Indirekte Steuerung im Backoffice-Bereich des Finanzdienstleistungsgewerbes

Von Jörg Stadlinger

08.02.2014 / DGB gegenblende, 30.01.2014

In der gewerkschaftlichen Nachkrisen-Diskussion über die Finanzdienstleistungsbranche sind auch die in den Banken praktizierten Managementmethoden und ihre Folgen für Beschäftigte und Kunden zu einem Thema geworden. Konzentrierte sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die Steuerung des Vertriebsbereichs, so geraten in letzter Zeit die Reorganisationsprozesse in jenen Tätigkeitsfeldern in den Blick, die im Zuge der sogenannten „Industrialisierung des Bankgewerbes“ in relativ eigenständige Backoffice-Einrichtungen[1] (Cost-Center, Profit-Center, Transaktionsbanken) ausgelagert wurden.

Die in diesen Bereichen stattfindenden Veränderungen bei der Arbeitsorganisation und Unternehmenssteuerung sind allerdings kaum erforscht. Die bankwirtschaftliche Fachliteratur und die spärlichen sozialwissenschaftlichen Studien gehen in der Regel von zwei gegensätzlichen Rationalisierungsstrategien bei der Industrialisierung der Banken aus. Auf der einen Seite ermöglichen demnach neue Managementkonzepte für bestimmte Beschäftigtengruppen anspruchsvolle Aufgabenstrukturen und eine erweiterte Autonomie im Sinne einer Vergrößerung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen. Auf der anderen Seite sei eine vom Interesse der Kostenreduzierung getriebene ‚Taylorisierung’ der Arbeit zu beobachten, die die Selbstständigkeit der Beschäftigten auf ein Minimum zusammenschrumpfen lässt.

Gibt es eine Taylorisierung des Büros?

Während die Taylorisierungs-Tendenzen zwar auch im Vertriebsbereich - dem eigentlichen Anwendungsfeld der neuen Managementmethoden - anzutreffen wären, bilden die häufig als „Abwicklungsfabriken“ bezeichneten Backoffice-Einrichtungen den Kernbereich der zweiten Rationalisierungsstrategie. Folgt man diesem Interpretationsansatz, dann hat es die Interessenvertretung von Arbeitnehmern mit sehr unterschiedlichen Problemlagen und Formen der Leistungsintensivierung zu tun, die jeweils eigene arbeitspolitische Herangehensweisen erfordern.

Für die These einer Taylorisierung des Backoffice scheint zu sprechen, dass Formen der Standardisierung und Arbeitsteilung, die gemeinhin der „Wissenschaftlichen Betriebsführung“ Taylors zugeordnet werden, gegenwärtig in Backoffice-Einrichtungen Verbreitung finden. Betriebsräte beobachten eine Tendenz zur Zerlegung ehemals integrierter Arbeitsabläufe und zur Verengung des Zuschnitts der Einzeltätigkeiten, die mit einem Sinken der Qualifikationsanforderungen einhergeht und dadurch den Unternehmen den flexiblen und kostengünstigen Einsatz von ungelernten Arbeitskräften auf Zeit ermöglicht. Für viele Beschäftigte ist dies mit der Erfahrung einer Entwertung ihrer Fähigkeiten und einer „Entleerung“ der Arbeitstätigkeit verbunden. Es kommt hinzu, dass eigene Ansprüche an die Qualität der Arbeitsergebnisse oftmals mit explodierenden Fehlerquoten aufgrund von systematischen Abstimmungsproblemen zwischen den Teilfunktionen kollidieren. Wo das Management auf diese Entwicklung mit der Devise „quick and dirty“ [2] reagiert, wirkt sich der Bedeutungsverlust des Qualitätskriteriums negativ auf das Verhältnis der Beschäftigten zu ihrer Arbeit aus.

