"Es ist an der Zeit für Europa zu kämpfen"

Von Axel Troost

17.05.2016 / 16.05.2016

Die Briten stimmen am 23. Juni in einem Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union ab. Jüngsten Umfragen zufolge haben EU-Befürworter derzeit leicht aufgeholt. In Meinungsumfragen liegen Brexit-Befürworter und Gegner jetzt etwa gleichauf. Allerdings ist der Anteil der Unentschlossenen nach wie vor sehr hoch. Die britische Regierung, die sich nach erfolgreichen Verhandlungen über Sonderrechte für einen Verbleib in der EU ausspricht, versucht die Bevölkerung mit einer großangelegten Informationskampagne für die negativen Folgen eines Brexit zu sensibilisieren. Ein regierungsamtliches Flugblatt erreicht jeden Haushalt, mit dem über die möglichen Kosten eines EU-Austritts aufklärt wird. Die Befürworter für eine weitere Mitgliedschaft haben ihre Position leicht verbessert, aber der Ausgang ist weiterhin offen, die Stimmung der Wähler schwankt stark.

Auch die zurückliegenden Ergebnisse in den Regionalwahlen haben gezeigt, dass der politische Ausgang sehr knapp werden könnte. Die deutlichen Zugewinne der nationalistisch-rechtspopulistischen und europafeindlichen UK Independent Party in London, England und Wales signalisieren eine weitere Verschiebung nach rechts und damit eine Stärkung der BREXIT-Befürworter.

Was spricht aus britischer Sicht für eine Fortführung der Mitgliedschaft in der EU?

Die EU ist der größte Handelspartner Großbritanniens. Gleichzeitig ist Großbritannien auch ein sehr wichtiges Exportland für die EU. Ein Brexit eröffnet Großbritannien Chancen auf neue Handelsabkommen, gleichzeitig könnte das Land aber den Zugang zu Teilen des gemeinsamen Marktes verlieren. Sollte Großbritannien auf wachsende Blockaden zum gemeinsamen Markt stoßen, könnte das die Kapitalzuflüsse verlangsamen oder sogar zu Abflüssen führen. Der Kapitalimport und ausländische Direktinvestitionen sind eine wichtige Finanzierungsquelle für Großbritannien. Die Finanzbranche wäre der von einem Brexit am meisten betroffene Wirtschaftszweig. Sie ist ein sehr erfolgreicher Exporteur von Dienstleistungen, und der Zugang zum EU-Binnenmarkt ist von großer Bedeutung.

Angesichts dieser Rahmenbedingungen warnen der Internationale Währungsfonds (IWF) und die OECD vor einem Austritt. Großbritanniens Wirtschaft drohten schlimme Folgen, wenn das Land aus der EU austritt, schätzt IWF-Chefin Lagarde. Nach Ansicht des IWF könnte ein Brexit Großbritanniens Konjunktur spürbar bremsen. „Ein Votum für den Ausstieg würde zu einer längeren Phase der Unsicherheit führen.“ Dies könne Schwankungen an den Finanzmärkten auslösen und die Produktion treffen. Ein plötzliches Ende von Investitionen in Schlüsselsektoren wie dem Gewerbe-Immobilienmarkt und der Finanzindustrie könnte das Leistungsbilanzdefizit verschärfen. Das liege schon jetzt auf Rekordniveau.

Ein Brexit würde die britischen Haushalte wie eine Steuer belasten, nur dass damit keine öffentlichen Dienstleistungen finanziert oder Haushaltslücken geschlossen werden könnten, argumentiert OECD-Generalsekretär Angel Gurría. Das britische Schatzamt hatte vor kurzem die Kosten pro Haushalt für einen Austritt auf 4.300 £ jährlich beziffert. Gurría räumte ein, dass die Ergebnisse je nach Modell und Annahmen zu den künftigen Handelsbeziehungen keineswegs eindeutig ausfallen. Aber die Resultate zeigten doch in eine ähnliche Richtung: Großbritannien würde es bei einem Brexit schlechter gehen. Das Land würde nicht nur den Zugang zum gemeinsamen Markt verlieren, sondern auch die Vorteile aus den Handelsabkommen, die von der EU mit 53 Märkten geschlossen wurden. Es sei eine Illusion zu glauben, dass London jenseits der EU ein liberaleres Handelsregime erreichen könnte. Es dauere Jahre, bilaterale und regionale Handelsabkommen auszuhandeln.

Eine weitere These der OECD: Ein EU-Austritt würde einen über Großbritannien hinausgehenden finanziellen Schock auslösen, der durch die Aufwertung anderer Währungen gegenüber dem Pfund noch verstärkt würde, Es bestünde die Gefahr, dass hohe Kapitalabflüsse bzw. ein Abreißen der Zuflüsse die Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits bedrohen würden, das mit 7% des Bruttoinlandprodukts im vergangenen Quartal ein Rekordniveau erreicht habe.

