»Soziale Fragen werden in den Vordergrund treten«

Dagmar Enkelmann

20.12.2011 / Interview der Woche, 16.12.2011


Bundespräsident Christian Wulff steht derzeit wegen eines Privatkredits in der Kritik. Als niedersächsischer Regierungschef 2008 hatte er einen Kredit über eine halbe Million Euro von der Frau des Unternehmers Egon Geerkens erhalten. Wird Herr Wulff ihren Ansprüchen an einen Bundespräsidenten gerecht?

Dagmar Enkelmann: Ob er seinem Amt gerecht wird, würde ich lieber anhand seiner politischen Arbeit beurteilen. Da hat sich Wulff bisher mehr als zurückgehalten: Klare Worte zur Finanzkrise oder zur sozialen Spaltung in Deutschland sind nicht zu hören. Wulff ist ein Präsidialer auf Reisen – kein Wunder, wird er hier doch immer wieder von seiner Vergangenheit im niedersächsischen Amigo-Geflecht eingeholt.

Sollte der Bundespräsident zurücktreten?

Als Präsident ist Wulff vor allem eine moralische Instanz. Deswegen müssen hier hohe Maßstäbe gelten. Wenn er sein Amt nicht mehr unbelastet ausüben kann, sollte er zurücktreten.

Das Haushaltsrecht gilt als Königsrecht des Parlaments. Durch die Beschlüsse beim EU-Gipfel am 9. Dezember drohen direkte Eingriffe der EU in nationale Haushalte. Was bedeutet das für das Haushaltsrecht des Bundestags?

Die durch eine Mehrheit beabsichtigte Einschränkung des Haushaltsrechts durch das so genannte "9er Gremium" ist vom Bundesverfassungsgericht gestoppt worden. Und das ist gut so. Inzwischen ist die Regierung vorsichtiger in ihrem Agieren. So hat sie vergangene Woche bei der Forderung zu einem Nachtragshaushalt wegen der ESM-Milliarden schnell eingelenkt. Wir werden aber weiter sehr genau hinsehen müssen.

Beim Gipfel wurde außerdem beschlossen, dass der permanente Euro-Rettungsfonds ESM vorgezogen werden soll. Statt 2013 soll er bereits ab Mitte 2012 zusammen mit dem vorläufigen Rettungsfonds EFSF gelten. Das macht einen Nachtragshaushalt von über 4,3 Milliarden Euro nötig. Wird dadurch die bisherige Schuldengrenze von rund 26 Milliarden Euro gerissen werden?

DIE LINKE ist zwar für Haushaltskonsolidierung, lehnt aber die Schuldenbremse ab - ob nun national oder für andere EU-Länder. Insofern stellt sich für uns das Problem nicht. Begibt man sich auf den Standpunkt der Bundesregierung, ist es allerdings reichlich bigott, anderen Ländern die Schuldenbremse aufzuzwingen, diese aber dann selbst wegen des Beitrags zum ESM verletzen zu wollen.

Auf dem Krisengipfel haben die EU-Länder vereinbart, binnen zehn Tagen zu prüfen, ob die Notenbanken dem IWF zusätzlich 200 Milliarden Euro in Form bilateraler Darlehen zur Verfügung stellen können. Deutschland wäre mit etwa 45 Milliarden Euro dabei. Spricht der Bundestag dabei mit?

Die Bundesbank fordert das - sehr zu Recht. Hinzu kommt, dass inzwischen mehr als zweifelhaft ist, ob die versprochenen 211 Milliarden Euro, die Deutschland für die Eurorettung aufwenden will, tatsächlich das letzte Wort waren. Es verdichten sich die Anzeichen, dass, über welche Wege auch immer, weitere Gelder fließen werden. Wir fordern in jedem Fall eine Beteiligung des Parlaments.