Trotzdem kann die Taylorisierungs-These nicht überzeugen. Zum einen sind nach Auskunft von Betriebsräten in vielen Backoffice-Einrichtungen immer noch ‚ganzheitliche’ Arbeitsformen und funktionsintegrierte Teams anzutreffen oder werden ‚tayloristische’ Gestaltungsmaßnahmen nach schlechten Erfahrungen wieder zurückgenommen. Grundsätzliche Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Deutung der ‚Industrialisierung’ kommen aber vor allem darum auf, weil die im Backoffice angewandten Steuerungsinstrumente als Indizien für einen Bruch mit jenem Prinzip der Unternehmensorganisation betrachtet werden können, das sich auf eine besondere Weise auch in der Gestalt des Taylor-Systems manifestiert.

Zielvorgaben und -vereinbarungen, Kennzahlen, Service-Level-Agreements (SLA), Benchmarking, Rankings und andere Managementinstrumente, die im Backoffice- und Vertriebsbereich gleichermaßen zum Einsatz kommen, können vorderhand als Beleg für den Übergang von der aufwandsorientierten Leistungssteuerung, wie sie u.a. Taylors Pensums-Gedanke propagiert, zu ergebnisorientierten Leistungssteuerung im Sinne Druckers (Vgl. Drucker 1969) gedeutet werden. Anders als bei der Vertriebssteuerung geht es in Backoffice-Einrichtungen, die gegenwärtig zumeist (noch) als Cost-Center verfasst sind, dabei freilich nicht um die Erreichung von Ertragszielen durch einzelne Mitarbeiter oder Teams, sondern eher um die Einhaltung eines vorgegebenen Budgets. Kennzahlen werden in Backoffice-Einrichtungen darüber hinaus vor allem im Rahmen von SLA’s eingesetzt. Über „solche Service-Versprechen an die Kunden wird für die Mitarbeiter ein immenser Druck aufgebaut“ (ein ver.di-Sekretär), der nicht nur über das Management, sondern auch im direkten Kontakt zwischen Vertriebs- und Backoffice-Mitarbeitern ausgeübt werden kann. Eine erfolgskritische Bedeutung haben in diesem Zusammenhang neben Kostenzielen vor allem Terminziele wie Durchlaufzeiten (z.B. bei der Bearbeitung von Kreditanträgen). Die von den Backoffice-Beschäftigten zu bewältigende Arbeitsmenge ist dabei letztlich vom Erfolg der Vertriebseinrichtungen abhängig, was unter Umständen zu einer erheblichen Verdichtung und Ausdehnung der Arbeitzeit führen kann. Welche Leistung die einzelnen Beschäftigten jeweils erbringen müssen, um das Ziel bzw.Erfolgskriterium - die Einhaltung der Durchlaufzeit - zu erfüllen, ist von Rahmenbedingungen wie dem Vertriebserfolg, der Personalbemessung, dem Krankenstand oder auch von der variierenden Komplexität der Geschäftsvorfälle abhängig, auf die sie sämtlich keinen Einfluss haben.

Mitarbeiter als Unternehmer im Unternehmen

Die mit der Zielsteuerung verbundene Abkehr von einer aufwandsorientierten Leistungssteuerung, die ‚Vermarktlichung’ der unternehmensinternen Verhältnisse, die Institutionalisierung von marktbezogenen Vergleichsprozessen (z.B. Benchmarking von SLA-relevanten Kennzahlen) sowie die Drohung mit Standortschließungen oder der Auslagerung von einzelnen Geschäftsprozessen zu externen Anbietern sind konstitutiv für eine Steuerungsform, die darauf abzielt, die Situation von selbständigen Unternehmern für abhängig Beschäftigte nachzubilden. Damit kommt es zugleich zu einer grundsätzlichen Veränderung der Art und Weise, in der die Selbständigkeit von Menschen in die Unternehmensorganisation eingebunden wird. Die ‚autonomietheoretische’ Bestimmung (s. Peters 2001) dieses Wandels ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis der neuen Arbeitsbedingungen von Beschäftigten aller Bankbereiche und der damit verbundenen betriebspolitischen Herausforderungen.[3]

