Der amerikanische Patient

GEOPOLITIK UND FINANZKRISE-Die USA sind viel zu verschuldet, um allein die Märkte zu retten. Das Rezept: Die Verluste werden globalisiert

05.10.2008 / Von Elmar Altvater, Freitag 40/2008

Die schönen Zeiten vom Mai 2003, als der Präsident der USA mit stolz geschwellter Brust der Nation sein "Mission accomplished" mitteilen konnte, sind vorbei. Am Ende seiner Amtszeit erblickt man auf dem Fernsehschirm einen zerknirschten Bush, einen Finanzminister Paulson, der auf die Knie fällt, und eine kopflose Führungsriege. Die Mission des amerikanischen Empire erfüllt sich 2008. Der Niedergang trägt viele Namen: Bush, Guántanamo, Falludscha und Abu Ghraib, Fanny und Freddy, AIG und Lehman Brothers. Kurz: die Jahrhundertkrise. Der Machtkomplex von Weißem Haus, texanischer Ölindustrie und Wall Street bröckelt. Die Welt verändert sich. Geopolitische Macht wird wieder entdeckt.

Die neokonservative Bush-Entourage hat Menschen, die nachdenken, immer verachtet und bedenkenlos den Macher herausgekehrt. Fehler konnten die Neocons mit ihrer Macht im Nachheinein korrigieren und die kostspieligen Folgen andere ausbaden lassen. Doch nun müssen sie lernen, welches die Machtbasis der US-Hegemonie in der globalisierten Welt war (und ist): Nicht nur die unbestreitbar überragende Militärmaschine - "it´s the economy, stupid".

Mit der Militärmacht muss man umgehen können. Bush kann es nicht, er hinterlässt im Irak eine menschliche Tragödie und ein politisches Desaster, ebenso wie in Afghanistan. In Guantánomo sind der Rechtsstaat und eine rechtlich geregelte internationale Ordnung zu Grabe getragen worden. Aserbeidschan hat schon Konsequenzen aus der Unfähigkeit der Hegemonialmacht USA gezogen, willigen Juniorpartnern wie in Georgien Schutz zu gewähren, und wärmt die erkalteten Beziehungen mit Russland auf. "Antiamerikanismus" grassiert überall in der Welt, es handelt sich um eine tiefe Abneigung gegen die neokonservative Brachialpolitik der Bush-Leute, eine Abneigung, die viele US-Bürger teilen.

Entscheidend aber ist, dass die Neocons die Ökonomie grandios in die schwerste Finanzkrise seit 100 Jahren geführt haben, in einen Abgrund, der heute tief und breit klafft. Zunächst sah es so aus, als hätten sie eine Wunderwaffe gegen die Stagnationstendenzen des Monopolkapitals gefunden - so der Titel eines einflussreichen Buches von Paul Baran und Paul Sweezy aus den sechziger Jahren. Sie gingen daran, machtvoll die Finanzmärkte zu deregulieren, um die private Rendite in astronomische Höhen zu jagen. Es begann in den Siebzigern, als die Wechselkurse freigegeben wurden und nun mit den Kursschwankungen spekuliert werden konnte. Die Kurse wurden nicht mehr politisch von Zentralbanken, Regierungen oder dem IWF festgelegt, sondern den "Märkten" überlassen - sprich: privaten Banken, Fonds, Versicherungen und Währungsabteilungen der transnationalen Konzerne.

Das neoliberale Zeitalter hatte Margret Thatcher mit dem "big bang", der Liberalisierung der Finanzmärkte, triumphal eingeleitet. Nun lag auch die Bildung der Zinsen und Renditen auf Finanzanlagen in der Hand von privaten Konzernen. Regierungen und Zentralbanken verloren die "Zinssouveränität", die so wichtig ist für eine unabhängige und beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik.

Kein psychischer Defekt

Auf liberalisierten und mehr und mehr globalisierten Finanzmärkten mussten sich fortan Banken und Fonds in der Konkurrenz wechselseitig übertrumpfen, um Anleger zu locken oder bei der Stange zu halten. Sie schraubten so die auf Finanzanlagen erzielbaren Erträge im Vergleich zu realen Gewinnen bedenkenlos in die Höhe. Die Konkurrenz verlangte es. Die inzwischen weithin beklagte, um sich greifende Gier von Managern war kein psychischer Defekt, sondern hatte systemische Ursachen. Der Kapitalismus verwandelte sich in den "finanzgetriebenen" Kapitalismus. Die Profitrate auf industrielles Kapital sank in den vergangenen Jahrzehnten, wie alle empirischen Studien zeigen, und die Rendite der Finanzanlagen war hoch. Wer weniger als 20 Prozent auf das Eigenkapital aus Investitionen herausholte, galt bis zum Ausbruch der derzeitigen Krise als Versager. Erst 2008 gingen die Renditen nach Auskunft der Deutschen Bundesbank von 20,7 Prozent (2007) im Durchschnitt auf 3,3 Prozent (1. Halbjahr 2008) zurück

