Kinderarmut in Deutschland

Immer mehr Kinder leben von Sozialhilfe

29.02.2008

Im Jahr 2006 lebten nach einer Studie des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe im Durchschnitt knapp 1,9 Millionen Kinder unter 15 Jahren in Deutschland in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft. Das sind rund 17 Prozent der 11,5 Millionen Kinder in Deutschland. Im vergangenen Jahr hatte die Zahl armer Kinder bei 16 Prozent gelegen.

Im Westen nahm die Zahl der von Sozialleistungen abhängigen Kinder demnach im vergangenen Jahr mit durchschnittlich elf Prozent stärker zu, als in den neuen Bundesländern (sieben Prozent). Den größten Armutszuwachs gab es in Baden-Württemberg (plus 13 Prozent) und Bayern (plus 12 Prozent).

"Trotz guter Konjunktur wächst die Kinderarmut in Deutschland. Familien mit Kindern tragen offensichtlich ein höheres Risiko für Armut", analysierte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider diese Zahlen.

Experten erklären sich den Anstieg damit, dass Hartz IV ein erhebliches Armutsrisiko darstelle. „Kinder sind die Hauptleidtragenden“, sagte der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge der „Frankfurter Rundschau“. Die konjunkturelle Belebung des Arbeitsmarkts gehe vor allem an alleinerziehenden Müttern vorbei, weil Arbeitgeber an deren flexiblen Einsatz zweifelten. Auch nach Ansicht des Deutschen Gewerkschaftsbunds erhöht Hartz IV die Gefahr, dass betroffene Familien in die Armut abrutschen.

Seit der Einführung der Hartz-IVGesetzgebung hat sich der Anteil der Kinder, die von Sozialgeld leben müssen, verdoppelt. Immer mehr Kinder müssen auf Taschengeld, Freizeit- und Sportangebote verzichten. Entsprechend überproportional hat sich die Zahl der Anträge, die das Deutsche Kinderhilfswerk über den Kindernothilfefonds für entsprechende Notlagen erreichen, erhöht.

Armut hat erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Kinder: Immer häufiger bleiben sie in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und ausreichende soziale Unterstützung. Oft ernähren sie sich mangelhaft und sind bei schlechter Gesundheit. Zudem sind gerade die vielfach fehlenden Bildungschancen ein Problem, das „Armutskarrieren“ für die Zukunft vorprogrammiert. Außerdem gehen die Potenziale dieser Kinder und Jugendlichen verloren. Das wird mittelfristig gravierende Auswirkungen auf die volkswirtschaftliche Leistung unseres Landes haben. Deutlich wird – Kinderarmut bedeutet viel mehr, als wenig Geld zu haben. So wie die unterschiedlichen Lebenslagen ineinander greifen, muss auch die politische Strategie aufgestellt sein: Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sind ebenso zu berücksichtigen, wie Familien- und Bildungspolitik, Gesundheits- und Sozialpolitik sowie Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik.

Trotz der wiederholten Hinweise des Bundesverfassungsgerichts ist die Realität in Deutschland weit von einer Verteilungsgerechtigkeit entfernt. Selbst ein Familienbruttoeinkommen von 30.000 Euro jährlich reicht bei zwei oder mehr Kindern im Haushalt heute nicht aus, um die Familie aus eigener Kraft zu versorgen. Die Familie bleibt vielmehr unterhalb des steuerlichen Existenzminimums. Worauf es dringend ankommt ist also eine Familienpolitik, welche es Eltern ermöglicht, ihre Kinder aus dem selbst erwirtschafteten Einkommen in Eigenverantwortung aufzuziehen.

Neben dem Problem der Familienarmut trotz Erwerbstätigkeit („Working poor“) muss unsere Gesellschaft, in der sich etwa die Arbeitslosigkeit gering qualifizierter Personen zur Dauerarbeitslosigkeit verfestigt, Lösungen für Kinder in Familien ohne Familieneinkommen finden. Die Reduzierung einer Kinderpolitik auf die Aspekte der Erziehung, der Betreuung und des Schutzes von Kindern widerspricht einem modernen Verständnis vom Kind, das es als eigenständige Persönlichkeit mit individuellen Bedürfnissen sieht. Mit einer Kindergrundsicherung würden sich die Transferleistungen des Staates auf die Kinder in Armut konzentrieren und nicht stigmatisierend wirken.