Bei der tayloristischen Fabrikorganisation handelt es sich um eine Organisationsform, die auf dem geschichtlich älteren Prinzip der Unterordnung des Willens von Weisungsabhängigen unter den Willen von Weisungsbefugten beruht und darum auch als ‚Kommandosystem’ bezeichnet werden kann. In ihm operieren Vorgesetzte mit der Androhung von Sanktionen, um den Gehorsam der Untergebenen gegenüber ihren Befehlen zu erzwingen, sowie mit einer Kontrolle der Befehlsausführung. Motivationsprobleme, die das Kommandosystem selbst erzeugt, begegnet es mit den Mitteln der Belohnung, die bei Untergebenen einen Prozess derVerinnerlichung des Willens der Kommandanten befördert. Letzterer wiederum bildet die Voraussetzug für die Entstehung von Hierarchien sowie für jene spezifische Art und Weise, in der das Kommandosystem die Selbständigkeit von Menschen integriert und nutzt: nämlich in der Form der Gewährung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen. Die für das Kommandosystem typische Nutzung der Selbstständigkeit war für die Unternehmen freilich nur um den Preis der Gewährung bestimmter ‚Privilegien’ (Entlohnung, Arbeitsplatzsicherheit) zu haben und blieb somit auf bestimmte Beschäftigtengruppen (‚Hochqualifizierte’) beschränkt.

Indirekte Steuerung

Die neuen Managementmethoden liefern demgegenüber den praktischen Beweis, dass der Zugriff auf die Selbstständigkeit auch ohne solche Zugeständnisse möglich ist. Die neue,indirekte Steuerungsform erreicht das, „indem sie das Verhältnis des Willens des Einzelnen zur Organisation verändert: Während bei der direkten Steuerung die Unterordnung des eigenen Willens durch die Verinnerlichung des fremden Willens ergänzt wird, wird sie bei der indirekten Steuerung durch die Funktionalisierung des eigenen Willens für den Unternehmenszweckersetzt.“ (Peters 2011: 111) Die neue Form der Einbindung der Selbstständigkeit in die Unternehmensorganisation setzt darauf, dass sich durch die Nachbildung der Situation von selbständigen Unternehmern und die Instrumentalisierung des Einflusses sozialer Eigendynamiken auf Willensbildungsprozesse bei abhängig Beschäftigten unternehmerische Handlungsmotive erzeugen lassen. Dabei macht sie sich zu Nutze, dass es sich bei der unternehmerischen Selbständigkeit ihrerseits um eine heteronom bedingte Autonomie handelt.