Finanzanlagen sind Forderungen (claims), die bedient werden müssen, und je höher die Renditen und je umfangreicher die Forderungen, auf die sie zu zahlen sind, desto mehr Erträge müssen aus dem global produzierten Sozialprodukt zum Finanzsektor fließen.

In dessen Zentrum liegt die Wallstreet oder - wie manche heute sagen - "Fraudstreet" (Straße der Abzocker), in der immer neue Anlagestrategien entwickelt, komplex strukturierte Papiere erfunden und bisher nicht gekannte Institutionen (wie Zweckgesellschaften) gegründet wurden, um stets neue Kunden in ihren Finanzbann zu ziehen und mit immer neuen Methoden möglichst hohe Renditen in den Finanzsektor zu lenken. Woher? Aus der realen Wirtschaft. Doch deren Überschüsse - man kann es an den realen Wachstumsraten erkennen - reichten an die hohen Renditen nicht heran und daher zur Befriedigung der "Gier" nicht aus.

Denn es werden mit den vom Bankensektor finanzierten Investitionen keine neuen Werte (wie in Omas Nähmaschinenkapitalismus) geschaffen, sondern bereits erzeugte Werte mit Hilfe der strukturierten Finanzprodukte zum Finanzsektor umverteilt. So geschah es in der frühindustriellen, kolonialen Epoche, wie Rosa Luxemburg scharfsinnig zeigte: "Akkumulation durch Enteignung".

Irgendwann aber reicht die Substanz nicht mehr zur Befriedigung der immer größer werdenden claims auf den globalen Finanzmärkten. Zwar werden immer neue Anlagefelder gesucht und diese mit immer neuen Instrumenten "beackert", etwa mit "Credit Default Swaps" (CDS), deren Markt so groß ist wie das gesamte globale Sozialprodukt, etwa 62.000 Milliarden Dollar.

Jenseits von Recht und Ordnung

Den Wertverlust erträgt niemand gern und freiwillig, zumal es sich dabei nicht um "peanuts" handelt. Also nutzen die Anleger und neokonservativen Regierenden nun die staatliche Macht - zur Sozialisierung der Verluste. Auch fundamentalistische Marktverehrer entdecken, ach, in ihrer Brust einen Rest von Staatssozialismus.

Niemand kennt freilich die noch anstehenden Wertberichtigungen nach unten genau. Nur kann man sich darauf verlassen, dass die private Klientel der Geldvermögensbesitzer von den Regierungen in Washington, London oder Berlin aus dem Schlamassel "herausgehauen" werden soll (bail out) - zu Lasten derjenigen, die nicht über Geldvermögen verfügen.

Die New-Economy-Krise vor acht Jahren wurde erst nach Abschreibungen von einigen 1.000 Milliarden Dollar überwunden - beim jetzigen Crash sind ähnliche Beträge - wenn nicht wesentlich mehr - fällig. Erstens ist der US-Staat heute sehr viel höher als vor acht Jahren verschuldet, und jedes Hilfspaket mit Hunderten von Milliarden US-Dollar sattelt neue Schulden auf. Zwar sind die Verbindlichkeiten der USA, gemessen an den europäischen Maastricht-Kriterien, noch gering, doch dies kann sich schnell ändern. Und dann ist Washington unter dem Schuldenjoch möglicherweise so gelähmt wie Japan in den frühen neunziger Jahren, als der Staat das japanische Bankensystem heraushauen musste.

Zweitens sind heute viele Länder aller Himmelsrichtungen in die Krisenabläufe verwickelt und von den Krisenfolgen betroffen. Die USA haben nach Jahrzehnten der Marktvergötzung die politische Macht wiederentdeckt und greifen nun politisch regulierend in das "freie Spiel der Marktkräfte" ein. Die Kosten der Entwertung des Kapitals sollen den amerikanischen Steuerzahlern, aber nicht weniger dem Rest der Welt aufgebürdet werden. Das hat sogar den devoten Finanzminister Steinbrück erbost, als ob er bei der teuren Bankensanierung in Deutschland den Populisten geben wolle. Er hat sogar die Neuigkeit parat, dass Marx´ Krisentheorie doch nicht ganz falsch sei.