Zur sozialpolitischen Wirkung einer eigenständigen Existenzsicherung für Kinder zählt ferner, dass keine Familie auf Hartz IV angewiesen ist, nur weil dort minderjährige Kinder leben oder weil ein weiteres Kind geboren wird. Ferner könnten die Leistungen zielgerichtet gesteuert werden. Zu denken ist hier an Sonderbedarfe, die vor Hartz IV noch im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) festgeschrieben waren, wie etwa der Schulbeginn, der eine entsprechende Einmalzahlung auslösen könnte oder eine warme Mahlzeit, die alternativ als Sachleistung über die Schulen die Kinder direkt erreicht.

Wie wenig das derzeitige Modell der aus dem Erwachsenenregelsatz abgeleitete Kinderregelsatz den Grundbedarfen von Heranwachsenden Rechnung trägt zeigt sich, wenn man sich etwa vergegenwärtigt, dass einem Kind 2,55¤ pro Tag für Verpflegung zur Verfügung stehen. Damit ist keine ausreichende Deckung des täglichen Bedarfes möglich und schon gar keine ausgewogene, gesunde Ernährung.

Kinder dieses Alters wollen lernen, ausprobieren und experimentieren, sind von sich aus neugierig und wissbegierig. Nie wieder lernen Menschen so viel und mit so großem Spaß wie in den ersten Lebensjahren. Dabei kann eine gute Bildung schon für kleine Kinder die Chancengleichheit in unserer Gesellschaft fördern. Denn durch eine frühe Förderung können herkunftsbedingte und soziale Unterschiede am besten ausgeglichen werden. Demgegenüber ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland zu wenig im Bereich der vorschulischen Bildung investiert. Statt der von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geforderten Mindestinvestition von 1 % des Bruttoinlandsproduktes wird in diesem Bereich bei sinkender Tendenz lediglich 0,66 % investiert.

Der 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt zutreffend fest, dass Vorschulkinder ohne deutschen Pass überproportional von Einkommensarmut betroffen sind: „Die Armutsquote ist nach den Ergebnissen der Studie des ISS zur Armut im Vorschulalter bei ihnen mit über 40% mehr als doppelt so hoch wie bei den deutschen Kindern.“

Erschwerend kommt hinzu, dass viele (insbesondere türkische) Migrantenfamilien schlechtere Wohnbedingungen als Deutsche haben. Für die Kinder bedeutet dies geringe Rückzugsmöglichkeiten und schlechte Lernbedingungen.

Im Bereich der schulischen Bildung muss festgestellt werden, dass in kaum einem der anderen Industriestaaten Migrantenkinder so schlechte Bildungschancen wie in Deutschland haben. Besonders schwierig ist die Situation für Flüchtlingskinder, die in mehreren Bundesländern von der Schulpflicht ausgenommen sind und darüber hinaus keinen rechtlichen Zugang zu Ausbildung und Arbeit und damit keine berufliche Perspektive haben. Die OECD hat zudem festgestellt, dass in Ländern mit klar strukturierten Sprachprogrammen der Leistungsunterschied zwischen Kindern mit und Kindern ohne Migrationshintergrund geringer ausfällt.

Sprachförderung muss so früh wie möglich, d.h.spätestens in Kindertagesstätten, einsetzen. Da die Sprachkompetenz der Familien, insbesondere die der Mütter, eine zentrale Rolle spielt, sollten die Familien in die Sprachförderprogramme einbezogen werden. Ein Schlüssel für die soziale Integration und zur Vermeidung von Ausgrenzung ist zudem die gezielte Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten für Kinder mit Migrationshintergrund.

Armut und gesundheitliche Risikofaktoren gehen Hand in Hand. Etwa eine deutlich höhere postnatale Säuglingssterblichkeit als in den oberen sozialen Schichten, eine zweimal höhere Mortalitätsrate durch Unfälle als bei Kindern aus privilegierteren Schichten, ein sehr viel häufigeres Auftreten akuter Erkrankungen und eine höhere Anfälligkeit für chronische Erkrankungen sind in den sogeannten "Unterschichten" festzustellen.