Die besseren Kapitalisten - China Das Wirtschaftsmodell der Volksrepublik hat mit gigantischen Wachstumszahlen beeindruckt. Wann stößt die Staatswirtschaft an ihre Grenzen?

Von Felix Lee

25.10.2012 / aus: der Freitag, 25.10.2012

Hoch oben auf dem 72. Stock kreist ein Kran und fährt mit dem Lastzug schweres Werkzeug nach unten. Noch ist das rund 350 Meter hohe Bauwerk in Changsha, einer Zehn-Millionen-Stadt im südlichen Zentralchina, nicht fertig. Dennoch wird bereits das Gerät abtransportiert. Dem Bauherrn ist das Geld ausgegangen. „Es wird wohl erst in ein paar Monaten weitergehen“, vermutet ein Bauarbeiter, der nun vorerst ohne Arbeit da steht. Bis dahin ragt ein Gerippe in die unvollendete Skyline der Stadt.

Auch China kann sich der schweren Krise in Europa nicht entziehen. Die Exporte sind in den Sommermonaten dramatisch eingebrochen, die ausländischen Direktinvestitionen gingen zurück. Zugleich wollte auch der Binnenmarkt nicht so recht in Schwung kommen. Um nur noch 7,4 Prozent wuchs die chinesische Wirtschaft im dritten Quartal – so schwach wie seit drei Jahren nicht.

Zwar klingen sieben Prozent Wachstum in den Ohren krisengeplagter Europäer immer noch nach sehr viel. Doch tatsächlich scheint das Land mit seinem bisherigen Wachstumsmodell an Grenzen zu stoßen. Vor dem Führungswechsel in der Kommunistischen Partei Anfang November sind deshalb die Erwartungen groß: Will das Land endgültig in den Kreis der Industrienationen aufsteigen, wird die neue Generation der Staatskapitalisten nachsteuern müssen.

Nur etwa die Hälfte der 1,3 Milliarden Menschen sind bislang in den Genuss von Chinas Wirtschaftsaufstieg gekommen. Die Hälfte der Bevölkerung lebt immer noch in Bauerndörfern. Damit auch sie zu Wohlstand kommen, sollen möglichst viele von ihnen in Städte ziehen und besser bezahlte Jobs annehmen. Deshalb müssen Chinas Städte im nächsten Jahrzehnt jährlich weitere sechs Millionen Menschen aufnehmen. Die Wirtschaft muss für sie viele Millionen neue Arbeitsplätze bereitstellen. Das setzt weiter hohe Wachstumsraten voraus.

Keynes-Revival im Osten

Entsprechend war Chinas Führung im Spätsommer alarmiert. Schon nach dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft Ende 2008 hatte sie ein gigantisches Konjunkturprogramm geschnürt – damals noch im Zusammenspiel aller großen Industrieländer. Damals wussten die Regierungen: Globale Krisen erfordern globale Antworten. Aber kein Land setzte ein so großes Programm auf wie China. Mit einem Investitionsvolumen von fast einer halben Billion Dollar handelte es sich um das größte Konjunkturprogramm der Wirtschaftsgeschichte. China erholte sich unmittelbar, andere Länder wie Deutschland konnten dank der Chinesen zügig nachziehen.

Im Grunde setzt die chinesische Führung auf das gleiche Rezept, dass einst John Maynard Keynes empfahl und das viele westliche Regierungen in der Nachkriegszeit auch angewendet haben: ein streng regulierter Finanzsektor, eine hohe Staatsquote zur Steuerung des Marktgeschehens und staatliche Intervention, wann immer die Volkswirtschaft es nötig hat. Doch im Westen sind diese Rezepte seit langem verpönt, auch im vierten Jahr der Finanzkrise setzen die westlichen Industrienationen vor allem auf die angebliche Kraft des Marktes. Die Konkurrenz in Fernost wird unterdessen immer mächtiger.

