Zwischenbilanz: Griechenland vor der "Rettung"?

07.09.2017 / Björn Radke und Axel Troost

Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf www.sozialismus.de

In Griechenland drängt ein neuer Akteur in die politische Arena. Gebildet werden soll ein starker Pol, der vor allem auf links orientierten Reformkräften basiert. Tonangebend ist die PASOK, die in den Jahren der Krise einen tiefen Abstieg in der Wählergunst erlebte. Etablieren will sich diese neue politische Kraft zwischen der Regierungspartei Bündnis der Radikalen Linken (SYRIZA) und der konservativen Nea Dimokratia (ND) – derzeit Griechenlands größte Oppositionspartei.

Der neue Akteur umfasst seiner Selbsteinschätzung nach verschiedene politische Strömungen: Das »Zentrum-Links« will bei den nächsten Parlamentswahlen zur größten Oppositionspartei aufsteigen. Bei den Parlamentswahlen im September 2015 haben SYRIZA und die ND gemeinsam 63,55% der Wählerstimmen für sich gewinnen können. Die einstige Volkspartei PASOK war von 42% (September 2009) auf 6,29% abgesackt.

Diesen Niedergang teilt die Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK) mit vielen Schwesterorganisationen der europäischen Sozialdemokratie. Der Grund: Die einst mächtigen Volksparteien werden von größeren Teilen der Wahlbevölkerung für die unzureichende Zähmung des finanzdominierten Kapitalismus und die unsoziale Verteilung der Krisenlasten verantwortlich gemacht.

Aufstieg und Niedergang der PASOK sind unauflöslich mit der Papandreou-Dynastie verbunden. Andreas Papandreou gründete die Bewegung 1974 nach dem Sturz der Militärjunta und führte sie 1981 an die Macht. In den 1980er und 1990er Jahren war sie die dominierende politische Kraft in Griechenland. Die proklamierten grundlegenden Reformen der griechischen Gesellschaft kamen aber über Parteitagsbeschlüsse kaum hinaus.

Der im letzten Jahrzehnt erfolgte Umbau des politischen Systems in Griechenland war nur konsequent. Griechenland ist von einer korrupten und unfähigen Oberschicht – auch der PASOK – in eine desaströse Situation hineingesteuert worden. Die große Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007ff. deckte die Fehlentwicklungen brutal auf.

Die dem Klientelismus verfallenen Parteien haben die Gesellschaft an den Rand des Chaos regiert. Die EU-Fördermittel und die internationalen Kredite wurden nicht konstruktiv in neue Infrastruktur und einen Ausbau des gesellschaftlichen Kapitalstocks angelegt, sondern im Übermaß in die klientelistischen Netzwerke der jeweils gerade Regierenden verbraten. An all dem änderte der Regierungsturnus zwischen ND und PASOK nichts.

Ihren Niedergang durchlebten die griechischen Sozialisten nach dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahre 2010 unter Jorgos Papandreou, dem Sohn des Parteigründers. Der damalige Premier beschwor 2010 die Mythologie des Landes, um seinen Landsleuten den Ernst der Lage zu erklären. Griechenland, so Papandreou, stehe am Beginn einer neuen »Odyssee«, die es aber bestehen werde: »Wir kennen den Weg nach Ithaka.«

Dieser Vergleich mit der Irrfahrt des Odysseus bestärkte die Zweifel, ob der von der sozialistischen Regierung eingeschlagene Kurs zielstrebig nach Ithaka führt, und ob die bis dahin zu leistenden Anstrengungen und Opfer sozial gerecht verteilt sind. Als das Land in einer humanitären Katastrophe unter zugehen drohte, übernahm das Linksbündnis Syriza die Steuerung der Rettungsoperation.

Am Sonntag, dem 3. September 2017, hat die PASOK ihr 42-jähriges Bestehen gefeiert und zugleich die Neugründung propagiert. Anlässlich dieses Jubiläums hat Ministerpräsident Alexis Tsipras in einem Beitrag in der Zeitung »Documento« deren Geschichte und die ihres Gründers umrissen.

Tsipras beschreibt Andreas Papandreou als eine »charismatische Persönlichkeit«. Von Anfang an habe dieser Veränderungen angestrebt und »einen Bruch mit dem Establishment« durchsetzen wollen. Das amtierende Regierungsoberhaupt erinnert daran, dass Papandreou von seinen politischen Gegnern als »Populist« bezeichnet wurde. Jeder grundlegende Politikwechsel hängt daran, ob dieser Bruch mit den überlieferten Kräfteverhältnissen gelingt.