Beim Gipfel wollte die Kanzlerin den Artikel 126 AEUV ändern, damit in Zukunft automatisch Defizitverfahren ausgelöst werden können. Großbritannien scherte bekanntlich aus. Nun soll der neue Vertrag den EU-Vertrag ergänzen oder umgehen, je nach Lesart. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Dieser "Automatismus" setzt nicht an den Ursachen der Krise an - im Gegenteil: Die neoliberale "Spar"-Politik soll jetzt per völkerrechtlichem Vertrag radikalisiert werden. Eine Folge wird sein, dass die Umverteilung von unten nach oben massiv weiter geht. Die "Stabilitätsunion" ist auch ein Anschlag auf die Demokratie, weil das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente ausgehebelt werden soll. Sie verletzt den durch Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützten Kernbereich parlamentarischer Demokratie. Denn die Regelungen über die Schuldenbremse sollen einer Aufhebung oder Änderung durch den deutschen Gesetzgeber auf Dauer entzogen werden. Einen "neuen fiskalpolitischen Pakt" etablieren zu wollen, verstößt auch gegen geltendes EU-Recht, weil zentrale EU-Organe einer anderen Rechtsordnung als der der EU-Verträge unterwerfen werden sollen.

Es war ein bewegtes Jahr für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Wie lief es für die Fraktion DIE LINKE?

DIE LINKE hat, wie immer, eine enorme Fleißarbeit vollbracht. Seit Beginn der Legislatur summieren sich unsere parlamentarischen Initiativen auf 1.500. Auch von den Themen her waren wir oft auf der Höhe der Zeit – mit unseren Vorschlägen zu einer solidarischen Rentenversicherung oder zur Bürgerversicherung für Gesundheit und Pflege. Unsere Kritik an der Rente erst ab 67, an den deutschen Waffengeschäften und Großprojekten wie Stuttgart 21 fand viel Resonanz. Die Große Anfrage zu rechtsextremistischen Straftaten bekam – nach der Aufdeckung der Mordserie – eine beängstigende Aktualität.

Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den anderen Oppositionsfraktionen?

Nach wie vor schwierig. SPD und Grüne meinen, Politikveränderung ohne DIE LINKE zu erreichen. Sie bereiten sich damit auf die nächste Bundestagswahl vor. Das führt immer wieder zu Ausgrenzungen. Dabei gäbe es eine Reihe von Themen, die man durch gemeinsames Agieren in der Opposition viel besser befördern könnte. Es gibt nicht nur die Arroganz der Macht.

Ist Rot-Rot-Grün dennoch eine Koalitionsoption für 2013?

Wenn DIE LINKE ihre politischen Ziele durchsetzen kann, indem sie mitregiert, wird sie sich der Verantwortung nicht entziehen. Wie der nächste Bundestag sich zusammensetzt, ist schwer vorauszusagen. Unter Umständen zieht mit den Piraten eine weitere Fraktion ein. Eventuell wird es die FDP nicht mehr geben. Dann werden die Karten neu gemischt. An einem führt kein Weg vorbei: DIE LINKE muss so stark werden wie möglich. Es nützt nichts, sich über Koalitionen den Kopf zu zerbrechen, wenn klar ist, dass ein wirklicher Politikwechsel hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und zu friedlicher Konfliktlösung nicht möglich ist.

Wie bewerten Sie den Zustand der schwarz-gelben Koalition nach dem Rücktritt von FDP-Generalsekretär Christian Lindner?

Die FDP befindet sich in einem Auflösungsprozess. Ob das auch zum Ende der Koalition führt, daran habe ich Zweifel. Schon in den letzten Jahren hat die FDP am Ende alles mitgetragen, was die Kanzlerin wollte. Zu groß ist bei den Abgeordneten die Angst wieder auf den Oppositionsbänken zu landen oder ganz aus dem Parlament zu fliegen. Von selbst jedenfalls wird die Koalition nicht abtreten.

Das Jahr geht zu Ende. Mit welchen Zielen geht die Fraktion DIE LINKE in das Jahr 2012?

Die Fraktion hat sich neu strukturiert, die Personalfragen sind weitgehend geklärt. Jetzt gilt es, die ganze Kraft auf die Sacharbeit zu konzentrieren. DIE LINKE muss weiter an ihren Konzepten und Lösungsangeboten arbeiten. 2012, das zeichnet sich ab, wird die Finanzkrise auch in der Bundesrepublik in der Wirtschaft ankommen, erste große Insolvenzen gibt es bereits. Soziale Fragen werden wieder in den Vordergrund treten. Da sind die Antworten der LINKEN gefragt. Schluss mit der Selbstbeschäftigung, hin zu den Problemen, die viele Menschen umtreiben!

linksfraktion.de, 19.Dezember 2011