In diesem Spätsommer setzte die chinesische Führung auf die bewährten Instrumente von 2009. Anfang September bewilligte sie ein zweites Mal Infrastrukturprojekte in Höhe von einer Viertelmilliarde Euro. Doch dieses Mal stand sie alleine da. Die Industrieländer gerade in Europa befinden sich auf Sparmodus. Während die Europäer immer tiefer in die Krise schlittern, sehen Analysten die Talsohle in China bereits durchschritten. Für Oktober zeigen die Indikatoren wieder nach oben. So wenig es gerade Politiker und Ökonomen in den westlichen Industrieländern zugeben möchten: Aber ausgerechnet die kommunistische Führung hat in der Vergangenheit sehr viel mehr ökonomischen Verstand bewiesen als ihre westlichen Kollegen.

Vor allem bei der Schuldenkrise dominiert bei den Europäern die nicht nachvollziehbare Logik: Wenn die Staatsschulden zu hoch sind, muss eben gespart werden. Die Verantwortlichen verkennen jedoch: Wenn niemand investiert, bleibt auch das Wachstum aus. Und ohne Wachstum droht eine Spirale nach unten. Der Schuldenberg wird am Ende noch größer. Die Deutschen, denen es noch vergleichsweise gut geht und die die Sparpolitik der anderen forcieren, haben nichts unternommen, den Abwärtstrend zu stoppen.

Chinas Führung hingegen zögert nicht. Geht es etwa der chinesischen Solarindustrie schlecht, greift sie ihr mit Großaufträgen unter die Arme. Schlüsseltechnologien peppelt sie so lange, bis sie auf den Weltmärkten ganz vorn mitspielen können. Und laufen die Exporte einmal nicht, öffnet sie die Staatskasse, so dass staatliche Investitionen die Ausfälle ausgleichen.

Zugute bei all diesen Maßnahmen kommt dem chinesischen Staat, dass er bis heute weitgehend die Kontrolle über sein Finanzsystem behalten hat. Sämtliche chinesische Banken gehören mehrheitlich ihm. Fahren sie Verluste ein, bürgt er für sie. Wenn sie aber Gewinne erzielen – und das tun die meisten derzeit – fließt das Geld auch an den Staat. Und das unterscheidet Chinas Banken von den Bankenrettungen der vergangenen Jahre im Westen: Verluste werden in China sozialisiert, Gewinne aber auch. Und das dürfte das eigentliche Erfolgsrezept der Volksrepublik sein: Marktwirtschaft lässt sie zu. Aber die Ökonomie bleibt wesentlicher Teil des Staates.

Mit diesem Prinzip sind die Chinesen in den vergangenen 30 Jahren gut gefahren. Eine Wirtschaft mit kontinuierlich fast zweistelligen Wachstumsraten hat es der regierenden Kommunistischen Partei erlaubt, in dem Zeitraum mehr als eine halbe Milliarde Menschen aus der Armut zu holen. 300 Millionen von ihnen können sich inzwischen einen Lebensstil leisten, der dem der Menschen im Westen nahekommt. Allein China wird es zu verdanken sein, dass die Welt die im Jahr 2000 vereinbarten Millenniumsziele zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 erreichen wird.

Nun argumentieren Entwicklungsökonomen, der Aufstieg von einem unterentwickelten Land zu einer Volkswirtschaft mittleren Einkommens ist vergleichsweise einfach: Es bedarf bloß einer stabilen Führung und eines funktionierenden Staatsapparats. Sie laden Investoren aus dem Ausland, werben mit billigen Arbeitskräften und erleichtern die Exportbedingungen. Der Weltmarkt wird mit Waren überschwemmt. Der Staat sackt die Einnahmen ein und investiert sie in den Aufbau der Verkehrsinfrastruktur. Mit diesem Modell seien auch schon andere Länder erfolgreich gewesen.

In der Falle?

