Kanadisch-Europäische Freihandelszone: Globalisierung oder Fragmentierung?

Von Ingo Schmidt

10.03.2014 / www.alternative-wirtschaftspolitik.de, März 2014

Mitte Oktober haben kanadische Regierung und EU-Kommission der Öffentlichkeit einen Freihandelsvertragvorgestellt, der nun zur Ratifizierung ansteht. Dieser Vertrag betritt insofern Neuland als er die bislang weitgehend geschlossenen Märkte für Agrarprodukte und das öffentliche Auftragswesen für ausländische Konkurrenten öffnet. Daneben sind eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungshandels sowie der Schutz ausländischer Investitionen vorgesehen. Kanadas konservativer Premierminister Mulroney hatte bereits in den 1980er Jahren den Freihandel vorangetrieben. Auf seine Initiative wurde 1988 ein Freihandelsvertrag mit den USA unterzeichnet, der 1994 zur Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) erweitert wurde. Die regionale Integration fügte sich nahtlos in die Verhandlungen über weltweite Liberalisierungen ein, die 1995 mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) einen vorläufigen Höhepunkt erreichten.

Kanadische und europäische Interessen

Mulroneys Parteigenosse und Amtsnachfolger Harper hatte bei den Verhandlungen mit der EUallerdings weniger die Ideale globalen Freihandels als die Absatzinteressen kanadischer Öl-, Bergbau- und Agrarfirmen im Sinn. 2006war er mit dem Ziel angetreten, Kanada zum Hoflieferanten der USA zu machen, musste seither aber mit ansehen, wie der amerikanische Fracking-Boom die Bedeutung kanadischer Öllieferungen verringerte. Gleichzeitig nutzten kanadische Firmen steigende Rohstoffpreise zum Ausbau ihrer globalen Stellung als Exporteure und Investoren. Die damit verbundenen Finanzierungen gaben auch kanadischen Banken enormen Auftrieb. Kanadas zuvor weitgehend kontinental ausgerichtete Wirtschaft entwickelte sich zu einem Global Player, dessen Märkte nun auch politisch abgesichert werden sollen. So erklären sich Kanadas Beteiligung an den Kriegen in Afghanistan, Irak und dem Militärputsch in Haiti, der Abschluss eines Investitionsschutzabkommens mit China im vergangenen Jahr und die jüngst abgeschlossenen Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag mit der EU.

Für europäische Firmen spielt der kanadische Markt insgesamt eine untergeordnete Rolle. Mit 1.446 Milliarden US-Dollar lag das kanadische Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr knapp vor Spanien mit 1.407 Milliarden US-Dollar und entsprach damit neun Prozent des Bruttoinlandsproduktes aller EU-Mitgliedsländer. Wichtiger sind gute Beziehungen mit Kanada als Gegengewicht zu den Öl- und Rohstofflieferungen aus dem Mittleren Osten und Russland. Zudem dient das Abkommen mit Kanada als Testfall für die gerade angelaufenen Verhandlungen mit den USA über das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen TTIP. Mit 16.244 Milliarden US-Dollar liegt der US-Markt immer noch vor der EU mit 16.092 Milliarden Dollar. Zusammen genommen sind das immerhin 40 Prozent der globalen Produktion.Sollten die TTIP-Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden, entstünde ein Weltmarktgigant, der die Verhandlungsposition seiner politischen Repräsentanten in Washington, Ottawa und Brüssel gegenüber allen anderen Ländern und Ländergruppen der Welt uneinholbar stärken würde.Trotzdem ist es keineswegs sicher, dass die alten imperialistischen Zentren ihre Verhandlungsmacht zur Wiederbelebung des seit der Doha-Runde der WTO festgefahrenen Globalisierungsprojektes werden ausnutzen können.

Globale Auswirkungen

Der Agrarhandel stellt den ersten Stolperstein bei der Neubelebung der Welthandelsliberalisierung dar. Dass sich Kanada und EU auf eine weitreichende Liberalisierung dieses Sektors einigen konnten, ist in der Tat ein Novum in der Geschichte neoliberaler Freihandelsbemühungen. Es ist aber zweifelhaft, ob sich dieses Beispiel auf die WTO übertragen lässt. Die Doha-Verhandlungen waren ja gerade an der Weigerung des Westens gescheitert, ihre Märkte für Agrarimporte des Südens weiter zu öffnen. Die entsprechenden Ausfuhren sind aber nicht nur für reine Agrarländer sondern auch für industrialisierte Länder wie Argentinien und Brasilien weiterhin unverzichtbare Einnahmequellen. Im Rohstoffsektor hat die Expansion kanadischer Firmen zur unmittelbaren Konkurrenz mit brasilianischen Konzernen geführt, beim Flugzeugbau konkurrieren Bombardier und Embraer. Die Liste solcher Beispiele ließe sich fast beliebig fortsetzen und auf andere Weltregionen erweitern. In einer von Überkapazitäten geplagten Weltwirtschaft führt die Vertiefung des Handels zwischen einigen Ländern keinesfalls automatisch zu mehr Freihandel zwischen allen Ländern sondern kann, selbst entgegen anderen Absichten, zur Herausbildung regionaler Handelsblöcke führen.

