»Der Euro war der Preis für die deutsche Einheit«

Interview der Woche mit Gregor Gysi

04.10.2012 / linksfraktion.de, 02. Oktober 2012


Der 3. Oktober ist der Tag der Deutschen Einheit. Erinnert wird an das "Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland". Spielt das heute aus Ihrer Sicht noch eine Rolle, dass es ein Beitritt und keine Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten war?

Gregor Gysi: Viele Ostdeutsche hätten eine demokratische Vereinigung auf gleichberechtigter Grundlage nach Artikel 146 Grundgesetz bevorzugt, nach der eine neue gesamtdeutsche Verfassung per Volksentscheid in Kraft getreten wäre. Das hätte ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Die Westdeutschen hätten ein anderes Vereinigungserlebnis gehabt.

Eine neue Verfassung gibt es bis heute nicht...

Die frühere PDS hatte Anfang der neunziger Jahre im Deutschen Bundestag einen Verfassungsentwurf eingebracht, der die zentralen Grundrechte des Grundgesetzes übernahm, die Erfahrungen des Runden Tisches der DDR aufgriff und die sozialen Grundrechte betonte, um die deutsche Einheit auf Basis des Artikel 146 zu vollziehen. Das wurde von den anderen Parteien jedoch abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, das Grundgesetz sei ausreichend und eine neue Verfassung nicht notwendig. Eine diesbezügliche Regelung steht immer noch aus, zumal der Artikel 146 in neuer Fassung Bestand hat. Allerdings muss aufgepasst werden, dass eine Verfassungsdiskussion das bestehende Grundgesetz nicht verschlechtert. Föderalismus bei der Bildung und Schuldenbremse im Grundgesetz zeigen die Gefahren. Allerdings könnte diese Diskussion von einer ganz anderen Seite her beginnen, wenn es um eine Volksabstimmung über den künftigen Weg Europas und die Abtretung von Souveränitätsrechten an europäische Institutionen geht. Darauf muss DIE LINKE gut vorbereitet sein.



Wie erleben Sie die Menschen im Land? Was eint sie, was trennt sie und was davon geht auf die Geschichte der beiden deutschen Staaten zurück?

Bei der jüngeren Generation, die die Existenz zweier deutscher Staaten nicht oder nur im Kindesalter erlebten, hat sich die innere Einheit weitergehend vollzogen. Bei den Älteren gibt es unterschiedliche Erfahrungen. Das reicht bei den Ostdeutschen von schweren Enttäuschungen und Demütigungen durch die Art und Weise der Vereinigung, weil ihre Biografien missachtet wurden und sie einen sozialen und beruflichen Abstieg hinnehmen mussten, bis zu Erfolgsstories, in jeder Beziehung "angekommen" zu sein.

Die Union hat in der vergangenen Woche Altkanzler Helmut Kohl gewürdigt, weil er vor 30 Jahren zum Bundeskanzler gewählt wurde. Er war 1990 Kanzler. Wie sehen Sie seine Rolle im Vereinigungsprozess?

Helmut Kohl konnte am allerwenigsten dafür, dass er zum "Kanzler der Einheit" wurde. Wäre die SPD damals an der Regierung gewesen, dann hätte der Einheitskanzler einen sozialdemokratischen Namen. Viele seiner damaligen Entscheidungen wie das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung, die Privatisierungspolitik der Treuhand, die Missachtung der ostdeutschen Eliten waren und bleiben aus unserer Sicht falsch. Man muss ihm aber zugute halten, dass er das berühmte "Fenster der Gelegenheit" beim Schopfe packte, auch ein Gespür für die ostdeutsche Mentalität besaß und die Chancen, die deutsche Einheit gegenüber den ehemaligen Siegermächten zum Teil gegen deren erhebliche Widerstände durchzusetzen, nutzte. Gelegentlich bewies er Maß.

Kohl propagierte bis zum Ende seiner Kanzlerschaft die Einführung des Euro - allen Konstruktionsmängeln zum Trotz. Sie haben vor diesen Mängeln gewarnt. Warum konnten oder wollten viele ihre Warnungen nicht hören?

Es waren nicht nur wir, sondern namhafte Ökonomen und führende Politiker auch aus anderen Parteien, die ihre Skepsis gegenüber einer solchen Einführung einer gemeinsamen Währung zum Ausdruck brachten. Die Kritiker waren Verfechter der so genannten Krönungstheorie, nach der die Schaffung einer gemeinsamen Euro-Währung am Ende eines Prozesses der wirtschaftlichen Angleichung stehen müsse, da die großen Unterschiede in den Handelsbilanzen und in der Produktivität eine Gemeinschaftswährung letztlich sprengen würde. Die Krönungstheoretiker und die damalige PDS, die ihre Kritik mit dem Slogan "Euro – so nicht!" auf den Punkt brachte, hatten aus heutiger Sicht recht. Aber für Kohl galt, anders als für Schröder und Merkel, das Primat der Politik. Das war bei der ebenfalls umstrittenen deutsch-deutschen Währungsunion ebenso wie beim Euro. Der Euro war der Preis für die deutsche Einheit, den vor allem Frankreich verlangte, um ein größeres und wirtschaftlich stärkeres Deutschland noch enger in die EU einzubinden.

Die Eurokrise hält Europa nach wie vor in Atem – der Ausgang ist ungewiss. Sehen Sie Parallelen zwischen dem deutschen Vereinigungsprozess und der Situation in Europa heute?

Die deutsch-deutsche Währungsunion hatte, insofern gibt es in der Tat Parallelen zum Euro, schwerwiegende und nachteilige Folgen für die DDR-Wirtschaft, denn die schockartige Einführung der D-Mark-West brach der DDR-Wirtschaft das Genick. Sie wirkte für sie wie eine Aufwertung ihrer Währung, so dass der Außenhandel der DDR zum Erliegen kam. Der Unterschied zum Euro besteht im Kern darin, dass die DDR nicht nur die D-Mark, sondern das gesamte damit verbundene Finanz- und Geldsystem 1:1 übernahm und die D-Mark von der überwiegenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR auch gewollt wurde.

Viele Menschen haben das Gefühl, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann. Staat und Gesellschaft stehen vor Veränderungen. Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR haben einen Transformationsprozess bereits erlebt. Wie können sie diese Erfahrungen nutzen und vielleicht ja auch weitergeben, um jetzt notwendige Veränderungen in Gang zu setzen?

Die älteren Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland sind zum Beispiel in einem höheren Maße für soziale Gerechtigkeit sensibilisiert, was mit ihren Erfahrungen in der DDR ebenso zusammenhängt wie mit ihren Erwartungen, ein bestimmtes Maß an sozialer Sicherheit auch im vereinigten Deutschland vorzufinden. Aber diese Erwartungen wurden mit dem Siegeszug der deutschen Variante des Neoliberalismus, der Agenda 2010 unter SPD und Grünen, bitter enttäuscht. Diese Grundwerte von Solidarität und mehr Egalität, die wichtig sind für das Zusammenleben in einer Gesellschaft, sind im Osten ausgeprägter als im Westen und insofern sehr wichtig, wenn es um mehr Gerechtigkeit in Deutschland geht.