Aber nur bis zu einem gewissen Punkt, argumentieren die Experten. Sehr viel schwerer sei ein Aufstieg darüber hinaus. Ökonomen sprechen vom „middle income trap“, der Falle des mittleren Einkommens. Dieser These folgend basiert das Wachstum bei aufholenden Ländern viele Jahre lang darauf, das Know-how aus dem Ausland aufzusaugen und billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Hat aber ein Land ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreicht – sei es durch gestiegene Löhne, vollendete Verstädterung, eine alternde Bevölkerung oder durch gesättigte Märkte –, dann kommt es darauf an, neue Wachstumsimpulse zu schaffen. Sprich: Die Menschen dieser Schwellenländer müssen neue Ideen hervorbringen, die mit Produkten der Industrieländer konkurrieren können. Dieser Schritt ist sehr viel schwieriger.

Barry Eichengreen, Ökonom der Universität Berkeley, sieht China bereits in einer solchen Falle. Um aus ihr herauszukommen, bedürfe es einer verstärkten Investition in Bildung, Forschung und Wissenschaft sowie der Ansiedlung von Technologien für hochwertige Jobs. Dazu gehöre aber auch mehr Rechtssicherheit, eine nachhaltige Bekämpfung von Korruption und Umweltzerstörung. Und davon sei China mit seiner Einparteiendiktatur weit entfernt.

Der in Peking lebende US-Ökonom Arthur Kroeber glaubt hingegen, dass sich China an diesem Punkt noch lange nicht befindet. Knapp die Hälfte von Chinas Bevölkerung lebe noch immer auf dem Land und strebe in die Städte. Bei diesem Teil bleibe der Nachholbedarf in den nächsten Jahren groß. Kroeber rechnet auch weiter mit hohen Wachstumsraten.

Tatsächlich ist Chinas Führung bereits am Umschwenken: weg vom exportgetriebenen Wachstum, hin zu einer Stärkung der Binnenwirtschaft mit mehr sozialer und ökologischer Ausgewogenheit. Die Löhne steigen, die Einführung einer flächendeckenden Krankenversorgung ist auf den Weg gebracht. Die schwächeren Wachstumsraten im Export sind somit zum Teil auch beabsichtigt.

Nun wird nach zehn Jahren turnusgemäß fast die komplette Staatsführung ausgewechselt, wenn sich ab dem 8. November mehr als 2.000 Delegierte zum 18. Parteikongress der Kommunistischen Partei in Peking versammeln. Und nicht nur die Spitze ist vom Wechsel betroffen. Auf Provinz- und lokaler Ebene muss jeder Parteisekretär, Gouverneur, Bürgermeister und Ortsvorsteher, der vor 1944 geboren ist, seinen Platz für Jüngere räumen. Trotz der bereits eingeleiteten Reformensind die Erwartungen an die neue Führung groß. Das Problem mit der bisherigen Regierung schildert der chinesische Ökonom Yuan Guangming: Wirtschaftlich und gesellschaftlich habe sich in dem Land im vergangenen Jahrzehnt jede Menge getan, erläutert der Ökonom. Politisch aber herrschte weitgehend Stillstand. Yuan spricht sich explizit für mehr Mitbestimmung aus: „Der Demokratisierungsprozess in China hätte längst vorankommen können.“ Und Yuan ist nicht der einzige, der die mangelnde politische Reformbereitschaft beklagt. Vor allem in den sozialen Netzwerken im Internet ballt sich der Unmut gerade unter der stetig wachsenden Mittelschicht.

Aber ist nicht eben der autoritäre Staat der Grund für Chinas ökonomisch erfolgreiche zwei Jahrzehnte? Wären Devisenkontrollen, Bankenregulierung und eine starke Staatsindustrie auch in einer Demokratie möglich? Ja und nein, antwortet Yuan. Wahrscheinlich stünde China ohne das kommunistische Regime nicht dort, wo das Land jetzt steht. Aber so weiter machen wie bisher – das ginge auch nicht. Im Übrigen zeigt sich Yuan überzeugt: Eine regulierte Wirtschaftspolitik bedarf nicht zwangsläufig eines autoritären Staates. Auch den Ländern des Westens würde mehr Regulierung gut tun – ohne Verlust der demokratischen Rechte.