Finanzminister Paulson wollte die 700 Milliarden Dollar zunächst ohne jede parlamentarische Kontrolle und am Rechnungshof vorbei einsetzen - allein der von ihm offenbar unterstellten "Logik des Geldes" und der Macht folgend. Die Krise sollte dadurch gelöst werden, dass die Kosten des Rettungspakets dem Steuern zahlenden US-Bürger in Rechnung gestellt werden, ohne dass der oder seine Repräsentanten hätten hineinreden können. Eine Bankensanierung jenseits von Recht und Ordnung, quasi ein finanzielles Guantánamo. Der Kongress hat aber den Ex-Goldman-Sachs-Manager Paulson, den Bush als seinen "Finanzgeneral" lobt, ausgebremst. Die Abgeordneten fürchteten den Zorn ihrer Wähler. Sie wollen die Steuerzahler so weitgehend wie möglich schonen, vier Wochen vor der Präsidentenwahl ist das verständlich. Wer trägt dann die Verluste der Spekulationsbonanza? Sie können nur externalisiert, also ins Ausland verlagert werden, indem der US-Dollar abgewertet wird. Es ist anzunehmen, dass genau dies geschehen wird, jedoch nicht vor den Wahlen am 4. November (eine Abwertung macht sich nicht gut), aber doch in der lausigen Übergangszeit bis zur Amtseinführung des neuen Präsidenten im Januar 2009. Politik in Zeiten der Finanzkrise ist Geopolitik.

Eine Dollarabwertung würde die zum Teil beträchtlichen Dollar-Guthaben in Asien, in Europa und im Mittleren Osten, in Russland und Lateinamerika entwerten. Folglich werden Regierungen mit hohen Dollar-Guthaben auf einen Vermögenstausch drängen und ihre von Wertverlust bedrohten Dollardepots in reale Werte transferieren wollen. Das haben die USA bislang unterbunden. weder durfte China die Ölgesellschaft Unocal erwerben noch die Dubai Port Authority die Häfen von New York und Miami. Gut möglich, dass sich diese Reglementierung nicht mehr halten lässt. China wird verständlicherweise alles daran setzen, den Wert seiner Dollar-Bestände in Höhe von etwa 1.800 Milliarden zu sichern.

Was folgt dieser vernichtenden Krise?

Im Kern ist die schwere Krise ein Mechanismus der gigantischen Entwertung von Kapital, sozusagen ein gewaltiges globales Potlatch, wie es dann und wann von den Indios am kanadischen Pazifik zur Vernichtung von Vermögen gefeiert wird. Sie wollen dadurch gewährleisten, dass niemand zu reich wird und mit privatem Reichtum die Gemeinschaft spaltet. Nach dem Potlatch geht das Leben weiter. Die Finanzkrise ist jedoch keine bewusste gesellschaftliche Aktion - sie ist als ein "Weltmarktungewitter" (Marx) über die Wallstreet und ihre Nebengassen in aller Welt hinweggefegt.

Was folgt dieser vernichtenden Krise? Auf den Reinfall mit der New Economy im Jahr 2000 folgte der Immobilienboom mit Subprime-Verbriefungen und abenteuerlichen Finanzprodukten, mit denen einige Jahre herrliche Geschäfte gemacht werden konnten - bis zum größten ökonomischen Zusammenbruch seit 100 Jahre. Brachliegendes Kapital gibt es auch weiterhin, trotz Krise. Es befindet sich auf dem Sprung in jene Anlagen, die heute und künftig Rendite bringen. Welche könnten das sein?

Rohstoffe, vorrangig Öl und Gas sowie Agro-Kraftstoffe aus Biomasse, sind erste Wahl. Ihre Preise dürften steigen, weil sie knapp werden, und die Nachfrage groß ist. Emissionszertifikate für Kohlendioxid gemäß Kyoto-Protokoll versprechen gute Renditen. Oder die privatisierten öffentlichen Güter wie die Bahn und der militärisch-industrielle und Weltraum-Komplex. Längst haben das die Anleger ins Visier genommen. Keine Krise dauert ewig. Nur die Zeit der Traum-Renditen von mehr als 20 Prozent dürfte für lange Zeit vorbei sein.