Indirekt gesteuerte Beschäftigte sollen nicht mehr tun, was ihnen gesagt wird. Sie sollen vielmehr selbstständig auf Rahmenbedingungen reagieren, die sich einerseits aus der Eigendynamik martkförmiger Prozesse außerhalb und innerhalb des Unternehmens undandererseits aus der unternehmensinternen Definition von Erfolgsmaßstäben durch das Management ergeben. Das hat gravierende Auswirkungen auf die Bewertungskriterien der Arbeit sowie auf die Interessenstruktur, die Orientierungen und das Verhalten von Arbeitnehmern. Die Hoffnung auf Erfolg tritt an die Stelle der ‚Motivation’ durch Lob & Belohnung, die Angst vor dem existenzgefährdenden Misserfolg an die Stelle der Angst vor Sanktionen. Es „zählt“ nicht mehr die erbrachte Leistung, sondern der Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens, dessen aus der Markt- und Konkurrenzsituation abgeleitete Maßstäbe von den Grenzen der Leistungsfähigkeit abstrahieren. Durch die indirekte Steuerung wird bei Arbeitnehmern ein eigenes unternehmerisches Interesse erzeugt. So berichtet eine Betriebsrätin aus einer Backoffice-Einrichtung: „Wir [...] bekommen 2014 eine 39 Std.-Woche. Und da kommt dann jetzt schon die Frage von den Kollegen, die sagen: ‚Ich freue mich, dass ich demnächst die 39 Stunden habe, aber wie soll ich in 39 Stunden meine Arbeit schaffen?’ So weit sind wir schon! Die machen sich die Gedanken, die sich eigentlich die Führung machen müsste.“ Dem entspricht die Beobachtung von Betriebsräten, dass Backoffice-Beschäftigte heute die zu ihrem Schutz erkämpften Regelungen der Arbeitszeit und des Gesundheitsschutzes selber unterlaufen und sich dabei von ihren Interessenvertretern und wohlmeinenden Vorgesetzten nicht stören lassen wollen: „Im Rahmen der Gleitzeit soll jeder seine Arbeitszeit ja selber organisieren. Dabei kommt dann heraus, dass man den Ausgleich der geleisteten Mehrarbeit immer auf später verschiebt. [...] Da werden Pausen durchgearbeitet, da kommt man vor der Stempelzeit zur Arbeit oder geht nach der Stempelzeit noch mal zurück an die Arbeit oder man überzieht die zehn Stunden.“ Und: „Es gibt Abteilungsleiter, wenn wir denen die Reportings zur Arbeitszeitverletzung zeigen, sagen die dann: ‚Ich kann die Leute doch nicht wegjagen [...] Diese Frau z.B., die brauche ich, [...] ich will nicht, dass die krank wird, die soll ihre Arbeitszeit einhalten und gehen. Und ich sage ihr das auch immer. Aber die hört nicht auf mich’.“

Mehr Druck durch mehr Freiheit

Die neue Autonomie in der Arbeit zeigt sich darin, dass die Beschäftigten nun eigenständig auf die vorhanden Rahmenbedingungen reagieren und - unter dem Druck von Konkurrenz und Kundenerwartungen - selber mit den Problemen in der Arbeit zurechtkommen müssen. Entgegen der gängigen Ansicht von betrieblichen Praktikern und Arbeitswissenschaftlern und anders als bei der Selbstständigkeit im Kommandosystem ist der Autonomie-Gewinn, der mit dem neuen Typ der Selbstständigkeit von abhängig Beschäftigten verbunden ist, jedoch nicht an einer Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen festzumachen. Die Spielräume, die Unternehmensleitungen unter den Bedingungen der direkten Steuerung zwecks Nutzung der Selbstständigkeit gewährten, waren oftmals sogar größer als die Spielräume, die sich für die Beschäftigten unter den Bedingungen der indirekten Steuerung ergeben.

Der Unterschied zwischen ‚alter’ und ‚neuer’ Unternehmenssteuerung ist nicht gradueller, sondern prinzipieller Natur. Was die in Backoffice-Einrichtungen zu beobachtende Prozessstandardisierung und Zergliederung integrierter Arbeitsabläufe anbelangt, so handelt es sich nicht um eine Taylorisierung im Sinne der Rückkehr zu einer geschichtlichen Erscheinungsform des Kommandosystems. Es ist eher davon auszugehen, dass sich heute im Backoffice entsprechende Tendenzen der Arbeitsgestaltung unter den Bedingungen der indirekten Steuerung vollziehen.

Herausforderung für die Interessenvertretung

„Selbstständig sein, die Probleme selber lösen können, das ist ja im Grunde genommen nicht falsch. Wir sind ja erwachsene Menschen. Aber so, wie das bei uns läuft, geht das immer auf Kosten der Mitarbeiter.“ Diese Äußerung einer Betriebsrätin aus dem Backoffice-Bereich benennt den Punkt, hinter den strategische Überlegungen zur betrieblichen Vertretung von Arbeitnehmerinteressen unter den Bedingungen neuer Steuerungsformen nicht zurückfallen dürfen. Die Rückkehr zum Kommandosystem ist keine realistische oder auch nur wünschbare Alternative. Das Prinzip einer Neuausrichtung der Arbeits- und Betriebspolitik müsste vielmehr die Stärkung der Autonomie der Beschäftigten im Sinne der Förderung eines selbstständigen Verhältnisses zur neuen Selbstständigkeit in der Arbeit sein. Verwirklichen lässt sich eine solche politische Orientierung nur über eine widerständige Auseinandersetzung

