Aufuf: Wir sind DIE LINKE.

Aufruf vor dem Bundesparteitag der LINKEN in Göttingen

21.05.2012

Der Bundesparteitag findet in einer für DIE LINKE schwierigen Zeit statt. Fünf Jahre nach der Gründung der LINKEN aus dem Zusammenschluss von WASG und PDS haben wir in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bittere Wahlniederlagen erlitten. Erstmals wurden wir aus zwei Landtagen wieder herausgewählt. In Berlin haben wir die Regierungsverantwortung verloren. Anderswo – bei den Landtagswahlen im Saarland und bei den Kommunalwahlen in Thüringen – hat sich erwiesen, dass schwierige Zeiten bei weitem nicht zum Untergang der Partei führen müssen, sondern dass die LINKE heute sogar Landrätinnen und Oberbürgermeisterinnen hervorbringen kann. Die unterschiedlichen Wahlerfahrungen zeigen:

Der Weg zu einer dauerhaft starken LINKEN ist länger, widersprüchlicher und fragiler, als es uns anfangs schien, als wir es wahrhaben wollten.

Unsere bundesweite gesellschaftliche Verwurzelung ist nicht überall so weit und nicht so tief gediehen, wie wir meinten und hofften.

Wir waren berauscht vom Erfolg und haben zu wenig Sorgfalt darauf verwandt, das Netz unserer Partei zu festigen, die Fäden zu stärken und sie in die Gesellschaft einzuweben.

Wir haben die Zuwendung der Menschen zur LINKEN zu oft als naturgegeben, als geradezu selbstverständlich angesehen – und das Auf und Ab unserer Partei zu wenig als Indikator für unsere Kommunikation mit der Gesellschaft verstanden, sondern als Beleg für die Richtigkeit unserer jeweiligen Positionen instrumentalisiert und gegeneinander ins Feld geführt.

Ja – wir haben es mit einer wirklich gefährlichen Situation für unsere Partei zu tun. Noch (!) ist nicht das Projekt einer Partei der Linken in Deutschland in Frage gestellt – aber die Art und Weise, wie wir bislang diese Partei gestaltet haben, muss grundlegend auf den Prüfstand.

Unsere derzeitige Schwäche trifft uns deshalb besonders hart, weil die Themen, die heute die politische Agenda bestimmen – Eurokrise, Fiskalpakt und die davon ausgehenden sozialen Verwerfungen – unsere Antworten erfordern. Soziale Gerechtigkeit und demokratische Erneuerung sind unsere Antworten auf die Krise und Markenkern der LINKEN.

Gleichzeitig müssen wir konstatieren, dass die Formulierung richtiger Antworten nur wenig wert ist, wenn sie mit der LINKEN nicht identifiziert werden. Darauf wiederum zu reagieren mit der Aussage, wir müssen unsere Positionen nur lauter aussprechen, erfüllt dann seinen Zweck nicht, wenn nicht die Lautstärke des Sounds zu gering ist, sondern die Glaubwürdigkeit der LINKEN selbst.

Solange DIE LINKE die direkte Demokratie stärken möchte, aber Mitgliederentscheide in Personalfragen für rechtswidrig erklärt, während selbst die FDP sie durchführt; solange DIE LINKE mehr Solidarität einfordert, aber nach außen durch Demontage der eigenen Leute auffällt, wird unsere Partei Schwierigkeiten haben, das zu tun, was sie zu tun hat: Sich in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen als aufklärende, mobilisierende und zusammenführende Kraft zu bewähren – in Deutschland und Europa.

Dennoch ist eine Warnung hinterherzuschicken: Die nötige Bündelung und Fokussierung der Kräfte darf nicht als Ausschließlichkeit missverstanden werden. Im Parteiprogramm haben wir verankert, dass die ökologische Frage von zentraler Bedeutung für das Überleben der Menschheit und damit für die LINKE ist. Doch dass wir diejenigen sind, die nachdrücklich für die sozialökologische Wende streiten, das muss mit Leben erfüllt und verstetigt werden. Davon sind wir noch weit entfernt. Wir sehen es daher als eine Schlüsselfrage an, dass die Wiedergewinnung unseres Profils als sozialer Kraft kombiniert wird mit dem Zuwachs an Ansehen und Vertrauen als Kraft ökologischer Umgestaltung. Auch das wird die künftige Parteiführung im Auge haben müssen. Ebenso wie den Anspruch, eine feministische Partei zu werden. Dafür müssen die Geschlechterverhältnisse grundlegend in unserer Strategie und Politik Berücksichtigung finden. Dies würde dazu beitragen, DIE LINKE unverzichtbar und innovativ in der Parteienlandschaft werden zu lassen.

