Nein zu Räumungen und Polizeigewalt!

Von Angela Davis

20.11.2011 / Aus: Freitag vom 16.11.2011

Gerade jetzt sollten sich die Occupy-Aktivisten nicht abdrängen lassen. Sie müssen den 99 Prozent mit ihrem Beispiel zeigen, wie man zusammenfinden kann

Als am 17. September 2011 die Occupy-Wall-Street-Bewegung aufkam, dachte ich gerade über meine Worte für die anstehende Konferenz der Internationalen Herbert-Marcuse-Gesellschaft nach. Als die Konferenz am 27. Oktober an der Universität von Pennsylvania begann, hatte sich das Zeltlager im Zucotti Park bereits etabliert und in Hunderten Städten der USA waren ähnliche Camps entstanden. Am Eröffnungstag der Marcuse-Konferenz standen auf dem Platz vor dem Rathaus von Philadelphia über 300 Zelte. Das Thema der Konferenz – „Kritische Verweigerungen“ – sollte uns ursprünglich zu Gedanken über die verschiedenen Wege anregen, auf denen Marcuses philosophische Theorien uns in Richtung einer kritischen politischen Praxis drängen, die zwar philosophisch begründet ist, aber in ihrem Bestreben zur Umgestaltung der Gesellschaft über die Gefilde hinausweist, die für die Philosophie als schicklich gelten.


Während wir also darauf vorbereitet waren, die Verbindung zwischen Marcuses philosophischen Konzepten und ihrem Einfluss auf die sozialen Bewegungen der sechziger Jahre zu erörtern, überraschte uns die glückliche Nähe des Themas zu der im Entstehen begriffenen Occupy-Bewegung. Während die Redner in Philadelphia eintrafen, brachten wir immer wieder unsere Begeisterung über die inhaltliche Nähe zwischen den Belagerungen an der Wall Street und unserem Konferenzthema zum Ausdruck. Wir sahen darin einen eindrücklichen Beleg für die Relevanz von Herbert Marcuses Werk für das 21. Jahrhundert.

Ich weiß nicht, ob einer von uns hätte vorhersagen können, dass am zweiten Konferenztag das Publikum im Plenarsaal von diesem historischen Zusammentreffen so mitgerissen würde, dass wir uns beinahe vollzählig einem nächtlichen Marsch anschlossen, der sich den Weg durch die Straßen Philadelphias hin zu den Zelten vor dem Rathaus bahnte.
Dort stellte ich – mit Hilfe des menschlichen Mikrofons – laut Überlegungen über die Unterschiede zwischen den sozialen Bewegungen, die wir in den zurückliegenden Jahrzehnten kennengelernt haben und dieser neu gewachsenen Gemeinschaft des Widerstands an.

Obszönes Missverhältnis

In der Vergangenheit richteten sich die meisten Bewegungen an bestimmte Gruppen – Arbeiter, Studenten, Schwarze, Latinos, Frauen, Lesben und Schwule, Bisexuelle, Indigene – oder kristallisierten sich um bestimmte Themen wie Krieg, Umwelt, Nahrung, Wasser oder Palästina. Um die mit diesen Themen verbundenen Gruppen zusammenzubringen, mussten wir in schwierige Prozesse der Koalitionsbildung eintreten.

Diese neue Occupy-Bewegung dachte sich in ihrer offenkundig anderen Struktur von Anfang an als die breiteste Gemeinschaft des Widerstands – die 99 Prozent gegenüber dem einen Prozent. So ist eine Bewegung enrtstanden, die von Beginn an gegen die wohlhabendsten Zweige der Gesellschaft aufgestellt war, gegen die großen Banken und Finanzinstitute, gegen Unternehmenschefs, deren Einkommen in obszönem Missverhältnis zu dem der 99 Prozent steht.

So lässt sich überzeugend darlegen, dass die 99 Prozent dazu übergehen sollten, die Bedingungen für diejenigen zu verbessern, die in dieser möglichen Gemeinschaft des Widerstandes ganz unten stehen. Das bedeutet, im Auftrag derjenigen zu handeln, die am meisten unter der Tyrannei des einen Prozents zu leiden haben. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen den Armut produzierenden Auswirkungen des globalen Kapitalismus und den in die Höhe schnellenden Haftraten in den USA. Haftentlassungen und die Abschaffung der Haft als am häufigsten angewandte Strafe könnten uns helfen, unsere Gemeinden wieder zu beleben und Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungsbau, Hoffnung, Gerechtigkeit, Kreativität und Freiheit zu fördern.

Auf uns selbst warten

Mit der Entscheidung, Widerstand zu leisten, geht eine große Verantwortung einher. Wir sagen Nein zur Wall Street, den großen Banken, den Managern, die Millionen Dollar im Jahr verdienen. Wir sagen Nein dazu, dass Studenten Schulden machen müssen. Wir lernen, Nein zu sagen zum globalen Kapitalismus und dem gefängnisindustriellen Komplex. Und wenn die Polizei in Portland, Oakland und nun auch New York die Aktivisten aus ihren Zelten zwingt, sagen wir Nein zu Räumungen und Polizeigewalt.

Die Occupy-Aktivisten machen sich Gedanken darüber, wie wir den Widerspruch gegen Rassismus, Ausbeutung der Lohnabhängigen, Homophobie, Xenophobie, die Diskriminierung von Behinderten, Gewalt gegen die Umwelt und Transphobie in den Widerstand der 99 Prozent eingliedern können. Selbstredend müssen wir bereit sein, gegen militärische Besatzung und Krieg einzutreten. Und wenn wir uns mit den 99 Prozent identifizieren, werden wir auch lernen müssen, uns eine neue Welt vorzustellen, in der Frieden nicht einfach die Abwesenheit von Krieg ist, sondern vielmehr kreative Umgestaltung der weltweiten sozialen Beziehungen.

Daher ist die drängendste Frage, die sich den Occupy-Aktivisten stellt, wie sich eine Einheit schaffen lässt, die die immensen Unterscheide unter den 99 Prozent respektiert und begrüßt. Wie können wir lernen, zusammen zu kommen? Dies können diejenigen der 99 Prozent, die in den Occupy-Zeltstädten leben, uns alle lehren. Wie können wir zu einer Einheit werden, die nicht vereinfacht und niemanden unterdrückt, sondern die komplex und emanzipatorisch ist und die – wie June Jordan sagte – erkennt, dass „wir diejenigen sind, auf die wir gewartet haben“?

Übersetzung: Zilla Hofman