  • mit derInstrumentalisierung des eigenen Willens der Individuen durch die neuen Managementmethoden, mit ihren Auswirkungen auf das eigene Denken und Verhalten und einem damit einhergehenden neuen Typ der gesundheitlichen Selbstgefährdung (Vgl. Peters 2011).

  • mit fortdauernden Strukturen des Kommandosystems, die je nach dem Entwicklungsstand der indirekten Steuerung in den Unternehmen mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können.

  • mit Formen der Spezialisierung und Standardisierung, die die Möglichkeit der Selbstentfaltung in der Arbeit beschränken und die Arbeit für die Individuen ‚entwerten’.

Der Widerstand gegen die beiden zuletzt genannten Aspekte kann am Widerspruch zwischen der Steuerung über Ziele einerseits und Strukturen und Methoden andererseits ansetzen, die die Entfaltung der unternehmerischen Selbständigkeit behindern und damit auch die von den Unternehmen angestrebten Wirkungen der ergebnisorientierten Leistungssteuerung konterkarieren. Dieses Widerspruchsverhältnis ist nicht nur für die Beschäftigten mit besonderen Belastungen verbunden. Es bringt auch für die Unternehmen negative Effekte mit sich, darunter eine mangelhafte Qualität der Arbeitsergebnisse, demotivierte Mitarbeiter und unzufriedene Kunden. Offensichtlich geraten in Backoffice-Einrichtungen Formen der Spezialisierung und Prozessstandardisierung, die den Einsatz qualifizierter Arbeitskräfte entbehrlich machen sollen, immer wieder in Gegensatz zur Komplexität bestimmter Sachbearbeitungsvorgänge, deren sachgemäße Ausführung eigentlich höhere Qualifikationen, ‚ganzheitliche’, funktionsintegrierte Arbeitsweisen und große Spielräume erfordert. Arbeitspolitische Initiativen der Betriebsräte können sich dabei auf Einsichten der ‚Allgemeinen Managementlehre’ und der bankwirtschaftlichen Fachliteratur berufen, die Abstimmungsprobleme und Friktionen im Gefolge der ‚Kleinteiligkeit’ der Arbeit und einer entsprechenden Ablauforganisation als Quelle hoher Fehlerquoten identifiziert haben.

Die Beseitigung der genannten äußeren Beschränkungen der neuen Selbstständigkeit ist freilich noch keine zureichende Antwort auf jene Probleme, die in ihrer besonderen, für die Wirkungsweise der indirekten Steuerung konstitutiven Form - ihrer spezifischen Einheit von Autonomie und Heteronomie - begründet sind. Das bedeutet auch, dass eine Neuaufnahme des HdA-Konzepts in der Auseinandersetzung mit der in Backoffice-Einrichtungen verbreiteten ‚Low-Cost-Strategie’ der Arbeitsgestaltung zu kurz greifen würde. Dies in erster Linie darum, weil die besagte Konzeption auf eine bestimmte historische Form des Kommandosystemszugeschnitten war und letzteres auch das der HdA-Programmatik zugrunde liegende Autonomie-Verständnis prägte. Die HdA-Forderungen nach mehr Selbstständigkeit in der Arbeit durch Jobenrichment und -enlargement waren den damaligen Verhältnissen zweifellos angemessen und berechtigt. Entsprechende Rückgriffe in der Auseinandersetzung mit bestimmten Formen der Spezialisierung und Standardisierung bedürfen allerdings heute einer Reformulierung im Kontext einer arbeitspolitischen Strategie, die sich auf dem Niveau der „organisatorischen Revolution“ (Sauer 2012) befindet.