Die Verantwortung für die Situation, in der sich unsere Partei befindet, ist nicht einzelnen Personen oder Gruppierungen in unserer Partei zuzuschreiben; für die Außendarstellung, das politische Profil und die Diskussionskultur tragen wir Mitglieder der LINKEN gemeinsam Verantwortung – genauso wie für unsere Fähigkeit, Menschen für DIE LINKE zu gewinnen und politische Bündnisse einzugehen.

Fünf Jahre nach der Gründung der LINKEN sind wir unserem Selbstverständnis nach zwar eine plurale Partei und auch unsere Zusammensetzung ist von einem relativ breiten Spektrum gekennzeichnet. Diesen Pluralismus fruchtbar zu machen verlangt indes, dass wir solidarische Umgangsformen entwickeln und lernen, die in unserer Partei bestehenden Unterschiede durch offene und sachbezogene Debatten produktiv zu machen. Davon sind wir noch weit entfernt – ebenso davon, die Vielfalt der Politikansätze zu nutzen, um sehr unterschiedliche Wähler/-innen anzusprechen. Eine Partei, die über zehn Prozent der Wähler/-innen erreichen will, muss es verstehen, verschiedene Milieus und Schichten anzusprechen und an sich zu binden.

Alle Wahlergebnisse zeigen, dass zur bedeutenden Kernklientel der Partei DIE LINKE die Erwerbslosen, die unter Hartz IV und unter prekarisierten Arbeits- und Lebensbedingungen leidenden Menschen gehören. Diese Gruppe erwartet von uns glaubhafte und ernsthafte Schritte zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ebenso wie ein authentisches Bewusstsein davon, was Leben-Müssen mit Hartz IV oder mit Armutslöhnen bedeutet.

DIE LINKE muss eine beharrlich-widerständige Partei sein. Und in der gegenwärtigen Lage ist es nur die LINKE, die sich konsequent gegen eine nach wie vor finanzmarktgetriebene Politik zur Wehr setzt. Aber der Kurs der strikten Abgrenzung von allen anderen konkurrierenden Parteien ist auf Dauer keine erfolgreiche Strategie. Zwei Lernaufgaben sind deshalb schleunigst zu erfüllen:

Auf der einen Seite müssen wir die teilweise in unserer Partei vorhandene Logik “Wir gegen alle/Wir haben die einzige Wahrheit” schnell und dauerhaft überwinden. Denn diese Logik – wir im Besitz der Wahrheit, dort der Rest der Gesellschaft – ruiniert auf Dauer unsere Partei.

Auf der anderen Seite müssen wir immer wieder und Schritt für Schritt lernen, die Grenzen der „Realpolitik“ zu erweitern, indem wir uns in soziale Kämpfe einbringen und dazu beitragen, gesellschaftliche Konflikte zu führen. Auch und gerade wenn wir in Gestaltungs- oder Regierungsverantwortung sind.

Die LINKE muss zu sich selber finden – von ihren bisherigen Kernbotschaften ausgehend die Fähigkeit entwickeln, die soziale Frage in den Themen und Herausforderungen dieser Gesellschaft zu erkennen, zu benennen und in politische Optionen zu überführen. So wird sie authentisch – in der Art und Weise, wie sie Politik macht, wie auch bei der Frage, wer die nach außen wahrnehmbaren Persönlichkeiten vor Ort, in den Ländern, auf Bundesebene sind.

Wir wollen, dass DIE LINKE Angebote zur Beteiligung und Mitarbeit für diejenigen Milieus unterbreitet, die über die neuen Themen angesprochen und von den bisherigen Verkehrsformen der Partei eher abgeschreckt werden. Anders ausgedrückt: Nur wenn wir die gegenwärtigen Selbstblockaden überwinden, Solidarität und Toleranz sowie Offenheit für neue Ideen auch nach außen ausstrahlen, werden wir es schaffen, uns zugleich für neue gesellschaftliche Gruppen zu öffnen.

Mit dem Programmparteitag der LINKEN in Erfurt hofften wir, die Voraussetzungen für eine Konsolidierung unserer Partei und die Orientierung auf Politik statt Selbstbeschäftigung geschaffen zu haben.

