Welche politische Konzeption verfolgt die neue EU-Führung?

Von Axel Troost

04.09.2014 / 04.09.2014

Auf dem EU-Gipfel wurden die Personalfragen der EU für die nächste Amtsperiode weiter geklärt: Die EU-Regierungschefs haben mit Donald Tusk und Federica Mogherini einen neuen EU-Ratspräsidenten und eine neue Außenbeauftragte für die Europäische Union gefunden. Außerdem will die Europäische Union ihre Wirtschaftssanktionen gegen Russland bald ausweiten. Die EU-Kommission soll prüfen, welche zusätzlichen Sanktionen folgen könnten. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von Einschränkungen im Finanz- und Energie-Sektor. Verhängt wurden schon neben Einreisebeschränkungen für bestimmte Personen folgende Sanktionen: Die Europäische Union hat russischen Banken den Zugang zum EU-Kapitalmarkt erschwert. Auch ein Waffenembargo ist in Kraft: An die russischen Streitkräfte dürfen weder zivil noch militärisch nutzbare Güter geliefert werden. Auch Spezialgeräte zur Öl- und Gasförderung stehen auf der Verbotsliste. Russland antwortete darauf mit einem Importstopp für Fleisch, Obst, Gemüse und Milchprodukte aus der EU.

Was diese Schritte bisher gebracht haben, ist umstritten. Die EU-Regierungen haben über den Sinn und den Umfang von weiteren Sanktionen noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Angesichts der Rückwirkungen der Strafmaßnahmen auf die eigenen Volkswirtschaften, gibt es mittlerweile durchaus unterschiedliche Interessen. Für einige Mitgliedsländern wäre eine weitere Schädigung der nationalen Ökonomien offenkundig. Umgekehrt ist nicht aus zu machen, dass diese Tendenz der Ab- und Ausgrenzung die Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der Putin-Administration befördert hat.

Wie bereits dargelegt, halte ich die Politik der Sanktionen in diesem Fall für völlig kontraproduktiv. Die EU sollte in Anknüpfung an den Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Poroschenko einen Waffenstillstand und eine Konzeption der föderativen Staatsstruktur in der Ukraine befördern und mit Russland zur Konzeption einer gemeinsamen Sicherheit und wirtschaftliche Kooperation zurückkehren.

Eine gesamteuropäische Strategie der Kooperation ist auch deshalb dringend geboten, weil auch ohne den militärischen Konflikt in der Ukraine und die Sanktionen sich über der europäischen Wirtschaft deutliche Schlechtwetterfronten zusammengezogen haben.

Selbst der EZB-Präsident Draghi ist aufgeschreckt von den Tiefstzinsen für Staatsanleihen in der EU, von der unzureichenden Kreditversorgung vor allem des Mittelstandes und vom weiteren Absinken der Preissteigerungsrate auf 0,3 Prozent. Auch Draghi nimmt endlich zur Kenntnis: die anhaltende Austeritätspolitik hat dazu geführt, dass das fragile Wachstum in Europas Wirtschaft sich bedrohlich verlangsamt hat. Der EZB-Chef Draghi musste sich wegen seiner jüngsten Warnungen über eine anhaltende und sich verstärkende Krisenkonstellation in Europa kritische Nachfragen von Bundesfinanzminister Schäuble und der Bundeskanzlerin gefallen lassen. Draghi bekräftigt: er plädiere nicht für ein Abrücken von der Konsolidierungs- und Strukturpolitik, aber man könne auch nicht weitermachen wie bisher.

Fakt ist:

  • Italien ist im zweiten Quartal wieder in die Rezession gerutscht.
  • Frankreichs Wirtschaft verzeichnet seit mehr als einem Jahr eine Stagnation des Bruttoinlandprodukts.
  • Das BIP Deutschlands ist im zweiten Quartal im Vergleich zum ersten Quartal um 0,2 Prozent gefallen.
  • Die Eurozone droht insgesamt - auch die vermeintliche Konjunkturlokomotive Deutschland - wieder in einen verstärkten Schrumpfungsmodus überzugehen.

"Ich befürchte, vor Europa liegt eine längere Phase aus Stagnation, Deflation und hoher Arbeitslosigkeit", unterstreicht Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Etliche Ökonomen und Wirtschaftspolitiker sagen Europa darüber hinaus eine lang anhaltende Stagnationsphase voraus und sprechen sich deshalb für weitere Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) aus, um die Wirtschaft in der Währungsunion zu stützen. "Die Geldpolitik der EZB muss noch stärker gelockert werden" und "Die EZB hat nicht die Option, nichts zu tun". Denn die wirtschaftliche Situation der Euro-Zone hat sich eingetrübt. Es gibt wachsendes Unbehagen vor japanischen Verhältnissen. Soll heißen: kein Wachstum, Deflation statt Inflation, hohe Arbeitslosenraten in den eigentlichen Krisenländern.