Als weiterer Stolperstein der Handelsliberalisierung könnten sich die Umschichtungen der globalen Kapitalströme seit der Großen Rezession herausstellen. Von der Rezession waren die alten imperialistischen Zentren viel stärker betroffen als die neuen Regionalmächte des Südens. Der dramatische Rückgang der Wirtschaftstätigkeit im Norden führte zu massiven Kapitalflüssen in den Süden, wo eine ganze Reihe von Ländern mit Druck auf ihre Zahlungsbilanzen, importierter Inflation und Spekulationsblasen zu kämpfen hatten. Sofern die jeweiligen Zentralbanken diese Entwicklungen mit Zinserhöhungen zu bekämpfen versuchten, heizten sie den Kapitalzufluss weiter an, weil sich der Renditeunterschied gegenüber dem Norden mit seiner Nullzinspolitik weiter erhöhte. In einigen Fällen wurden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt, um Finanzkrisen vorzubeugen. Außerdem beschwerten sich Regierungen des Südens immer häufiger darüber, dass der Norden mit seiner laxen Geldpolitik eine Abwertungsstrategie betreibe. Dadurch würden die nach Jahrzehnten neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen mühselig errungenen Wettbewerbsvorteile wieder zunichte gemacht. Zudem wirkt sich die Stagnation im Norden mittlerweile auch negativ auf Exporte und Wirtschaftswachstum im Süden aus. Angesichts dieser Entwicklungen dürfte das Interesse des Südens, den Freihandelsvorstellungen des Nordens entgegenzukommen gering sein. Anders als in den vergangenen Zeiten westlicher Weltbeherrschung lassen sich diese Interessen, sofern sie von den großen unter den Südländern artikuliert werden, nicht mehr ignorieren.

Fragmentierung wider Willen

Paradox: Die antiimperialistischen Banner in Peking und Hanoi sind eingerollt, der Sowjetkommunismus ist zusammengebrochen. Die Regierungen der ganzen Welt, von Ausnahmen wie Kuba, Venezuela und Bolivien einmal abgesehen, teilen die westlichen Prinzipien privaten Eigentums an Produktionsmitteln und freien Warenaustauschs.Über die Formen der politischen Regulierung, mit denen die kapitalistische Akkumulation gefördert wird, gibt es in Beijing und Washington unterschiedliche Vorstellungen. Aber solche Meinungsverschiedenheiten bestehen auch innerhalb der EU ohne deren freihändlerischen Charakter in Frage zu stellen. Weder antikapitalistische Regimes oder Bewegungen stellen gegenwärtig eine Herausforderung für den neoliberalen Kapitalismus und seinen Weltmarkt dar, wohl aber die Widersprüche und Krisen, die er produziert hat.

Ein Zusammenbruch des Weltmarktes und damit der Übergang in eine globale Depression vergleichbar den 1930er Jahren konnte bislang verhindert werden. Andererseits hat das Krisenmanagement der vergangenen Jahre die Probleme von Überkapazitäten, Geldvermögen, für die es keine rentablen Anlagemöglichkeiten gibt, und globalen Ungleichgewichten nicht überwinden können. Angesichts dieser ungelösten Probleme ist es alles andere als sicher, dass die konzentrierte Macht des Westens die eigenen Freihandelsbestrebungen als Hebel für globale Liberalisierungen nutzen kann. Es ist ebenso gut möglich, dass der Westen mit seinen Initiativen unter sich bleibt und damit, entgegen den eigenen Absichten, einen regionalen Block bildet, der den Weltmarkt nicht integriert sondern fragmentiert. Statt Motor globalen Freihandels wären die entsprechenden Bemühungen der Nordatlantikanrainer ein Zusammenrücken des Westens, der die Weltbeherrschung nicht aufgeben will, obwohl er sie nicht mehr ausüben kann. Damit käme es zu einer Globalisierung von Unsicherheiten, zwischenstaatlichen Konflikten und Klassenkämpfen. In diesen Zeiten der allmählichen Zersetzung erscheint der Aufstieg der neoliberalen Globalisierung als geradezu idyllisch. Es war die Ruhe vor dem Sturm.