pa: neu denken« möchte ich auf einen weiteren »missing link« verweisen: die Frage einer Veränderungs-Strategie. Lange Zeit ging es in Diskussionen bei europäischen Konferenzen, Sozialforen etc. einerseits um die Analyse der (europäischen) Verhältnisse, andererseits um die Erarbeitung von alternativen Vorschlägen und Programmen. Auffällig ist, dass in den letzten Monaten im Kontext der dramatischen Krisenzuspitzungen immer stärker die Frage einer konkreten Strategie zur Veränderung in das Zentrum der Diskussion rückt. Außerdem wird diese Problemstellung zunehmend nicht nur als nationale, sondern auch als eine europäische Herausforderung begriffen.[1] Nichtsdestoweniger ist es einigermaßen kompliziert, solche Fragen in Europa gemeinsam zu diskutieren, wenn einerseits die Realitäten zwischen Süden, Osten und Norden weit auseinanderklaffen und andererseits der Bewusstseins- und Diskussionsstand politisch/historisch ganz unterschiedlich ausgeprägt ist. Aber die Verallgemeinerung von Austeritätspolitik – in manchen Ländern muss bereits von sozialer Verwüstung und humanitärer Katastrophe gesprochen werden – und von autoritären Governance-Formen verstärken die »Gemeinsamkeiten«.

Für linke Akteure stellt sich die Frage der Formulierung einer komplexen, differenzierten und zugleich globalen Strategie in Europa.[2] Eurozone und EU sind ein multipolares Machtgefüge, das die Vorstellung einer gleichzeitigen und gleich orientierten gemeinsamen Aktion in ganz Europa in der derzeitigen Phase nicht zulässt. Die Komplexität der Machtstrukturen und das strukturelle demokratische Defizit erschweren die Erkennbarkeit der Verantwortlichen und der Möglichkeit einer effizienten politischen Intervention. Widersprüchliche Interessen zwischen einzelnen Ländern bzw. Regionen vergrößern die Schwierigkeiten für die Kräfte der sozialen und politischen Linken, eine europäische Veränderungsstrategie zu definieren. Gleichzeitig wird aber überall und von all den Machtzentren im Wesentlichen – mit mehr oder weniger Entschlossenheit und Brutalität – die gleiche Logik durchgesetzt. Eine erste Herausforderung besteht deshalb darin, überall sichtbar und verständlich zu machen, dass die wahre Natur der Konfrontation in Europa nicht ein territorial bestimmter Konflikt zwischen Nationen bzw. Regionen ist, sondern eine intensive Klassenkonfrontation.

Nach mehr als 30 Jahren neoliberaler Offensive und im Kontext einer akuten systemischen Krise versuchen die herrschenden Kräfte einerseits ein für sie möglichst günstiges »Krisenmanagement« zu installieren und gleichzeitig die von allen sichtbare Krise als historische Chance für einen beschleunigten Abbau der sozialen und demokratischen Errungenschaften zu nutzen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage des Euro und der EU heftig diskutiert. In Frankreich waren wir bereits 2005 beim Referendum zum EU-Verfassungsvertrag zu der Präzision gezwungen, dass unsere Verweigerung des Vertrages ein linkes Nein und gleichzeitig ein Ja für ein anderes Europa beinhalte, ein Nein zu dieser Logik und ein Ja für eine Alternative. In vielen Ländern stehen die fortschrittlichen Kräfte heute vor der Herausforderung, unter erschwerten Krisenbedingungen eine solche Position herauszuarbeiten. Die europaweite Ausdehnung der Kampagne »UmFairTeilen« könnte meines Erachtens dazu beitragen, in allen Ländern gleichzeitig und auch auf europäischer Ebene die Klassenkonfrontation sichtbar zu machen und gleichzeitig nationalistische Interpretationen der europäischen Krise zu bekämpfen. Damit könnte zugleich deutlich herausgestellt werden, wo und welche Mittel einerseits für unmittelbare Dringlichkeitsmaßnahmen und andererseits nachhaltige Entwicklungsprojekte aufgebracht werden müssten.

Eine zweite Achse gemeinsamen Handelns in Europa könnte folgendermaßen definiert werden: Gegenüber dem multipolaren Machtgefüge muss es darum gehen, möglichst viele verfügbare Hebel und so weit wie möglich gleichzeitig so zu bewegen, dass sie zu Faktoren des Widerstandes, des Ungehorsams gegen die »austeritäre« Logik werden, und somit die politischen Kräfteverhältnisse verändern. Zur Präzision ein Beispiel: Hätte im Juni 2012 Syriza die griechischen Wahlen gewonnen, und wäre zugleich in Frankreich der Front de Gauche im Parlament stärker präsent und damit die Regierung von seiner Zustimmung zu wesentlichen Gesetzen abhängig geworden und zudem im September 2012 die niederländische Linkspartei SP bei den Wahlen erste Kraft geworden ..., dann wäre eine neue Situation für Europa entstanden.

