Wie weiter mit dem »Lehrstück« Stuttgart 21? Volksabstimmung unter dem Druck der »schöpferischen Zerstörung«

Von Christoph Lieber*, Sozialismus Aktuell

01.12.2011 / 30.11.2011

Wenige Tage vor der Volksabstimmung über das so genannte S21-Kündigunsggesetz hatte die Lokführergewerkschaft GDL als zuständiger Berufsverband Sicherheitsbedenken gegen den Betrieb des geplanten Tiefbahnhofes und die Prüfung einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof angemeldet. Die unterirdischen Bahnsteige werden auf 400 Meter Länge ein Gefälle von etwa sechs Metern Höhenunterschied aufweisen und aus Gründen der angestrebten Kapazitätsauslastung müssten darüber hinaus auch noch Züge auf bereits von einem anderen Zug belegte Gleise einfahren.

Dieses risikobehaftete, »gemein«gefährliche und zudem behindertenunfreundliche Bauvorhaben ist nur ein Element eines insgesamt hybriden Infrastrukturprojektes, zu dem neben den ökologischen und geologischen Gefährdungen auch nach wie vor die Begehrlichkeiten der Immobilienspekulation bezüglich der Nutzung der freiwerdenden städtebaulichen Flächen gehören.

Mit einem mehrheitlichen Votum für die Ablehnung des »S21-Kündigungsgesetzes« am 27.11.2011 haben nun 28,3% der wahlberechtigten Baden-WürttembergerInnen »freie Fahrt« für dieses Großprojekt gegeben, gegen das ein Jahr zuvor von den Gegnern in einem öffentlichen »Faktencheck« in der Sache bislang nicht widerlegte schwerwiegende Einwände vorgebracht wurden, so dass sich der »Moderator« Heiner Geißler in seinem damaligen Schlichterspruch zu Nachbesserungen und Auflagen – S21 plus – an den Projektträger Deutsche Bahn gezwungen sah. Und auch beim »Stresstest« von S21 Ende Juli 2011 wurden von dem Schweizer Verkehrsberatungsbüro SMA bezogen auf die verkehrliche Qualität und Standards dieses Großprojektes in puncto Dichte der Gleisbelegungen sowie Ein-, Aus- und Umstiegszeiten Nachbesserungen angemahnt. Der anschließende an sich diskussionswürdige Kompromissvorschlag einer Koppelung von Kopf- und Tiefbahnhof, den der Schlichter Geißler dann unter Bruch der vereinbarten Regeln der Stresstestprüfung profilierungssüchtig als charismatische Friedensstiftung aus der Tasche zog, verschwand genauso schnell wieder aus der öffentlichen Diskussion.

Von »S21 plus« zur Grün-Roten Mehrheit

An diese Vorgeschichte auf dem Weg zur so genannten Volksabstimmung über Stuttgart 21 muss hier erinnert werden, damit die zuvor insbesondere im Protestlager gehegten Erwartungen an diese Abstimmung und ihr Ergebnis adäquat eingeordnet und politisch bewertet werden können. »Krachende Niederlage« diagnostiziert die verkehrspolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag Sabine Leidig mit Verweis auf den Kommentar »Der Filz siegt« des mit den S21-Gegnern sympathisierenden Arno Luik im »Stern« und greift ihrerseits zur Erklärung der Abstimmungsniederlage letztlich zu dem abgestandenen Argument medialer Macht der Pro-S21-Propaganda. Das ist argumentativ und analytisch zu dünn und für die Protestbewegung zudem desorientierend.

