»Wenn dieser nach unserer Auffassung falsche Weg gestoppt wird, bauen sich Gefahren für den Euro sogar ab«

Einlassung von Gregor Gysi am 10. Juli 2012 in der mündlichen Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts über mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG.

11.07.2012 / 10.07.2012 – GREGOR GYSI

Die Anträge sind darauf gerichtet, dem Bundespräsidenten bis zur Entscheidung über die jeweilige Hauptsache zu untersagen, die von Bundestag und Bundesrat am 29. Juni 2012 als Maßnahmen zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise im Euro-Währungsgebiet beschlossenen Gesetze zu unterzeichnen und auszufertigen.

Zum Antrag: https://www.axel-troost.de/article/6245.verfahren-einer-einstweiligen-anordnung-s-32-des-gesetzes-ueber-das-bundesverfassungsgericht-zum-hauptsacheverfahren.html

Herr Präsident,
Hoher Senat,

bisher musste das Bundesverfassungsgericht noch nie durch eine einstweilige Anordnung dem Bundespräsidenten untersagen, die Unterschrift unter Gesetze zu setzen, um deren Inkrafttreten zu verhindern. Es gab immer eine Verständigung zwischen beiden Bundesorgangen, dass der Bundespräsident bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren mit seiner Unterschrift wartete. Offenkundig steht der Bundespräsident diesmal zu sehr unter Druck der Bundesregierung und leistete ohne eine einstweilige Anordnung durch Sie vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Unterschrift. Damit stehen aber auch Sie meine Damen und Herren Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht nur vor einer neuen, nicht nur vor einer erstmaligen, sondern auch vor einer schwierigen Entscheidung.

Noch schwieriger wird aber die Entscheidung im Hauptsacheverfahren. Wenn Sie unsere Organklage und bzw. oder die Verfassungsbeschwerde vollständig oder zumindest teilweise für begründet halten sollten, genügte es nicht, dass Sie in Begleitgesetze eingriffen. Sie müssten die Ratifizierung beider Verträge untersagen, wenn Sie diese für verfassungswidrig hielten. Auch das wäre völlig neu, erstmalig und eben noch schwieriger, denn bisher hat das Bundesverfassungsgericht keinen völkerrechtlichen Vertrag und kein vereinbartes EU-Recht für grundgesetzwidrig erklärt.

Des Öfteren mögen Ihnen Leute gegenübersitzen, die heimlich davon träumen, auch mal Bundesverfassungsrichterin oder Bundesverfassungsrichter zu werden, um die eine oder andere Entscheidung mit bewirken zu können. Ich bin aber ziemlich sicher, diesmal beneidet Sie niemand, denn jede und jeder ahnt, vor welcher schwierigen Aufgabe Sie stehen.

Die Regierung argumentiert, dass ohne unverzügliche Ratifizierung des Fiskalpaktes und des dauerhaften Rettungsschirmvertrages - also des ESM-Vertrages – der Euro gefährdet sei und außerdem ihr politischer Spielraum innerhalb der Europäischen Union erheblich eingeschränkt wäre. Ich halte beide Argumente nicht für stichhaltig. Für Zypern, Griechenland und Spanien verfügt der ESFS, d.h. der Vorläufer des ESM, über genügend finanzielle Mittel. Sollte ein Antrag von Italien hinzu kommen, wäre höchstwahrscheinlich nicht nur der ESFS, sondern auch der ESM überfordert. Außerdem wird der Euro nach unserer Auffassung dadurch gefährdet, dass in allen betroffenen Ländern unter Strukturveränderungen überwiegend die Kürzung von Investitionen, Löhnen und Renten sowie von Sozialleistungen durchgesetzt wird. Das bedeutet nicht nur Sozialabbau, sondern dadurch sinkt in diesen Ländern auch die Wirtschaftsleistung, gehen die Steuereinnahmen zurück, so dass eine Rückzahlung von Darlehen durch die Regierungen kaum möglich erscheint und die Einschätzung der Zahlungsfähigkeit der Länder durch Ratingagenturen immer negativer wird. Wenn dieser nach unserer Auffassung falsche Weg gestoppt wird, bauen sich Gefahren für den Euro sogar ab. Und hinsichtlich des Spielraums der Bundesregierung sehen wir die Angelegenheit auch umgekehrt. Unseres Erachtens hat das Bundesverfassungsgericht schon in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag zum Ausdruck gebracht, dass die rote Haltelinie des Grundgesetzes erreicht ist und beim nächsten Schritt zur Bildung einer europäischen Föderation überschritten wird. Trotzdem sind die Regierung, der Bundestag und der Bundesrat mit diesen beiden Verträgen die nächsten Schritte über eine Schulden- und Fiskalunion gegangen. Wenn Sie als Bundesverfassungsgericht keine einstweilige Anordnung erließen und in Ihrer Entscheidung nach dem Hauptsacheverfahren noch deutlicher erklärten, dass beim nächsten Schritt zur Bildung einer europäischen Föderationsstruktur die Grundgesetzwidrigkeit gegeben sei, erhöhte dies doch nicht den Spielraum der Bundesregierung. Im Gegenteil. Was sollte die Regierung noch an neuen Schritten verhandeln, wenn sie davon ausgehen müsste, dass jeder weitere Schritt sie in die Grundgesetzwidrigkeit führte.

Wie nicht selten haben der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung Zeit verstreichen lassen und Ihnen eine politische Entscheidung aufgebürdet. Sollten Sie nach dem Hauptsacheverfahren sogar ein Urteil dahingehend fällen, dass das 1949 verabschiedete Grundgesetz nicht für eine europäische Föderation geschrieben wurde und deshalb nicht länger über Hintertüren, Schritt für Schritt eine solche Föderation geschaffen werden darf, sondern gemäß Art. 146 des GG eine neue Verfassung geschrieben werden muss, die durch Volksentscheid zu bestätigen ist, eröffneten Sie breite Möglichkeiten für den Bundestag, den Bundesrat, die Bundesregierung und vor allem die Bevölkerung unseres Landes. Natürlich sollte eine neue Verfassung zu etwa 90 % Regelungen des Grundgesetzes übernehmen, wenn man insbesondere an die Art. 1, 14, 15 und vom Kern her auch 20 des GG denkt. Unseres Erachtens müssten aber noch wichtige soziale Grundrechte hinzukommen und vor allem wäre eben zu klären, welche europäischen Strukturen als möglich, als zulässig geregelt werden sollen.

Politisch geht es uns darum den Sozialabbau und die Gefährdung der Demokratie in Europa zu stoppen. Wir wollen die Rechte des Bundestages, des Bundesverfassungsgerichts, der Bundesländer, der Kommunen und unseres Volkes schützen. Und Sie haben zu entscheiden, ob Sie Ihr Urteil am Ende des Hauptsacheverfahren offen lassen oder nicht. Es widerspricht eigentlich der Natur eines Gerichts, sich vorfristig hinsichtlich seiner Hauptsacheentscheidung zu binden und auch deshalb sollten Sie unserem Antrag entsprechen, eine einstweilige Anordnung zur Unterbindung der Unterschriften des Bundespräsidenten unter die vom Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetze zu den genannten Verträgen zu erlassen.

Danke.