Absturz ins Bodenlose

FINANZPLATZ LONDON - Der wichtigste Immobilienmarkt der EU schlingert heftig. Die Filetstücke abfischen und das Risiko dem Staat überlassen, heißt die Parole

05.10.2008 / Von Michael R. Krätke, Freitag 40/2008


Nun ist auch die hausgemachte britische Immobilienblase geplatzt. Die Briten machen mehrheitlich die regierende Labour Party dafür verantwortlich, dass alle Zeichen auf Sturm stehen. Die hatte ihnen schließlich immerwährende Prosperität versprochen. Gordon Brown überlebte den Labour-Parteitag in der Vorwoche wohl nur, weil er in starken Worten versprach, die "City" an die Kandare zu nehmen. Tatsächlich ist der Finanzplatz London längst nicht so geschwächt wie die Wall Street, aber gezeichnet und geschockt auf jeden Fall.

Mit dem Absturz der Northern Rock Bank, dem fünftgrößten britischen Hypothekenfinanzierer, begann der Tanz im Herbst 2007. Die Bilder panischer Klienten gingen um die Welt. Im Februar wurde die Bank schließlich für 33 Milliarden Pfund verstaatlicht. Vor Tagen erst geriet die Nr. 1 der britischen Hypothekenbanken ins Schlingern: Nur dank einer gewagten Übernahme durch ihren Rivalen Lloyds TB konnte die Halifax Bank of Scotland (HBOS) vor dem Bankrott gerettet werden, wozu kurzerhand das britische Kartellrecht außer Kraft gesetzt war. HBOS und Lloyds kontrollieren jetzt zusammen 30 Prozent des Hypothekenmarktes auf der Insel, was zu anderen Zeiten ein energisches Veto des Kartellamts heraufbeschworen hätte.

Der britische Immobilienmarkt - es handelt sich um den wichtigsten in der EU - steckt in einer so selbst verschuldeten wie logischen Krise. Mehr als 73 Prozent der Briten leben in eigenen vier Wänden. Vom Immobilienboom der vergangenen Jahre haben auch Normalverdiener in Massen profitiert, weil ihnen extrem günstige Hypothekenkredite zur Verfügung standen. So schossen die Immobilienpreise himmelwärts (um bis zu 12,4 Prozent pro Jahr), es wurde gebaut wie verrückt. Viele Leute kauften Häuser und Wohnungen, um sie zu vermieten und nach einer Weile mit Gewinn weiter zu verkaufen, spekulative Überteuerungen von bis zu 40 Prozent waren keine Seltenheit.

So gut wie jedes Haus ließ sich zunächst mit Gewinn verkaufen, zweite und dritte Hypotheken auf dieselbe Immobilie waren leicht zu haben. Dazu kam der Boom bei Kreditkarten und Autokäufen auf Bankenvorschuss. Auf diese Weise schafften es die Briten bis zur höchsten Privatverschuldung in der EU, sie brachten es auf sagenhafte 1.364 Milliarden Pfund und lagen damit über dem Bruttoinlandsprodukt.

Wie kaum anders zu erwarten, ist die Blase geplatzt, seit Monaten fallen die Grundstücks- und Gebäudepreise von Tag zu Tag, oft ins Bodenlose. Seit August beschleunigte sich der Wertverfall auf über sechs Prozent - seither wissen Millionen von Briten, dass ihre Häuser in absehbarer Zeit weniger wert sein werden als die Hypothekenschulden, die darauf lasten. Für immer mehr Leute endet der Traum vom schnellen, mühelosen Reichtum in der Schuldenfalle, die Zahl der Pfändungen und Zwangsverkäufe ist seit Januar um ein Drittel gestiegen. Auch die Zinssenkungen der Bank oft England lassen Haus- und Wohnungseigentümer keineswegs aufatmen, denn die Privatbanken dachten nicht daran, den Zinsnachlass weiter zu geben, im Gegenteil: Gerade Hypothekenzinsen wurden wieder und wieder angehoben - folglich ist die Refinanzierung der kurzfristigen Hypotheken völlig zusammengebrochen. Etliche Hypothekenbanken sind schon abgestürzt, weitere werden folgen.

Dank der flauen Konjunktur feiern deutsche Discounter wie Aldi und Lidl Umsatzrekorde auf der Insel, weil die Mittelschicht in Scharen zu ihnen überläuft, die Energie- sowie Lebensmittelpreise explodieren und den Privatkonsum landesweit abschnüren. So steigt wieder die Arbeitslosigkeit im Vereinigten Königreich, die offiziell bei 5,5 Prozent (1, 8 Millionen) und somit auf dem höchsten Stand seit 1999 liegt. Prekäre Beschäftigungen erleben einen Aufschwung im Abschwung.

Allerdings dürfte die Londoner City von der Krachserie an der Wall Street profitieren, verteidigt sie doch in erbitterter Rivalität mit den New Yorker Börsen erhebliche Standortvorteile, die Arbeitsplatzverluste vorerst in Grenzen halten. Von momentan etwa 320.000 Jobs in der City dürften in den nächsten Monaten höchstens 10.000 abgebaut werden, schätzt das renommierte International Financial Services Institute in London. Der Finanzsektor ist immerhin für fast zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts zuständig. Aus der Industriemacht Großbritannien ist längst ein ambitionierter Dienstleister geworden, dessen Exporte jährlich um gut drei Prozent nach oben gehen.

Man durchlaufe die schlimmste Krise seit 60 Jahren, insistiert Schatzkanzler Alistair Darling. Sogar Konjunkturspritzen sind im Heimatland des John Maynard Keynes wieder vorstellbar. Doch gibt es dafür nur wenig Spielraum, obwohl durch den Ölpreis zusätzliche Milliarden in die Staatskassen geflossen sind. Die Steuersenkungsorgie, mit der Tony Blair die britischen Unternehmen beglückt hat, rächt sich jetzt. Schon im April haben die Briten das vorgemacht, was Georg Bush als Retter der Finanzwelt derzeit kopiert: Mit Staatsanleihen von fast 100 Milliarden Pfund hat die Bank of England den britischen Hypothekenbanken faule Hypothekenkredite abgekauft, doch lassen sich derartige Interventionen nicht beliebig wiederholen.

Im Moment freilich musste die britische Regierung erneut einspringen und die zweite Hypothekenbank verstaatlichen. Nach hohen Verlusten durch geplatzte Immobilienkredite und einen dramatischen Kursverfall begann bei dem auf riskante Hypothekformen spezialisierten Institut Bradford & Bingley (B&B) der Run der Sparer auf ihre Konten. Da kein Käufer in Sicht schien, konnte das britische Schatzamt gar nicht anders, als die B&B zu verstaatlichen. Der spanische Bankenriese Santander - vom britischen Staat mit fast 20 Milliarden Pfund gelockt - übernimmt das Filialnetz und das Kleinsparergeschäft. Nach dem Crash die Filetstücke herausfischen und das Risiko dem Staat überlassen, heißt die Parole.