Als »Sieg für die repräsentative Demokratie« feiern die Befürworter von S21 den Ausgang des Volksentscheids mit strategisch weitsichtigem Blick auf zukünftige Volksbegehren. »Üblicherweise, auch das zeigt das Ergebnis von ›S 21‹, bilden Parlamente den Volkswillen nicht schlechter ab als Plebiszite, die dem Staat von lautstarken Minderheiten aufgezwungen werden.« (FAZ, 30.11.2011) Denn »das Volk hat nicht die Gabe ... die Antwort der Mehrheit zu vollstrecken und den durchaus möglichen Widerspruch zwischen erfolgreichen Volksabstimmungen aufzulösen. Zu alldem braucht es statt der Basisdemokratie die repräsentative Demokratie. Diese erst vermag sicherzustellen, was Regieren genannt wird.« (FAZ, 29.11.2011) Ein machtpolitisch durchsichtiges Manöver.

Die Abstimmung über die »Gesetzesvorlage ›Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21-Kündigungsgesetz)‹« – so der offizielle Text auf dem amtlichen Stimmzettel – war aber gar keine Volksabstimmung über eine wirkliche inhaltliche Alternative und stand zudem nicht am Beginn eines infrastrukturellen Planungsprozesses, sondern musste allererst in einer langwierigen politischen Auseinandersetzung erstritten und durchgesetzt werden. Den Höhepunkt hatte diese Protest- und zugleich Aufklärungsbewegung zu S21 mit der öffentlichen Faktenschlichtung erreicht, die die Macht des Faktischen einer 15-jährigen und letztlich nur verwaltungsrechtlich legitimierten Planfeststellung für ein kurzes historisches Zeitfenster Ende 2010 aufbrechen konnte und bis an eine rechtspolitische Grenzüberschreitung führte, mit der das umstrittene Infrastruktur-, Bahnhofs- und Immobilienprojekt in einer möglichen Volksbefragung oder Volksabstimmung einer substanziellen demokratischen Willensbildung über die Alternativen Neubau Tiefbahnhof S21 oder modernisierter Kopfbahnhof K21 hätte unterworfen werden können. Eine solche Grenzüberschreitung scheiterte letztlich an einer mächtigen Allianz aus Deutsche Bahn AG, (Bau-)Industrie, Teilen der politischen Klasse und der schon mal vorsorglichen, vor allzu exzessiver Demokratisierung von Planungsprozessen warnenden Intervention des obersten Verfassungshüters Vosskuhle. Zu all dem gab dann der Schlichter Geißler auch noch seinen »postdemokratischen« Segen: »Das Verfahren war als Fachschlichtung gedacht ... Es war klar, daß daraus keine rechtliche Bindung entstehen konnte« (SZ, 2.12.2010).

Diese Machtkonstellation besteht zwar bis heute fort, aber die politische Klasse und vornehmlich die ehemalige Mappus-CDU Baden-Württembergs hatte sich darüber so desavouiert, dass der Bürgerprotest gegen S21 sich auf der politischen Ebene der Landtagswahlen im März 2011 in einen Beschleuniger des Regierungswechsels von Schwarz-Gelb in Grün-Rot transformieren konnte. Diese neue Parteienkonstellation ist damit letztlich auch als ein Erfolg der Protestbewegung gegen S21 zuzuschreiben – nicht zuletzt wegen der Revitalisierung demokratischer Willensbildung durch die gestiegene Wahlbeteiligung auf 66,3% bei dieser Landtagswahl ganz gegen den sonstigen Bundestrend.

Verschiebung der politischen Konstellation beim so genannten Volksentscheid

Seit der Landtagswahl sind Kritik an und Verhinderung von S21 nicht mehr allein Sache eines breiten Aktionsbündnisses aus zivilgesellschaftlichen Akteursgruppen, Wutbürgern, Teilen von SPD-Mitgliedern und -wählern, der Partei DIE LINKE und den Grünen als Oppositionspartei, sondern mit der politischen Wende im März 2011 Gegenstand parlamentarischen Regierungshandelns geworden. Diese Arbeitsteilung von außerparlamentarischem Protest und einer in der Sache S21 zwar gespaltenen, aber gegenüber Schwarz-Gelb parlamentarischen Mehrheit von Grün-Rot hat zwei paradoxe Resultate gezeitigt: Zum einen wurde die Protestbewegung in ihrem Aktivierungspotenzial insofern geschwächt, als der Teil der Wutbürger, der mit seinem Engagement gegen S21 in erster Linie sein Gehörtwerden als Citoyen wiederhergestellt sehen wollte, mit der Abwahl der Mappus-CDU seine Mission erfüllt sah.