Ein zweites Beispiel: Mit dem 14. November 2012 als einem koordinierten »Aktions- und Solidaritätstag« wurde etwas Neues geschaffen. Die Entschlossenheit der sozialen und gewerkschaftlichen Bewegung in Spanien und Portugal, ebenso in Griechenland und unterstützt von Bewegungen in anderen Ländern wie z.B. in Frankreich,[3] einen gemeinsamen Generalstreik auszurufen, macht deutlich, dass die soziale Dramatik und die sich immer deutlicher als schädlich herausstellende Austeritäts­politk, mit der Folge der Unterminierung der Positionen der Gewerkschaften (siehe Fiskalpakt) in ganz Europa den sich entwickelnden Bewegungen neue Impulse verleiht und so auch im EGB und damit in der EU neue Realitäten schaffen.

Als dritte Herausforderung kann die Bildung neuer Bündnisse in den einzelnen Ländern und in Europa betrachtet werden. Die Instabilität der europäischen Situation und die sozialen Verwüstungen machen eine von kleineren und größeren Erdbeben gezeichnete Perspektive nicht unwahrscheinlich. Angesichts der ungünstigen Entwicklungen der politischen Landschaft wird die Bildung breiter Fronten gegen Austerität, soziale Zerstörungen und autoritäre Governance-Lösungen zu einer dringenden Frage. Während sich die Rechte in vielen Ländern noch weiter nach rechts entwickelt und Barrieren zur gestärkten extremen Rechten eingerissen werden, hält die Krise der europäischen Sozialdemokratie an. Auch wenn bei der Abwahl rechter Regierungen in manchen Ländern die Sozialdemokratie wieder an die Macht kommt, bringt sie keineswegs eine neue Dynamik bzw. einen Hegemoniewechsel mit sich und trägt schließlich die herrschende Logik mit.

Die Delegitimierung der politischen Systeme und Institutionen schreitet weiter fort, insbesondere innerhalb der sich als verlassen betrachtenden subalternen Klassen. In einer geschichtlichen Periode, in der viele dunkle Wolken aufziehen, kann die Arbeitsteilung zwischen diversen fortschrittlichen Kräften in unseren Gesellschaften nicht einfach traditionell perpetuiert werden. In vielen Ländern wird um die Herausbildung neuer Koalitionen gerungen und experimentiert. Syriza in Griechenland ist ein komplexes Bündnis politischer und sich politisierender sozialer Kräfte. In Portugal wurde im Oktober ein Bürgerkongress zur Ausarbeitung einer alternativen Regierungspolitik unter Beteiligung zahlreicher Organisationen der Zivilgesellschaft gemeinsam mit politischen Kräften wie dem Linksblock abgehalten. In Spanien haben im Anschluss an die Dynamik der M15-Bewegung und in Anbetracht der sozialen Aggressionen die Gewerkschaften einen »Sozialgipfel« mit zivilgesellschaftlichen Organisationen einberufen, dessen Ergebnis u.a. der Aufruf zum Generalstreik am 14. November gemeinsam mit portugiesischen Gewerkschaften war. In Frankreich hat eine breite Koalition unter aktiver Teilnahme des Front de Gauche die Demonstration gegen die Ratifizierung des Fiskalpaktes am 30. September organisiert und versucht, dezentralisiert kollektive Bündnisse gegen Austeritätspolitik in Bewegung zu bringen. In Deutschland signalisieren Bündniskonstellationen wie UmFairteilen, Blockupy und der Appell »Europa neu begründen« sowie die Diskussion um das politische Gewerkschaftsmandat das Gewicht dieser Fragen. Die Gründung eines europaweiten Netzwerkes der diversen Netzwerke kritischer Ökonomen beim europäischen Forum in Florenz Anfang November zeigt, dass auch in Kreisen kritischer Intellektueller die Aktionsbereitschaft zunimmt.

Als vierter Punkt soll herausgestrichen werden, dass linke Akteure einen neuen zielgerichteten Willen zur Veränderung sichtbar machen müssen, wenn sie in der heutigen Konfrontation glaubwürdig auftreten und einigermaßen effizient mobilisieren wollen. Auf Gewerkschaftsseite bildete die Initiative zu einem transnationalen Generalstreik und dem damit artikulierten Ziel für weitere europäische Aktionstage aus dem 14. November heraus einen Wendepunkt. Gleichzeitig bedeutet der Wille, zu gesellschaftlichen Veränderungen zu kommen, dass auch die Frage der Macht auf die Tagesordnung gesetzt und diskutiert werden muss, um die Auseinandersetzungen zu politisieren. So rief Alexis Tsipras bei den griechischen Wahlen am 17. Juni 2012 dazu auf, die Stimmen für Syriza nicht als Ausdruck von Protest, sondern für eine alternative Regierungspolitik abzugeben. Und Jean-Luc Mélenchon sagte deutlich, dass es der Front de Gauche darum gehe, eine alternative Logik so bald wie möglich auf Regierungsebene zu konkretisieren.