Der Widerspruch zwischen Konsolidierung und Wachstumsförderung prägte die politische Rhetorik der letzten Monate. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi nimmt einen neuen Anlauf. Er will die EU-Staats- und Regierungschefs am 6. Oktober zu einer Sondersitzung über die Wirtschaftsentwicklung in der Gemeinschaft einladen. "Die Situation in Europa ist wirklich besorgniserregend", so Renzi. "Nicht nur Italien, ganz Europa erlebt eine Phase der Stagnation". Italien hält derzeit turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft. Auch Frankreichs Präsident Francois Hollande hat zu mehr Engagement für Wachstum in Europa aufgerufen. Die jüngste Regierungskrise hat den Druck erhöht, endlich zu Resultaten zu kommen. Hollande beklagte einen zu hohen Euro-Kurs und eine zu niedrige Inflationsrate in der Währungsgemeinschaft. Die bereits umgesetzten wachstumsfördernden Reformen in Frankreich "können nicht wirken, wenn nicht auch der Rest Europas mobilisiert wird", so Hollande.

Anders dagegen Angela Merkel. Sie lobte die von Ministerpräsident Rajoy in Spanien eingeleiteten "harten und schwierigen" Finanz- und Wirtschaftsreformen, die zu einer Verbesserung der Lage geführt hätten. Einsparungen und Wachstumspolitik seien keine Gegensätze. "Finanzielle Solidität und Wachstumsimpulse sind zwei Seiten einer Medaille." Zwar zog die Konjunktur Spaniens in 2014 nach Jahren der Flaute wieder an. Neue Jobs wurden geschaffen, auch wenn die Arbeitslosenquote mit 25 Prozent immer noch erschreckend hoch ist.

Mit einer weiteren Expansion der Geldpolitik der Notenbank allein wird man nicht weiterkommen. Die auf Druck des italienischen Ministerpräsidenten auf dem EU-Gipfel beschlossene Initiative bietet einen weitergehenden Ansatz: Das italienische Kabinett hat ein Paket für Infrastrukturprojekte entwickelt. Dennoch darf Renzi die Maastricht-Grenze von 3% für das Haushaltsdefizit nicht überschreiten. Viel Spielraum für ein Konjunkturpaket gibt es daher bislang nicht. Die Regierung in Rom will 12 Mrd. Euro durch den Verkauf von Staatsbetrieben aufnehmen, um die Investitionsoffensive zu finanzieren. Eigentlich würde die italienische Regierung ein Investitionsprogramm von ca. 43 Mrd. Euro für die Infrastruktur mobilisieren. Aber unter den restriktiven Bedingungen des Fiskalpaktes bleibt faktisch nur ein Zehntel der Summe realistisch übrig.

Ergänzend zu einem Kurswechsel der EZB müsste es also um ein wirkliches Investitionsprogramm zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur und eines sozial-ökologischen Umbaus gehen. Die künftige EU-Kommission erwägt ein Investitionspaket über 300 Mrd. Euro einschließlich einer Kapitalerhöhung der Europäischen Investitionsbank (EIB), die die Mitgliedstaaten tragen und offenkundig mit den Regierungen und nationalen Notenbanken bereits abgesprochen ist. Das Geld soll vor allem in Infrastrukturmaßnahmen fließen, etwa den Ausbau der Breitband- und Energienetze, aber auch in Bildung, Forschung und die Förderung von Energieeffizienz. Viele ÖkonomInnen unterstützen diesen Kurswechsel. Investitionen, die bisher in den meisten EU-Ländern auf tiefem Niveau liegen und nicht einmal den Substanzverlust kompensieren, sind der Schlüssel zu nachhaltigem Wachstum und einer modernen Arbeitsteilung in Europa.

Aber auch diese Größenordnung bleibt deutlich hinter den Erfordernissen zurück. Wir brauchen mehr öffentliche Investitionen in den Mitgliedsländern und gemeinsam finanzierte Infrastrukturinvestitionen auf europäischer Ebene. Die Fortsetzung des bisherigen Kurses würde nicht nur die politischen Widersprüche weiter befördern. Es liegt auch auf der Hand, dass vor allem die Euro-Kritiker und die rechtspopulistischen Parteien die Nutznießer dieses gesellschaftlichen Niedergangs wären. Europa hat ökonomisches und politische Potenzial für eine bessere Zukunft. Daher unterstreiche ich die Forderungen der europäischen Linken:

  • 1. Sofortiger Stopp der Austeritätsprogramme;
  • 2. Entwicklung eines europäischen Investitionspakets zum Ausbau der öffentlichen Infrastruktur und wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vor allem in den eigentlichen Krisenländern;
  • 3. die EU- und Euro-Länder sollten sich endlich auf gemeinsame Sozial- und Steuerstandards verständigen;
  • 4. durch eine EU-weite Initiative könnte die aktuelle Flüchtlingsbewegung humanitär eingebettet und die anfallenden Belastungen ausgeglichen werden;
  • 5. Eine realistische Politik gegenüber Russland.