Auch der britische Notenbankchef Marc Carney warnt: Ein EU-Austritt könnte für Großbritanniens Wirtschaftswachstum eine erhebliche Schwächung darstellen und zu deutlich mehr Inflation führen. Das Pfund dürfte bei einem Brexit an Wert verlieren. Die Realwirtschaft wäre demnach direkt betroffen: Konsumenten dürften neue Anschaffungen aufschieben, Firmen Investitionen zurückstellen. Eine Rezession wäre die Folge.

Eine Gruppe von Economists for Brexit macht hingegen eine ganz andere Rechnung auf. Aus Sicht der Befürworter eines Brexit in der konservativen Partei würde ein Austritt aus der EU mehr Wettbewerbsfähigkeit im Export, sinkende Verbraucherpreise und einen höheren Lebensstandard bringen.

Auch politisch wäre der Brexit eine Zäsur: der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wäre ein Präzedenzfall. Bisher hat noch nie ein Mitgliedstaat der Gemeinschaft gänzlich den Rücken gekehrt. Zum Selbstverständnisses der EU gehört, divergierende Interessen in Verhandlungen immer wieder in einen Konsens zu überführen.

Die Auseinandersetzung um den Brexit nimmt also eine beträchtliche Schärfe an. Vor allem bei einer niedrigen Wahlbeteiligung von weniger als 50 Prozent ist die Gefahr groß, dass die Briten für einen Austritt votieren.

Der springende Punkt – so meine Bewertung: es geht um die Reformfähigkeit der EU. Der britische Austritt könnte eine irreversible Tendenz auslösen, denn er könnte einem resignierten Abschied von der europäischen Idee gleichkommen. Die verbleibenden Mitglieder würden die Abkehr von der EU als mögliches Mittel in ihren politischen Werkzeugkasten aufnehmen. Das Ziel der Abstimmung besteht nicht darin, Strukturen der EWU unverändert aufrechtzuerhalten, sondern in erster Linie die Gemeinschaft lebensfähig zu erhalten.

Und was sagen die Gewerkschaften und die britische Labour Party zu der möglichen Zäsur? Der neue Vorsitzende der Labour-Party, Jeremy Corbyn, ist dabei die Partei wieder auf einen sozialreformerischen Pfad zu bringen. Den Beginn der Referendums-Wahlkampagnenutzte Corbyn die politische Zielsetzung der Labour Party in der Referendumskampagne zu umreißen: „Großbritannien muss in der EU bleiben. Sie ist der beste Rahmen für Handel, Industrieproduktion und Zusammenarbeit im Europa des 21. Jahrhunderts. Investitionen in Höhe von zig Milliarden Pfund und Millionen von Arbeitsplätzen hängen von unseren Beziehungen zur EU ab – dem größten Markt der Welt. Unsere EU-Mitgliedschaft garantiert lebenswichtige Arbeitsrechte, darunter vier Wochen bezahlter Urlaub, Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub, Schutz für Leiharbeitnehmer und Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Die EU-Mitgliedschaft hat die britischen Umweltstandards, von den Stränden bis zur Luftqualität, verbessert und schützt Verbraucher vor Betrug und überhöhten Preisen. Aber wir müssen auch für Reformen in Europa eintreten – für die Reformen, an denen Camerons Regierung kein Interesse hat, aber dafür sehr wohl viele andere Menschen in ganz Europa. Etwa eine demokratische Reform, die die EU stärker zur Rechenschaft gegenüber ihren BürgerInnen verpflichtet; Wirtschaftsreformen, um die selbstzerstörerische Austerität zu beenden und um Arbeit und nachhaltiges Wachstum in den Mittelpunkt der europäischen Politik zu rücken; Arbeitsmarktreformen, um die Rechte der Arbeitnehmer in einem echten sozialen Europa auszudehnen… Ich trete also dafür ein, in Europa zu bleiben und es zu erneuern.“

Es gibt eine breite internationale Allianz der Brexit-Gegner von Labour bis zum Papst Franziskus: „Was ist mit Dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit“, fragte Franziskus. „Die europäische Identität ist und war immer eine multikulturelle Identität.“ Die Eingliederung sei dabei jedoch nicht nur eine geographische, sondern eine kulturelle Herausforderung.

Die Fortführung der EU-Mitgliedschaft liegt auch im Interesse der europäischen Linken. Europa krankt wirtschaftlich und politisch seit 2008 an einem Mangel an wirtschaftlicher Dynamik. Europa tut viel zu wenig für die soziale Entwicklung in und außerhalb der EWU. Das ist die Folge der Austeritätspolitik. Wenn man keine Spielräume lässt für Investitionen in die soziale Infrastruktur, Bildung, in Forschung und Entwicklung, in die digitale Infrastruktur und vieles andere mehr, dann führt das zu einem weiterwachsenden Niedergang Europas.

Es gibt Chancen für ein reformiertes Europa

Es gibt aber Chancen für eine Abwehr der mit dem Brexit verbundenen Risiken und für eine populäre linke Antwort auf die angerichteten Zerstörungen durch den Neoliberalismus. Wir sollten demokratische Reformen stark machen, die auf eine deutliche Überwindung der sozialen Spaltungen in Deutschland und den europäischen Gesellschaften zielen. Wir haben Vorstellungen von Wirtschaftsreformen, die die selbstzerstörerische Sparpolitik beenden und stattdessen Arbeitsplätze, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sowie nachhaltiges Wachstum ins Zentrum der europäischen Gesellschaften rücken.

Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es gelänge zwischen den verschiedenen Gruppen der gesellschaftlichen Linken den Boden zu bereiten für ein sozialreformerisches Paket, wie es z.B. auch im „Appell zum Umsteuern“[1] skizziert wird. Wir brauchen eine intensive Beschäftigung mit der anhaltenden Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, eine Generalinventur unserer Reform-Konzeptionen, letztlich ein populäres Gesamtkonzept gegen die soziale Spaltung.

Ausgangspunkt für ein solches Investitions- und Ausgabenprogramm sind ungedeckte gesellschaftliche Bedarfe. Diese konzentrieren sich auf das berechtigte Anliegen nach mehr und qualitativ besserer Bildung, nach einem geringeren Energie- und Ressourcenverbrauch, nach einer besseren Ausstattung der Daseinsvorsorge und generell nach einer besseren Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen. Gleichzeitig zielt dieses Programm darauf, die Beschäftigung und die Masseneinkommen zu steigern. Es geht um den Abbau von Arbeitslosigkeit und zugleich um die Verbesserung der materiellen Lebenslage großer Teile der Bevölkerung.

Ich sehe daher meinen Beitrag in der Verbesserung unserer Präsentation eines umfassenden gesamtgesellschaftlichen Konzepts der sozialen Gerechtigkeit:

  • 1. Die LINKE sollte offensiv für ein weiterreichendes Investitions- und Infrastrukturprogramm werben. Eine zukunftsfähige soziale und öffentliche Infrastruktur kommt den nächsten Generationen zugute. Es wäre fahrlässig, einer neuen Generation eine verfallene Infrastruktur und dadurch einen prekären Lebens- und Wirtschaftsstandort zu hinterlassen. Das Dogma der „schwarzen Null“ ist eine neoliberale Sackgasse und bleibt das Gegenteil einer solidarischen, zukunftsfähigen und ökonomisch wohlbegründeten LINKEN Politik.
  • 2. Dazu ist ein Richtungswechsel in der Wirtschafts- und Lohnentwicklung Deutschlands nötig. Deutschland muss weg von seiner übermäßigen Exportfixierung hin zu einer stärker binnenwirtschaftlich ausgerichteten und ausgewogeneren Entwicklung. Das erfordert eine überproportionale Steigerung der Löhne in den hierzulande schlecht bezahlten öffentlichen und privaten Dienstleistungsbereichen. Zusätzlich brauchen wir nicht nur einen gesetzlichen Mindestlohn ohne Ausnahmen, der auf über 10 Euro erhöht werden muss, sondern auch die Stärkung der Tarifverträge. Wir treten ein für Maßnahmen gegen Lohndrückerei durch Leiharbeit, Werkverträge, Befristungen, Minijobs und prekäre Selbstständigkeit
  • 3. Von zentraler Bedeutung im Kampf für soziale Gerechtigkeit ist eine Stärkung der Finanzausstattung des Sozialstaats durch gerechtere Steuern und paritätische Sozialbeiträge. Die hohe Konzentration der Vermögen erfordert und ermöglicht es, durch die Erhebung einer Vermögensteuer als Millionärsteuer hohe Einnahmen zu erzielen und zugleich der Einkommens- und Vermögenskonzentration entgegenzuwirken. Das Steuerkonzept der LINKEN dient sowohl der sozialen Gerechtigkeit als auch der Finanzierung der notwendigen gesellschaftlichen Aufgaben.

Ich trete dafür ein, dass die politische Linke stärker als bisher in den öffentlichen Diskurs hineinträgt, dass im größeren Maßstab einzig ein einheitlicheres Europa ein Motor für Investitionen und Wachstum sein kann und zugleich für die wahre Bedeutung der europäischen Staatsbürgerschaft wirbt, die auf Chancengleichheit, Offenheit und Wohlstand basiert. Auf diese Weise können sowohl auf ökonomischer als auch auf symbolischer Ebene die vielfach vereinfachten und anachronistischen Vorschläge von Populisten und Nationalisten jeglicher Couleur in Europa gekontert werden.

Unabdingbar ist darüber hinaus der entschiedene politische Einsatz der gesellschaftlichen Linken für unverzügliche Schritte zur Unterstützung Griechenlands, damit dort überhaupt noch eine Politik der Krisenbewältigung betrieben werden kann. Die desaströse humanitäre Situation in Griechenland ist seit langem bekannt. Dazu kommen die außergewöhnlichen Lasten, welche die griechische Bevölkerung mit der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten trägt. In dieser Situation braucht Griechenland wirkliche Unterstützung seiner europäischen Nachbarn und keine zusätzlichen Sparauflagen.[2]


[1] Vgl. auch www.europa-neu-begruenden.de

[2] Vgl. www.europa-neu-begruenden.de

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