Pakt für solide Staatsfinanzen?

Joachim Bischoff: Sachverständige melden sich zu Wort

08.07.2012 / Sozialismus Aktuell, 7. Juli 2012

Die Debatte um die Beschlüsse des letzten EU-Gipfels in Sachen Euro-Krise nimmt an Intensität und Schärfe zu. Der »Warnung« in dem »Appell« von mehr als 170 Ökonomen um Hans Werner Sinn vor einer »Bankenunion« folgten scharfe Zurückweisungen seitens anderer Ökonomen, eine verhaltenen Zustimmung seitens Bundesbankpräsident Weidmann und eine Schimpfkanonade von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.

Auch die bundesdeutschen »Wirtschaftsweisen« greifen in die heftige aktuelle Debatte ein, wie die Krise der Euro-Zone endlich überwunden werden kann. »Die von der sich immer weiter verstärkenden systemischen Krise der Währungsunion ausgehenden Gefahren für die ökonomische Stabilität Deutschlands veranlassen den Sachverständigenrat, der Bundesregierung ein Sondergutachten … zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorzulegen.« (Alle folgenden Zitate aus der auf der Website des Sachverständigenraten zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung herunterladbaren Fassung.)

Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Großen Krise der Globalökonomie sowie drei Jahre nach der Verdichtung des Krisenprozesses in der Europäischen Währungsunion und insgesamt 25 Gipfel-Treffen ist immer noch kein »Durchbruch« zur »Beruhigung« der Finanzmärkte und zur wirtschaftlicher Erholung erreicht worden. Die Wirtschaftsweisen sprechen von einer systemischen Krise, beschreiben erneut ausführlich den Zusammenhang von anhaltender Krise des Banken- und Finanzsystems, dem Schuldenüberhang der öffentlichen Bereiche (nicht nur in der Euro-Zone) und einer sich verfestigenden Wachstumsschwäche mit der Gefahr der Ausbildung einer rezessiven Abwärtsspirale.

»Nach einer zeitweisen Entspannung in den ersten Monaten des Jahres 2012 ist die Euro-Krise bis zur Jahresmitte erneut eskaliert« lautet ihr zentrales Urteil. Die Bewertung der politischen Entscheidungen der europäischen Elite fällt durchaus ambivalent aus: »Trotz der jüngsten Zuspitzung der Lage sollte nicht übersehen werden, dass es der Politik auf der nationalen wie der europäischen Ebene in den vergangenen zwölf Monaten durchaus gelungen ist, mutige Schritte zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen einzuleiten. So haben die Mitgliedsländer der Währungsunion den Stabilitäts- und Wachstumspakt gehärtet und sich mit dem Fiskalpakt gemeinsam dazu verpflichtet, auf nationaler Ebene verbindliche Beschränkungen für das strukturelle Defizit zu implementieren.«

Die Hervorhebung von mutigen Schritten bliebt freilich eingebundenen in ein vernichtendes Gesamturteil zum bisherigen Krisenmanagement: »Die Staats- und Regierungschefs des Euro-Raums haben auf der Tagung des Europäischen Rates am 28./29. Juni 2012 Entscheidungen zur kurzfristigen Stabilisierung der Lage im Euro-Raum getroffen. Diese dürften den Problemländern zwar zu einer Atempause verhelfen; sie sind aus Sicht des Sachverständigenrates aber nicht dazu geeignet, die Krise zu beenden. Die mit den jetzt beschlossenen Maßnahmen gewonnene Zeit sollte daher dazu genutzt werden, möglichst bald umfassende Lösungen zu implementieren, die den Teufelskreis aus Bankenkrise, Staatsschuldenkrise und makroökonomischer Krise durchbrechen und das verlorengegangene Vertrauen in die Stabilität und Integrität der Währungsunion wiederherstellen.«

Der Sachverständigenrat war in den letzten Jahrzehnten nicht gerade zurückhaltend, wenn es um die Durchsetzung einer neoliberalen Politik ging, die auf die Entfesselung und Deregulierung des Finanzkapitals zielte. Das Scheitern der wirtschaftspolitischen Zukunftskonzeption eines vermögensgetriebenen Kapitalismus hätte daher auch Anlass einer selbstkritischen Überprüfung der zurückliegenden Beratungsleistungen sein können. Aber davon ist keine Spur erkennbar.

Immerhin betonen die »Wirtschaftsweisen«, dass es um die Implementierung eines realökonomischen Strukturwandel gehen muss, soll die seit Jahren anhaltenden krisenhafte Konfiguration des Finanzsektors überwunden werden. »Eine makroökonomische Neuausrichtung der Volkswirtschaften ist unabdingbar, um die weitgehend im Ausland aufgelaufenen Schulden zu bedienen. Da jedoch, anders als im Falle einer eigenständigen Geldpolitik, den Problemländern der Weg versperrt ist, den sektoralen Restrukturierungsprozess über eine externe Abwertung zu unterstützen, muss dieser Prozess ausschließlich auf dem schmerzhaften Wege einer inneren Abwertunggeschehen, indem Ressourcen aus den eher binnenwirtschaftlich orientierten Sektoren, wie dem öffentlichen Sektor (etwa in Griechenland) oder dem Bausektor (etwa in Irland und Spanien), in die Sektoren mit sogenannten handelbaren Gütern umgelenkt werden.«