Noch immer befinden wir uns in einem Spannungsfeld zwischen Zorn und Ohnmacht, Kritik der herrschenden Verhältnisse und dem Gewicht der neo­liberal geprägten Verzichts-Pädagogik, zwischen dem Wunsch nach Veränderung auf der einen Seite und Angst auf der anderen. Insofern müssen alle politischen Aktionen darauf ausgerichtet sein, neue Interpretationsmacht zu schaffen, einigende politische Inhalte zu produzieren, Bündnisse zu bilden bzw. zu stärken und Veränderungsstrategien glaubwürdig zu machen. Die Kooperation zwischen unterschiedlichen sozialen und politischen Akteuren ist auch im Falle zunehmender Übereinstimmungen bei der Formulierung von Analysen und Alternativen aus durchaus verständlichen Gründen keineswegs einfach in Gang zu bringen. Aber angesichts der dramatischen Situation sollte der Zeitpunkt gekommen sein, neue Formen der Zusammenarbeit – selbstverständlich unter vollem Respekt der Autonomie aller Beteiligten – in Euro­pa zu erfinden, wobei die in Deutschland entwickelte Vorstellung einer »Mosaiklinken« eine interessante Anregung darstellen kann.

Schließlich geht es fünftens um das Herausarbeiten konkreter Schritte, mit denen die Kräfteverhältnisse verändert werden können. In den Auseinandersetzungen der letzten Jahre haben sich verstärkt gemeinsame Ansatzpunkte entwickelt, einige Forderungen wurden gleichzeitig in vielen Bewegungen und Plattformen zu Schlüsselthemen. Die Europäischen Sozialforen haben die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure sowie das Entstehen neuer europäischer Netzwerke und Subjekte befördert. Aber die sie ebenfalls kennzeichnende relative Unverbindlichkeit entspricht nicht mehr den heute anstehenden Anforderungen, mit denen die Auseinandersetzung in Europa aktiv geführt werden müssten, um die Gemeinsamkeiten auch in gemeinsamen politischen Aktionen und Forderungen zu konkretisieren.

Weil die Idee eines »Alter Summit« diesen Herausforderungen in der derzeitigen Phase eher entspricht, hat die­se Idee rasch viele Anhänger gefunden. Auf der Homepage www.altersummit.eu sind ein erster Aufruf in mehreren Sprachen und die Liste der beteiligten Organisationen sowie aktuelle Infos zugänglich. Eine europäische Koordination, in der Gewerkschaften, europäische Netzwerke wie Attac, transform!, EuroMemo sowie die Vertreter von Gruppen in einzelnen Ländern bereits zusammenarbeiten, wurde konstituiert. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) unterstützt diesen Prozess und nimmt an der Vorbereitung teil. Die Akteure des »Alter Summit« wünschen einen offenen Dialog mit politischen Organisationen und Persönlichkeiten, die die bisherigen Vorstellungen teilen und das Projekt aktiv unterstützen. In diesem Sinne engagieren sich die Europäische Linkspartei, die Parlamentsfraktion GUE/NGL, die französischen Grünen sowie einzelne Mitglieder aus sozialdemokratischen und grünen Parteien. In Florenz fand am 10. November 2012 mit 800 Teilnehmern ein breites Vorbereitungstreffen statt, auf dem ein »Alter Summit« für den 7. bis 9. Juni 2013 in Athen angekündigt wurde. Es geht dabei weder um einen »Gegengipfel«, noch um die bloße Erstellung eines Katalogs von Forderungen, sondern um ein Event, das möglichst massiv, inhaltsreich, verständlich den Willen einer möglichst großen Zahl von Akteuren zum Ausdruck bringen soll, in Europa rasch einen neuen Kurs durchzusetzen und daran zu arbeiten, »Euro­pa neu zu begründen«. Dafür sollen im Vorfeld einige besonders symbolische Forderungen gemeinsam erarbeitet und als unmittelbare Antwort auf die sozialen Verwüstungen und den Demokratieabbau ins Zentrum gestellt werden – ergänzt und unterfüttert mit wesentlichen Eckpunkten für eine Neubegründung Europas.

Elisabeth Gauthier ist Direktorin von Espaces Marx und Mitglied des Vorstandes von transform! Europe sowie des Nationalkomitees der Französischen Kommunistischen Partei.

[1] Siehe hierzu ausführlicher Elisabeth Gauthier, Europe: Exstential Danger – New Political Challenges. In: transform! (englisch edition, 11/2012, S. 109ff.)
[2] In seinem Artikel »Die Europäische Union und das Dilemma der radikalen Linken« in »transform!« (deutsche Ausgabe 09/2012, S. 8ff.) zeigt Gerassimos Moschonas, dass das transnationale Terrain einerseits Spaltungen befördert, aber anderseits für die radikale Linke neue Potenziale öffnet.
[3] Nach der Demonstration gegen die Ratifizierung des Fiskalpakts am 30. September 2012 organisierte die CGT am 9. Oktober einen erfolgreichen Aktionstag (100.000 Demonstranten) zur Verteidigung von Industrie und Arbeitsplätzen.

Eine Übersicht der weiteren Artikel im neuen Heft "Sozialismus" (Nr. 12 – Dezember 2012) finden Sie auf www.sozialismus.de