Zerfall des Mythos von der "Mitte" - Ausbreitung eines "sozialen Nationalismus"

Von Horst Kahrs

22.01.2015 / Rosa-Luxemburg-Stiftung, Januar 2015

Polarisierung oder Ausbreitung - Worum es geht

Wie kann sich die politische und gesellschaftliche Linke in Deutschland erfolgreich gegenüber den aufkommenden neuen rechten politischen Kräften behaupten? Was kann sie dazu beitragen, deren Offensive zu brechen? Wie lassen sich die Wahlerfolge der «Alternative für Deutschland» (AfD) und die Mobilisierungen außerparlamentarischer Kräfte wie der Dresdner «Pegida» angemessen erklären und beantworten? Dieses Papier enthält keine abschließenden Antworten; sie kann es in einem offenen politischen Prozess nicht geben. Versucht wird, sich und anderen ein für Deutschland neues politisches Phänomen soweit zu erklären, dass angemessenes politisches Handeln begründet werden kann.

In der deutschen Gesellschaft breiten sich ausländerfeindliche Stimmungen und Haltungen nicht aus. Alle einschlägigen Umfragen und Messungen zu Einstellungen und Stimmungen gegenüber Zuwanderung, Ausländern und Flüchtlingen zeigen einen Rückgang ausdrücklich ausgrenzender, feindlicher Gesinnungen. Die Einstellung «Hier leben schon so viele Ausländer, wir können keine weiteren aufnehmen» vertraten Anfang und Ende 2014 jeweils 18 Prozent der Befragten einer Allensbach-Studie gegenüber 42 Prozent Mitte 2004. Gegen ein «Asylbewerberheim» in ihrer Gemeinde würden Ende 2014 24 Prozent der Befragten unterschreiben, 1992 waren es 37 Prozent (Ost: 31 Prozent statt 40 Prozent; West: 23 Prozent statt 37 Prozent) (Köcher 2014c). Auch andere Langzeituntersuchungen zeigen einen Rückgang der ausländerfeindlichen Einstellungen gegenüber den Jahren 2004-2006 (vgl. Lill 2015). Auszugehen wäre also nicht von einer Verbreitung, sondern von einer zunehmenden Polarisierung und Verhärtung, von einer wachsenden Bereitschaft, die ablehnenden Einstellungen in der Öffentlichkeit kollektiv und organisiert auszudrücken. Es handelt sich unter dieser Perspektive eher um die Langzeitwirkung von breiten Debatten wie derjenigen über die «Sarrazin-Thesen» und die Verfestigung von «Weltsichten», wie sie in einschlägigen Foren im Internet vertreten werden. Wir haben es mit Entwicklungen zu tun, die unterhalb des Radars der auf Tagesaktualität ausgerichteten medialen und politischen Aufmerksamkeitsökonomie in bestimmten Teilen der Gesellschaft herangereift und miteinander verbunden worden sind.

Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament machten vor allem in den nord- und westeuropäischen Staaten das Erstarken von Parteien rechts der christdemokratisch-konservativen Parteifamilie der Europäischen Volkspartei sichtbar. Mehrheitlich handelt es sich weniger um einen Zuwachs, mehr und eher noch um eine Ausdifferenzierung im konservativen Parteienlager, im parteipolitischen Spektrum rechts der Mitte, also (noch) nicht um eine wirkliche machtpolitische Kräfteverschiebung. Eine Ausnahme bilden die Ergebnisse in Großbritannien und Frankreich. Die Erfolge von FN und UKIP drücken sowohl der nationalen Politik als auch dem Agieren der französischen und britischen Regierungen auf europäischer Ebene erkennbar ihren Stempel auf.

In Deutschland kann davon bisher (noch) nicht die Rede sein. Zwar errang mit der «Alternative für Deutschland» (AfD) eine neue Partei rechts von der Union bei der Bundestagswahl 2013 einen Achtungserfolg, zog anschließend bei der Wahl zum Europäischen Parlament mit 7,1 Prozent der Stimmen erstmals in ein Parlament ein, erreichte dabei zudem absolut etwas mehr Stimmen als Zweitstimmen bei der Bundestagswahl und im Spätsommer bei drei Landtagswahlen 9,7 Prozent (Sachsen), 10,6 Prozent (Thüringen) und 12,2 Prozent (Brandenburg) der Stimmen. Tatsächlich drücken diese Erfolge eine Verschiebung der politischen Stimmungslage in der Bevölkerung aus. Der Rückgang der Stimmen für Parteien links von der Union setzte jedoch bereits 2005 und 2009 ein, lange vor der Gründung der AfD. Stimmenzuwächse für die FDP und eine wachsende Wahlenthaltung waren seine politische Verlaufsform. Die AfD füllt aktuell ein politisches Repräsentationsvakuum. Ob sie auch die politischen Kräfteverhältnisse verändert, wird sich noch erweisen müssen. Die CSU versucht sich darin öffentlichkeitswirksam, andererseits ist unverkennbar, dass die mediale Stimmungslage eine andere ist als vor knapp 25 Jahren, nicht zuletzt deshalb, weil maßgebliche Unternehmerverbände das kapitalistische Bedürfnis nach (qualifizierter) Zuwanderung herausstellen.

Wenn die Annahme zutrifft, dass wir uns einem dynamischen Prozess gegenüber sehen, dann verbieten sich vorschnelle Deutungen nach dem Muster identitärer Zuschreibungen. Was und wer die AfD ist, was genau ihre Identität ausmacht, scheint mir in der Tat noch offen. Zu viel in der und um die Partei herum ist in Bewegung, in Formung. So scheinen die Erfolge der AfD eine neue Welle außerparlamentarischer Aktionen «ganz normaler Bürger» zur «Verteidigung des christlichen Abendlandes» Auftrieb verliehen zu haben. Diese Bewegungen zeichnen sich durch eine eigene Dynamik aus, zu der sich die AfD als Partei insgesamt in ein Verhältnis setzen muss, was ohne weitere innerparteiliche Klärungsprozesse nicht möglich sein wird. So nimmt, ein weiterer Aspekt, die öffentlichen Diskussion in Medien und Parteien zum Verhalten in Sprache, Darstellung und Politik/Handeln gegenüber der AfD erst Fahrt auf. Diese Reaktionen haben wiederum auf die weitere Prägung der AfD Einfluss.

Es geht mir im folgenden um die Frage, wie die Erfolge der AfD und wie die gesellschaftlichen Bewegungen und Brüche, die darin ihren Ausdruck finden, zu erklären sein könnten. Ein Versuch, sich und anderen die AfD und die rechten außerparlamentarischen Bewegungen zu erklären, kann am Ende nicht mit sicheren Antworten, wie der AfD erfolgreich zu begegnen sei, aufwarten; bestenfalls sind Vorschläge zu erwarten, wie Antworten beschaffen, wo sie gesucht sein sollten. Zunächst, so viel vorweg, geht es meines Erachtens vor allem um eine Verständigung darüber, was gegen AfD & Co zu verteidigen ist. Im ersten Teil werde ich mich mit der Partei «Alternative für Deutschland» als parlamentarischem Ausdruck einer rechtspopulistischen außerparlamentarischen Bewegung, also ihrem Einbruch in das engere politische System, befassen. Im zweiten Teil soll es dann um Aspekte der gesellschaftlichen Brüche und Bewegungen gehen.

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