Zum andern wurde das Volksbegehren von einer »Bewegung von unten« zur Regierungsaufgabe und dementsprechend rechtspolitisch und »verwaltungstechnisch« überformt: Am 27.11.2011 stand nämlich nicht ein Volksbegehren über die städtebaulichen und verkehrlichen Alternativen S21 vs. K21 zur Abstimmung, sondern ein Gesetzentwurf der baden-württembergischen Landesregierung zum Ausstieg des Landes aus der Finanzierung des Projekts S21, der zunächst im Landtag von einer Mehrheit aus SPD, CDU und FDP abgelehnt wurde und daraufhin aufgrund des Antrags eines Drittels der Abgeordneten den Baden-Württembergern dann zur Volksabstimmung vorgelegt werden konnte. In das Votum der abstimmenden BürgerInnen ging damit nicht unwesentlich das Vabanquespiel von 350 Mio. bis zu 1,5 Mrd. Vertrags-Ausstiegskosten ein und es reflektiert damit keineswegs ungefiltert die Grundsatzauffassungen der Baden-WürttembergerInnen zu dem Großprojekt Stuttgart 21.

Diese Konstellationen in Rechnung gestellt, lässt sich das Ergebnis dieser Volksabstimmung in Kontinuität zur Landtagswahl vom März 2011 exemplarisch in der Hochburg des Konflikts interpretieren: In Stuttgart ist mit 67,8% Abstimmungsbeteiligung die durchschnittliche Wahlbeteiligung von 66,3% bei der Landtagswahl erreicht worden. Und auch in absoluten Zahlen der aktivierten WählerInnen zeigen sich Entsprechungen: In Stuttgart konnten 117.310 Ja-Stimmen zum Kündigungsgesetz und damit gegen S21 und 131.774 Befürworter von S21 mobilisiert werden und bei der Landtagswahl votierten hier 92 Tsd. für die Grünen, 8,8 Tsd. für DIE LINKE, 84 Tsd. für die CDU, 16,2 Tsd. für die FDP und 54,3 Tsd. für die SPD. Bei vergleichbarer Wahlbeteiligung konnten also die Grünen und die LINKEN als entschiedenste S21-Gegner ihr politisches Potenzial von ca. 100 Tsd. Stimmen aus dem März wieder als zentralen Stimmenanteil in die 117.310 Gegenstimmen zu S21 bei der Volkabstimmung einbringen, ebenso CDU und FDP als Befürworter von S21 zusammen ihre 100 Tsd. aus der Landtagswahl als Hauptstimmenanteil der 131.774 S21-Befürwortern bei der Volksabstimmung.

Unsicherer Kandidat SPD

Das Problem stellt damit die in sich gespaltene baden-württembergische SPD dar, die in Teilen bei der Volksabstimmung das hybride Infrastrukturprojekt S21 unterstützt hat – nicht verwunderlich bei einem Landesvorsitzenden, der nach dem in seinen Augen erfolgreichen Stresstest für S21von sich behauptet, »Benzin im Blut« (O-Ton Nils Schmid) zu haben, oder bei einem Fraktionsvorsitzenden, der über die S21-Gegner sagt, »ein paar Spinner sind immer unterwegs« (Claus Schmiedel, Wirtschafswoche, 30.7.2011).