Das zeigt vor allem ein bereits erwähntes betriebspolitisches Schlüsselphänomen: Beschäftigte, die in der Verfolgung eines durch die indirekte Steuerung erzeugten unternehmerischen Interesses Regelungen, die ihrem eigenen Schutz dienen, unterlaufen und dabei ihre Gesundheit riskieren. Bislang bewährte Instrumente der Interessenvertretung und des betrieblichen Gesundheitsschutzes scheinen hier nicht mehr zu greifen. Und immer häufiger müssen Betriebsräte sogar erleben, dass sie in eine Konfrontation mit denjenigen geraten, deren Interessen sie vertreten wollen. Dieser Umstand kann als ein Beleg dafür genommen werden, dass die herkömmliche Form der Stellvertreterpolitik und ein an der Wirksamkeit von Regelungen orientiertes Politikverständnis an ihre Grenzen stoßen. Regelungen werden auch unter den neuen Bedingungen keinesfalls obsolet. Aber wenn der Versuch, ihre Einhaltung zu erzwingen, auf den Widerstand der Beschäftigten stößt und daraus die Gefahr eines Zerfalls der machtpolitischen Basis von Regelungen erwächst, bedürfen letztere einer neuen politischen Fundierung (s. Peters 2001: 109).

Solidarität und Repräsentation im Betrieb

Die neue Unternehmenssteuerung stellt die Menschen vor die Aufgabe, nicht nur die Probleme des Arbeitsalltags selbstständig anzugehen, sondern auch die Wahrnehmung der eigenen Interessen selber in die Hand zu nehmen. Das stellt die herkömmliche Form der Stellvertreterpolitik in Frage, nicht aber die Notwendigkeit solidarischen, organisierten Handelns. Betriebspolitische Initiativen zur Förderung der Selbstständigkeit werden die Verstärkung von Isolierungstendenzen und Konkurrenzverhältnissen zwischen Unternehmenseinheiten, Teams und Individuen im Gefolge der neuen Steuerungsmethoden mit der Entwicklung neuer Organisationsformen des Verhältnisses von Individuum und Kollektivität beantworten müssen.

Wenn es richtig ist, dass die neuen Steuerungsmethoden bei abhängig Beschäftigten ein eigenes unternehmerisches Interesse erzeugen, kann der Inhalt eines gemeinsamenArbeitnehmerinteresses von den Organen der Interessenvertretung nicht mehr alsselbstverständlich vorausgesetzt werden. Die Grundlage der Interessenvertretung ist heute nur in kollektiven Selbstverständigungsprozessen zu klären, in denen Beschäftigte ihr Interesse als Arbeitskraftverkäufer (Lohn) und ihr Interesse als ‚Unternehmer ihm Unternehmen’ (Erfolg) sowie die daraus entspringenden Interessenkonflikte in die Perspektive einer Auseinandersetzung mit der Frage rücken, was für sie selber als Individuen gut ist - und was die freie Entfaltung ihrer Individualität behindert. Die Devise für solche Verständigungsprozesse lautet: „Jeder muss selber wissen, was für ihn selber gut ist, aber keiner kann es alleine herausfinden“ (Peters). Die Bedeutung des ‚Kollektiven’ nimmt damit nicht ab, sondern zu: Es spielt nicht erst bei der Durchsetzung, sondern schon im Prozess der Identifizierung der eigenen Interessen eine zentrale Rolle.