Davon war bereits kurze Zeit nach dem Parteitag nichts mehr zu spüren. Stattdessen wird DIE LINKE seit Monaten von der Frage bestimmt, wer künftig den Parteivorsitz innehaben wird. Diese Frage wird jedoch nicht wahrnehmbar als produktiver Wettstreit zwischen den besten Persönlichkeiten und den überzeugendsten Konzepten behandelt, sondern zunehmend als Kampf zwischen im Wesentlichen zwei sich widersprechenden Linien.

Wir sehen die Gefahr, dass der Parteitag in einem Showdown endet, bei dem wir alle als DIE LINKE verlieren werden.

Die wirkliche Kraft der Partei geht in diesem Krisenszenario unter; sie wird übersehen und unterschätzt. Überall, in West und Ost, haben Genossinnen und Genossen Gesicht gezeigt, für die Partei gekämpft, sich Auseinandersetzungen gestellt; sie sind auf Menschen zugegangen und haben um sie geworben. Überall, in West und Ost, haben Genossinnen und Genossen ihre Erfahrungen auf den Prüfstand gestellt, neue Ideen geboren, Kompetenz und Ansehen gewonnen. Sie haben das Zeug, Führungsaufgaben zu übernehmen – wir werden ihnen nicht gerecht, wenn wir sie ignorieren und nach einem Erlöser, einem Messias rufen. Diese Menschen vertreten das Neue, das mit der LINKEN entsteht – aber dieses Neue erstickt, wo es mit den alten Etiketten überklebt wird. Die künftigen Erfolge der LINKEN werden nicht die bloße Neuinszenierung der früheren sein.

Es ist richtig, dass es unterschiedliche politische Kulturen in der Partei gibt, aber es gibt sie auch quer zu Ost-West-Linien. Es gibt heute viele Genossinnen und Genossen, die sich über Ost-West-Grenzen hinweg in ihren Anforderungen an eine neue politische Kultur nahe stehen und die sich eine Partei wünschen, die weniger von Machtpoker und Funktionärsgehabe geprägt ist, sondern von gesellschaftlicher Öffnung, neuen Milieus, spannenden Diskussionen, Neugier auf die Zukunft. Das muss in der Partei eine größere Rolle spielen.

Wir erwarten deshalb:

  1. dass vom Göttinger Parteitag ein Signal der Gemeinsamkeit ausgeht, ein praktisches Verständnis von Pluralität als Stärke unserer Partei,
  2. Parteitagsbeschlüsse, die auf das praktische alltägliche Handeln unserer Partei abzielen und unsere Fähigkeit verbessern, auf aktuelle Entwicklungen für die Menschen in unserem Land nachvollziehbar und klar zu reagieren,
  3. eine selbstkritische Bilanzierung der fünfjährigen Entwicklung der LINKEN, bei der nicht mit dem Finger auf Einzelne gezeigt, sondern gemeinsame Lernaufgaben formuliert werden, an denen wir künftig arbeiten und wachsen können,
  4. von allen Kandidatinnen und Kandidaten für den Parteivorsitz und den Parteivorstand, dass sie willens sind, in ihrer Vorstandstätigkeit Solidarität und Toleranz im Umgang mit unterschiedlichen Positionen zur Grundlage ihres Handelns zu machen,
  5. von den Delegierten des Parteitages die Fähigkeit, in ihrem Wahlverhalten die Vielfältigkeit unserer LINKEN abzubilden, nicht auszugrenzen und sich von der Maxime leiten zu lassen, dass in einem Parteivorstand vor allem Menschen tätig sein sollen, die im Austausch miteinander Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und auf diesem Wege DIE LINKE nach vorn bringen.

Die Partei DIE LINKE. sind wir alle.

Initiator/-innen:
Hüseyin Aydin (NRW); Joachim Bischoff (Hamburg); Carolin Butterwegge (NRW); Rico Gebhardt (Landesvorsitzender, Sachsen); Thomas Händel (MdEP, Brüssel); Cornelia Möhring (MdB, Schleswig-Holstein); Kornelia Möller (MdB, Bayern); Gabi Ohler (Parteivorstand, Thüringen); Björn Radke (Schleswig-Holstein); Bodo Ramelow (LT-Fraktionsvorsitzender, Thüringen); Paul Schäfer (MdB, NRW); Christoph Spehr (Landessprecher, Bremen); Axel Troost (MdB, Sachsen)

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