Das Problem liegt hierbei tiefer und ist für Teile der politischen Klasse symptomatisch. »So wichtig das Bewahren auch ist – im Namen der Zukunft und der kommenden Generationen braucht es immer auch die schöpferische Zerstörung von Gewohntem ... Für die Zukunft einen kühnen Einsatz wagen – diese Haltung hat sich unsere allüberall ergrünte Gesellschaft recht konsequent abtrainiert.« (Welt, 29.11.2011) Auch die deutsche Sozialdemokratie laboriert schon seit längerem an einem neuen »Fortschrittsbegriff« und muss für sich selbst konstatieren: »Der Kern des traditionellen sozialdemokratischen Fortschrittsversprechens – die Verbindung von technologischer Erneuerung und wirtschaftlichem Erfolg mit steigendem individuellem und gesellschaftlichem Wohlstand, sozialer Sicherheit und demokratischer Teilhabe für die gesamte Gesellschaft – erscheint gebrochen.«

Zugleich aber will sie mit ihrem Stones-Flügel von Steinmeier, Steinbrück und eben auch Teilen der BaWü-SPD auf Tuchfühlung zu den Befürwortern von standortsichernden Großprojekten und hybriden Zukunftsprojekten bleiben und gibt sich dementsprechend staatstragend: »Die für eine dynamische, wirtschaftlich und sozial erfolgreiche Gesellschaft unverzichtbaren Projekte und Veränderungen werden immer seltener die Zustimmung der Bevölkerung finden, wenn es bei dieser skeptischen Grundhaltung gegenüber der politischen Gestaltungskraft von Fortschritts- und Veränderungsprozessen bleibt.« Dass sich eine solch kulturkritische und rückwärtsgewandte Haltung in der Bevölkerung nicht weiter ausbreitet, dafür soll ein sozialdemokratisch neu definiertes Fortschrittsprojekt aus zwei Gründen sorgen: »Wir Sozialdemokraten teilen einen solchen Pessimismus nicht. Wir halten auch weiterhin gesellschaftlichen Fortschritt für notwendig und möglich«. Denn »unser Land ist auf wissenschaftlich-technischen Fortschritt angewiesen«. (Entwurf für ein SPD-Fortschrittsprogramm)

In diesem in seiner Schlichtheit an die Formel von der »wissenschaftlich-technischen Revolution« aus dem versunkenen Atomzeitalter erinnernden Fortschrittsbekenntnis erschöpft sich gegenwärtig bei der SPD ihre Zeitdiagnose. Und die ist falsch. Denn Kennzeichen der Entwicklung in den kapitalistischen Metropolen ist nicht das dynamische Vorwärtsstürmen der ökonomischen Basis, sondern Anzeichen säkularer Stagnation. Mehr noch: Strukturbestimmend sind Finanzmärkte, die für Umverteilung, aber keineswegs für Investitionsdynamik sorgen und in hohem Maße krisenhaft sind. Dagegen werden dann von der gegenwärtig herrschenden wirtschaftspolitischen Elite in Europa hybride Infrastrukturprojekte wie S21 als Befreiungsschlag und take off eines neuen Prosperitätszyklus verkauft und wenn nötig mit Härte durchgezogen: Inwertsetzung fordistischer Brachen und Ruinen als neue innerstädtische (Immobilien)Flächen, freigeräumt für weitergehende Gentrifizierung oder vielerlei finanzmarktkapitalistische Mobilisierungsvorhaben.

Auf Grund ihrer eigenen Verstrickung in die Logik des Finanzmarktkapitalismus als dessen Türöffner in den Jahren 1998ff. neigt die Sozialdemokratie immer wieder dazu, bei anstehenden Infrastrukturprojekten in der Beteiligung von Finanzmarktakteuren große Wachstumschancen und Wohlstandsgewinne zu sehen. Im politischen Kampf gegen solche Vorhaben und für die Alternative, die allgemein-gemeinschaftlichen Produktionsbedingungen, Infrastrukturen und Netze auf städtischer, regionaler und nationaler Ebene einer Finanzialisierung zu entziehen, sie zu rekommunalisieren, bürgernah zu organisieren und strikter öffentlicher Kontrolle zu unterwerfen, bleibt die deutsche Sozialdemokratie immer noch kein verlässlicher Bündnispartner. Das sieht auch das angeschlagene bürgerliche Lager so, und schließt die Grünen gleich mit ein: »Ein völlig harmonisches Bündnis kann die erste grün-rote Koalition der Republik nicht werden ... Die SPD wird – schon aus banalen machtpolitischen Gründen – weiter daran arbeiten, auch mit der CDU koalitionsfähig zu sein. Wenn der Konflikt über den Bahnhof ein wenig in Vergessenheit geraten ist und die CDU ihren Erneuerungsprozess abgeschlossen hat, wird Kretschmann auch wieder über schwarz-grüne Koalitionen nachdenken.« (FAZ, 29.11.2011)