Keine Frage: Die europäische Politik hat erneut – wie schon häufig in den letzten Jahren – nur eine weitere Atempause erreicht. Diese Zeit könnte genutzt werden, um möglichst schnell umfassendere Lösungen zu implementieren. Aber die umfassenden Lösungen können nicht nur in Maßnahmen zur Stabilisierung des europäischen Finanzssystems bestehen. Sondern es müsste mit einem Politikwechsel eine Aussetzung der Austeritätspolitik geben und über ein staatlich finanziertes Investitions- und Wachstumsprogramm in Europa eine zukunftsorientierte Wirtschaftsstruktur implementiert werden, die sich eben nicht durch weitere Abwendung einer binnenwirtschaftlichen Ausrichtung und einen noch stärkeren Übergang zu einer höheren Wettbewerbsorientierung auszeichnet.

Es ist ein wohlfeiler Rat, wenn der Sachverständigenrat konstatiert: »Setzt die Politik einseitig darauf, dass Konsolidierungs- und Anpassungsprogramme zugleich die systemische Krise des Euro-Raums bewältigen, so läuft sie Gefahr, bestehende Instabilitäten so zu verstärken, dass die Mitgliedstaaten des Euro-Raums in eine Solvenzkrise abgleiten.«

Der Punkt der Solvenzkrise ist längst erreicht. Deshalb darf nicht nur von einer Art »Marshall-Plan« geredet werden, sondern diesen endlich zügig auf den Weg zu bringen. Denn: »Letztlich kann die realwirtschaftliche Stabilisierung der betroffenen Länder nur mit einem funktionsfähigen Finanzsektor gelingen. Ebenso erfordert die weitere Stabilisierung des Finanzsektors ausreichendes Wachstum. Derzeit stockt aber dasZusammenspiel zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft.«

In der Tat stockt das Zusammenspiel zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft gewaltig. »In der Folge stehen Kredite für neue Investitionen nur in unzureichendem Maße zur Verfügung, sodass Wachstum und sektoraler Wandel verlangsamt werden. Arbeitskräfte, die entlassen werden, können nicht von wachsenden Sektoren aufgenommen werden. Diese Fehlentwicklungen machen aber nicht an den Grenzen der einzelnen Länder Halt, sie haben über den Außenhandels- und den Finanzmarktkanal auch negative Rückkopplungen auf die Wirtschaft des gesamten Euro-Raums. Durch das geringe Vertrauen in die Banken der Krisenländer sind die privaten Kapitalströme dorthin eingebrochen. Daher können sich viele Banken in diesen Ländern nicht länger am privaten Kapitalmarkt refinanzieren.«

Durch die Konzentration auf Maßnahmen zur Stabilisierung des Banksystems wird der Prozess der Ausweitung von notleidenden Krediten und einem wachsenden Wertberichtigungszwang von toxischen Bankaktiva nicht unterbrochen. Mit der Überbetonung von Konsolidierungsmaßnahmen der öffentlichen Finanzen wird zudem der realwirtschaftliche Kontraktionsprozess verstärkt.

Mutige Schritte zur Konsolidierung und zum Ausbruch aus der gefährlichen Entwicklung erreichen wir nicht durch einen Schuldentilgungspakt, denn die negative Rückkopplung von Sparmaßnahmen auf die Konjunktur und damit auf die Steuereinnahmen und konjunkturreagiblen Ausgaben macht jede isolierte Stabilisierung von Banken und Finanzinstituten zunichte.

Zu Recht werfen die Sachverständigen einen Blick auf das verlorene Jahrzehnt in Japan nach dem Platzen der Immobilienblase. »Gerade die Erfahrungen Japans verdeutlichen exemplarisch, welche Fehlanreize von einer verschleppten Rekapitalisierung und Restrukturierung der Banken für die Realwirtschaft ausgehen können. Japanische Banken haben in den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre aufgrund einer zu geringen Kapitalausstattung notleidende Kredite verlängert und bestehende Kreditlinien ausgeweitet, wodurch nicht tragfähige realwirtschaftliche Geschäftsmodelle weiter am Leben gehalten wurden.« Bis heute ist die realwirtschaftliche Erneuerung nicht gelungen, aber Japan hat einen historisch einmalig hohen Schuldenüberhang aufgebaut.

Die notwendigen wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus der geschilderten Entwicklung legt der Sachverständigenrat der Bundesregierung allerdings genauso wenig nahe, wie er zu einer selbstkritischen Bewertung der eigenen Beratungstätigkeit mit Blick auf frühere Empfehlungen fähig ist. Insofern bringt seine Intervention zwar richtige Aspekte der aktuellen Gefahrenkonstellation zur Sprache, kluge Auswege sind beim ihm genauso wenig zu finden wie bei Sinn & Co. oder den Ökonomen um Michael Burda und Beatrice Weder di Mauro. Die werden wir wohl selbst weiterdiskutieren und -entwickeln müssen.