Man mag Tsipras und die Anti-Krisenpolitik entschieden ablehnen. Fest steht: Nach zwei Jahren Sanierungspolitik von Syriza geben die jüngsten Meldungen aus Athen Anlass zu Zuversicht. Die Wirtschaft wächst – das zweite Quartal in Folge. 2017 könnte zum Rekordjahr für den Tourismus werden. Athen holt sich erstmals seit 2014 wieder Geld am Kapitalmarkt. Das registriert man auch in Berlin. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der Tsipras am liebsten hätte scheitern sehen, ist die Griechen nicht losgeworden. In einem Jahr – im September 2018 – soll sich das Land wieder eigenständig am Kapitalmarkt refinanzieren – nach über acht Jahren Abhängigkeit von internationalen Kreditgebern.

Am 11. September werden die Vertreter der vier Gläubigerinstitutionen – EU-Kommission, Europäische Zentralbank, Euro-Rettungsfonds ESM und Internationaler Währungsfonds (IWF) – die dritte Prüfung im Rahmen des laufenden Rettungsprogramms einleiten. Nicht weniger als 113 Reform- und Sparvorgaben muss Athen erfüllen, damit das Land planmäßig in der zweiten Augusthälfte 2018 aus dem Programm entlassen werden kann.

Entgegen der immer wieder vorgetragenen Behauptung von einer Reformverweigerung gibt es nicht nur Anpassungen an die verminderten Handlungsspielräume, sondern gesellschaftliche Strukturveränderungen. Die Reformagenda, die Tsipras jetzt umsetzen muss, hat viele kontraproduktive Seiten. Vieles davon passt nicht zur Programmatik von Tsipras’ Linksbündnis SYRIZA. So sollen sich die Beschäftigten im öffentlichen Dienst künftig regelmäßigen Bewertungen unterziehen.

Das stößt auf heftigen Widerstand bei vielen Staatsbeschäftigten, die es bisher gewohnt waren, völlig unabhängig von Qualifikation und Leistung befördert zu werden. Als Oppositionschef bekämpfte Tsipras die seit Jahren diskutierten Bewertungen, als Premier muss er sie jetzt umsetzen – gegen den Widerstand der Gewerkschaften und vieler eigener WählerInnen. Die MitarbeiterInnen im öffentlichen Dienst sind die Kernklientel des Linksbündnisses.

Die griechische Regierung will aber neben der Sparpolitik mit einem auf drei Jahre angelegten Reformplan die Verwaltung des Landes reformieren und effektiver machen. Der Plan sieht vor, staatliche Beschäftigte besser zu qualifizieren, Personal mit digitalen Kenntnissen einzustellen und Stellen in die Bereiche zu verlagern, in denen sie tatsächlich benötigt werden. Zudem soll die weit verbreitete Vetternwirtschaft bekämpft werden.

Bis 2020 sollen Behörden und andere öffentliche Verwaltungen unabhängig und entpolitisiert sein. Eine Reform des öffentlichen Sektors ist eine Kernforderung der Geldgeber Griechenlands. 2010 war beinahe jeder fünfte Beschäftigte im Staatsdienst. Seither ist die Zahl der im öffentlichen Dienst beschäftigten Menschen um 18% gesunken.

Zu heftigen Auseinandersetzungen haben auch die von den Gläubigern geforderten Änderungen im Streikrecht geführt: Konnten bisher die Gewerkschaftsvorstände im Alleingang über Arbeitskämpfe entscheiden, sollen in Zukunft Urabstimmungen eingeführt werden. Schon planen die Gewerkschaften landesweite Streiks gegen die Gesetzesänderungen.

Nicht weniger problematisch ist die Umsetzung der Privatisierungen. In der Vergangenheit hat die Regierung zwar unter dem Druck der Geldgeber Privatisierungen widerwillig beschlossen, ihre Umsetzung aber oftmals hinausgezögert. Kein Wunder, dass die Einnahmen aus den Privatisierungen, mit denen Griechenland seinen Schuldenberg abbauen soll, eher spärlich fließen. Für die ersten sieben Monate dieses Jahres waren Erlöse von 1,3 Mrd. Euro angesetzt, aber nur 968 Mio. Euro kamen in die Kasse.

Doch auch bei einer weiteren erfolgreichen Umsetzung von Strukturreformen, ist keineswegs gesichert, dass Griechenland im kommenden Jahr der Exit aus dem Programm und die Rückkehr an den Kapitalmarkt aus eigener Kraft gelingen wird.

In Brüssel denkt man deshalb bereits über eine sogenannte Kreditlinie nach, um dem Krisenland nach Auslaufen des gegenwärtigen Hilfsprogramms beizustehen. Ein solches Sicherheitsnetz könnte das Vertrauen der Anleger stärken und die Renditen der Griechenland-Bonds drücken. Geld dafür ist vorhanden: Von den bis zu 86 Mrd. Euro, die im dritten Rettungspaket bereitstehen, wurden bisher erst 39,4 Mrd. Euro abgerufen.