Strategische Schlussfolgerungen für die Protestbewegung

Obwohl es gelang, die politisch dezidierten Gegner von S21 bei der Volksabstimmung vom 27.11.2011 nochmals zu mobilisieren, muss das Protestbündnis für die Zukunft mehrere Veränderungen seiner sozialen Basis in Rechnung stellen: Teile der UnterstützerInnen haben sich nach erfolgreicher Abwahl und Auswechselung des politischen Personals vom Schlage eines Mappus wieder zurückgezogen. Ihnen ging es in erster Linie um mehr Bürgerbeteiligung und die »Genugtuung« durch die Wiedergewinnung und Respektierung ihres Citoyenstatus, und nicht unbedingt um »den Bahnhof«. Dazu gehört auch, dass die Grünen von einem Akteur innerhalb des Protestbündnisses nun als Regierungspartei zu einem »Ansprechpartner« innerhalb des politischen Feldes mit all seinen Spielregeln und Zwängen (Bourdieu) mutiert sind und somit in gewisser Weise als »Motor« ausfallen. Andererseits muss die SPD allererst als Ansprech- oder gar Bündnispartner für eine finanzmarktkritische Sicht auf Infrastruktur- und Großprojekte gewonnen werden und einem beharrlichen »zivilgesellschaftlichen Stellungskrieg« und politischen Druck von links ausgesetzt werden. Und mit entscheidend wird sein, die soziale Trägerschaft des Aktionsbündnisses auf gewerkschaftliche Akteure an den Schnittstellen von Ökonomie, Zivilgesellschaft und politischem Feld auszudehnen.

Befördert werden kann eine solche Erweiterung des sozialen Spektrums der Kritik am Großprojekt S21, wenn es dem Aktionsbündnis gelingt, erneut in der Öffentlichkeit Aufklärungs- und Lernprozesse über die Zusammenhänge von finanzmarktkapitalistischer Deformierung städtischer Räume, daher der Notwendigkeit infrastruktureller Mitbestimmung sowie der gesetzlichen wie verfahrenstechnischen Anerkennung erweiterter demokratischer Bürgerentscheide zu initiieren. Dem kommen die Krisenerscheinungen gegenwärtiger Urbanität sogar entgegen, indem sie Augen für die Notwendigkeit eines anderen Zusammenhangs von Arbeiten, sozial-kultureller Infrastruktur und individueller Reproduktion vor Augen führen – mithin eine bewusste »Ökonomie des ganzen Hauses«: »Wie vielen Stimmberechtigten war klar, dass sie mit ihrer Zustimmung zum Weiterbau Stuttgarts Bürgern eine Riesenbaustelle von zehnjähriger Dauer bescheren? Von einer neuen City, die auf dem frei werdenden Gleisareal entstehen wird, schwärmen Politiker, Investoren und Städtebauer, die S21 bejahen. Doch was bisher an Plänen und Animationen vorliegt, ist von ebenso bemerkenswerter Vagheit wie aufschlussreicher Monumentalität. Hotel-, Büro-, Gewerbe- und Wohnblöcke – was auf dem Weg vom Computer in die Realität aus solchen Projekten wird, die Leerflächen von zuvor ungekannten Ausmaßen füllen, bezeugt Berlins Potsdamer Platz. Von seiner prognostizierten Urbanität blieb nichts außer hektischer Rotation von Angestellten, Hotelgästen und Touristen zwischen öden Zyklopen in Architekturmoden von gestern.« (Dieter Bartetzko, FAZ, 29.11.2011)