Eine zentrale Aufgabe der betrieblichen Interessenvertretung von Arbeitnehmern wird darum in der Erkämpfung von betrieblichen Freiräumen für derartige Klärungsversuche bestehen, die sich in Form und Inhalt von der institutionalisierten Kommunikation unterscheiden. Diese Selbstverständigungsprozesse müssen die Artikulation von Erfahrungen und Befindlichkeiten ermöglichen, die in den ‚Erfolgskulturen’ der Unternehmen sonst nicht zur Sprache kommen.Vor allem aber sollten sie den Beschäftigten die Möglichkeit einer begreifenden Auseinandersetzung mit der Funktionsweise der neuen Unternehmenssteuerung, mit ihren Auswirkungen auf das eigenen Denken und Verhalten, auf die Widersprüchlichkeit der eigenen Interessenstruktur eröffnen.

Literatur

Bludau-Hoffmann, H./Eberle, R./Holz-Skibinski, K./Spadzinski, U. (2010): Gute Arbeit und Faire Arbeit im Finanzdienstleistungssektor. In: Schröder, L./Urban, H.-J. (Hrsg.): Gute Arbeit 2010, Frankfurt/M., 190-200.

Bludau-Hoffmann, H./Laimer, J. (2012): Gute und faire Arbeit in den Sparkassen? In: Schröder, L./Urban, H.-J. (Hrsg.): Gute Arbeit 2012, Frankfurt/M., 330 - 342.

Drucker, P. F. (1969): Die Praxis des Managements. Ein Leitfaden für die Führungsaufgaben in der modernen Wirtschaft, Düsseldorf/München.

Peters, K. (2001): Die neue Autonomie in der Arbeit. In: Glißmann, W./Peters, K.: Mehr Druck durch mehr Freiheit. Hamburg.

Peters, K. (2001): Woher weiß ich, was ich selber will? In: Glißmann, W./Peters, K.: Mehr Druck durch mehr Freiheit, Hamburg.

Peters, K./Sauer, D. (2005): Indirekte Steuerung - eine neue Herrschaftsform. Zur revolutionären Qualität des gegenwärtigen Umbruchprozesses. In: Wagner, H. (Hrsg.): „Rentier’ ich mich noch?“ - Neue Steuerungskonzepte im Betrieb, Hamburg, 23 - 58.

Peters, K. (2011): Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung, Eine 180-Grad-Wende bei der betrieblichen Gesundheitsförderung. In: Kratzer, N./, Dunkel, W./Becker, K./Hinrichs, S. (Hrsg.): Arbeit und Gesundheit im Konflikt. Analysen und Ansätze für ein partizipatives Gesundheitsmanagement, Berlin, 105 - 125.

Sauer, D. (2013): Die Organisatorische Revolution. Umbrüche in der Arbeitswelt - Ursachen, Auswirkungen und arbeitspolitische Antworten, Hamburg.

Schumann, M. (1998): Frißt die Shareholder Value-Ökonomie die Modernisierung der Arbeit?In: Hirsch-Kreinsen, H./Wolf, H. (Hrsg.): Arbeit, Gesellschaft, Kritik. Orientierungen wider den Zeitgeist. Berlin.

Stadlinger, Jörg (2013): Industrialisierungsprozesse und neue Steuerungsformen im Backoffice-Bereich des Finanzdienstleistungsgewerbes. Herausforderungen für die betriebliche Interessenvertretung?, Berlin (http://www.boeckler.de/pdf_fof/S- 2012- 614-1-1.pdf)

Voß, G.G./Pongratz, H. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 1/Jg. 50, 131 - 158.

[1] In diesen Bereich fallen Tätigkeiten wie die Abwicklung des Zahlungsverkehrs, Kontoführung, Prüfung von Kreditanträgen, Einlagengeschäft, Verfassen von Kundenbriefen, Telefonkontakte usw.

[2] Dieses Zitat wie auch die im Folgenden zitierten Aussagen von Betriebsräten und eines ver.di-Sekretärs stammen aus Experteninterviews, die im Rahmen der bereits erwähnten Studie durchgeführt wurden.

[3] Die folgenden steuerungstheoretischen Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf den Überlegungen von Klaus Peters (s. Peters 2001; Peters/Sauer 2005; Peters 2011)