Eine Kreditlinie würde allerdings bedeuten, dass Griechenland weiter unter strenger Aufsicht der Kreditgeber bleibt: Die Richtlinien des Euro-Stabilitätsmechanismus ESM sehen dafür alle drei Monate eine Prüfung vor. Zum Ende des Programms sind auch weitere Maßnahmen zur Schuldenerleichterung geplant: eine Verlängerung der Kreditlaufzeiten sowie die Umwandlung von variablen in feste Zinssätze. Wie nachhaltig dieser Ansatz auf lange Sicht ist, darüber lässt sich streiten.

Die momentan avisierten Modalitäten sollten allerdings dazu beitragen, dass Griechenland sich wieder am europäischen Anleihemarkt etablieren kann. Der Erfolg der griechischen Anleiheemissionen ist von enormer Bedeutung und wird von mehreren Faktoren beeinflusst – darunter dem weiteren Wirtschaftswachstum des Landes, dem Verhalten der EZB und auch dem Ausgang der Wahlen in Deutschland.

Immerhin könnte eine künftige Regierungsbeteiligung der FDP Folgen haben. Die FDP fordert explizit einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Ein kurzfristig unwahrscheinliches Szenario, doch bei der Schuldenentlastung und den Konditionen eines Überbrückungskredits wäre eine härtere Gangart zu erwarten. Dabei müsste das Kapitel europäische Austeritätspolitik endgültig beendet werden.

Dies ist auch die Position des Wirtschaftskommissars Pierre Moscovici und wir stimmen dieser Kritik zu. Nach acht Jahren Krise und harter Austeritätspolitik räumt der französische Kommissar ein, die Beschlüsse der Eurogruppe »hinter verschlossenen Türen« zum Thema »Bailout« seien mit Blick auf die üblichen demokratischen Prozesse »ein Skandal« gewesen. »Die Herangehensweise ist ein Skandal – nicht, weil die getroffenen Entscheidungen skandalös sind, sondern weil auf diese undemokratische Weise über das Schicksal einer Nation entschieden wurde, und über so wichtige Felder wie Renten und den Arbeitsmarkt«, so Moscovici.

Die gesamte Konstruktion der Euro-Finanzgruppe ist mit den demokratischen Prinzipien unvereinbar. Die Entscheidungen wurden in diesem Rahmen von Technokraten getroffen, die weder transparent arbeiten noch gegenüber irgendeinem Parlament Rechenschaft ablegen müssten. »Wir sprechen hier über Grundlagen des Lebens in einem Mitgliedsland, die von einem Konstrukt hinter geschlossenen Türen entschieden wurden, dessen Arbeit ohne jegliche Kontrolle durch ein gewähltes Parlament bleibt. Darüber hinaus sind die Medien nicht darüber informiert, was genau gesagt und beschlossen wird, und es gibt keine klaren Kriterien oder gemeinsame Prinzipien.«

Als Beispiele nannte Moscovici die mit Athen vereinbarten Renten- und Arbeitsmarktreformen. Derzeit läuft das dritte Kredit- und Reformprogramm für Griechenland. Es beruht – wie seine Vorgänger – auf dem Prinzip, dass das Land nach und nach Kredite aus Mitteln des Euro-Krisenfonds ESM erhält, sobald es die mit den Kreditgebern über die Programmlaufzeit von drei Jahren vereinbarten Reformen verwirklicht hat. Darüber wachen die sogenannten Gläubiger-Institutionen aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank, ESM und Internationalem Währungsfonds. Die Freigabe einzelner Kredittranchen erfolgt in der Eurogruppe.

Moscovici wirbt seit einiger Zeit dafür, dass die Eurogruppe »transparenter« und »demokratischer« wird. Zugleich dringt er darauf, dass das politische Entscheidungszentrum in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen des Euroraums von der Eurogruppe in die EU-Kommission wandert und dass sich der Wirtschafts- und Währungskommissar zum Finanzminister für den Euroraum fortentwickelt.

Dieser soll nach der Vorstellung des Franzosen zugleich die Eurogruppe leiten. Die Finanzminister unter Führung von Schäuble lehnen das einhellig ab. Die demokratische Kontrolle soll nach Moscovicis Vorstellungen künftig vom Europaparlament ausgeübt werden. Auch der – etwa von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in die Diskussion gebrachte – Europäische Währungsfonds müsse demokratisch verfasst sein. Ferner müssten die derzeit bestehenden sozialen Ungleichheiten im Euroraum ausgeglichen werden.

Es wäre daher sehr wichtig, wenn Linke und Sozialdemokraten den Ball des französischen Präsidenten Macron und des Wirtschaftskommissars Pierre Moscovici aufnehmen würden, um den noch vagen Vorstellungen für eine Reform der EU hin zu einem demokratischen und transparenten Konstrukt konkrete und machbare Vorschläge offensiv in die gesellschaftliche Debatte folgen zu lassen.