Ein Stück Deutungshoheit für solche Zusammenhänge können die Gegner von S21 in der aufklärerischen Bearbeitung und öffentlichkeitswirksamen Kommunikation der noch ausstehenden und ungelöst lauernden Probleme des Großprojektes gewinnen:

  • das absehbare Überschreiten des Finanzierungsrahmens von 4,5 Mrd. wie bei vergleichbaren Bauvorhaben beim Berliner Hauptbahnhof oder der Hamburger Elbphilharmonie;
  • die angesichts der noch nicht planfestgestellten Anbindung des Stuttgarter Flughafens an S21 drohenden Mehrkosten;
  • die »Sprechklausel« im Finanzierungsvertrag zwischen DB, Flughafen AG, Stadt Stuttgart, Land und Bund wird daher absehbar zur Anwendung kommen müssen und kann somit von der Protestbewegung auf vergleichbare Weise wie die Geißler-Schlichtung politisiert werden;
  • der dann drohende Elitediskurs von »Haushaltsexperten« kann aufgebrochen, in öffentlich zu führende »Haushaltsberatungen« transformiert und darüber Gemeinden im Rheintal und in der Rhein-Neckar-Region einbezogen werden, die mit ihren auffallend überdurchschnittlich hohen Voten für das S21-Kündigungsgesetz für eine veränderte Finanzmittelverteilung zum dringend erforderlichen Ausbau der Schienenverbindungen in ihren Regionen, von alternativen Trassenführungen und Lärmschutz plädierten;
  • darin liegt auch die Chance, das Aktionsbündnis über Stuttgart hinaus sozialstrukturell zu erweitern.
  • der bislang rechtlich ungeklärte Anspruch der Privatbahnvertretern auf die Nutzung des bestehenden oberirdischen Gleisfeldes,
  • die Verpflichtung aus der Schlichtung, die Bahnsteige des tiefergelegten, aber dafür abschüssigen Bahnhofes behindertengerecht zu gestalten,
  • die Ausgestaltung der in der Schlichtung vereinbarten gemeinsamen Stiftungsträgerschaft, über die das freiwerdende städtische Baugelände der Immobilienspekulation entzogen und unter ökologische, soziale, familienfreundliche und städtebauliche Planauflagen gestellt werden soll.

Nach der Volksentscheidung vom 27.11. heißt vor neuen Volksentscheiden. Grün-Rot im Ländle ist beharrlich an ihr Vorhaben zu erinnern, auf kommunaler Ebene die Quoren für Bürgerbegehren und -entscheide zu senken und durch die Schaffung der Stelle einer Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Lobbyismus, Basta-Kultur und »postdemokratische Verfahrensweisen« aus 15 Jahren S21weiter zu überwinden. Die Nagelprobe wäre allerdings eine gesetzgeberische Veränderung, dass Infrastrukturprojekte und ihre »Legitimation durch Planfeststellungsverfahren« in Zukunft nicht mehr im Rahmen eines bloßen Verwaltungsverfahrens verbleiben, sondern Fachplanungsverfahren als politische Gestaltungsentscheidungen anerkannt werden. Die Kernfragen solcher Projekte müssen in einem demokratischen Willensbildungsprozess entschieden werden können, erst dann sind die BürgerInnen nicht nur als Betroffene, sondern wirklich als Entscheider einbezogen – und mit solch selbstbewussten BürgerInnen auch das Vermächtnis eines berühmten Sohnes der Schwabenmetropole eingelöst, welches als Schriftzug den bestehenden Kopfbahnhof (noch) ziert: »...dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist...« (G.W.F. Hegel)

Die Protestbewegung gegen S21 hat also alle Chancen, in eine neue Runde zu gehen – in Richtung der vielfältigen sozialen Bewegungen und Protesten um ein »Recht auf Stadt«.

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*Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus.