Nägel mit veränderten Köpfen

Tom Strohschneider im FREITAG über die Diskussion zur Lohnuntergrenze

03.11.2011 / 1.11.2011

Nein, der Mindestlohn der CDU ist natürlich keine Revolution. Und doch verweist der Schwenk Merkels auf geöffnete Räume, in welche die Linken nun weiter vorstoßen müssen

So richtig klar scheint vielen nichts zu sein: Während die Mindestlohn-Kritiker bei Schwarz-Gelb den angeblichen Mindestlohn-Schwenk von Angela Merkel kritisieren, die Zeitungen der Kanzlerin wahlweise Mindestlohn-Plagiat oder die Zerstörung der CDU per Mindestlohn vorwerfen, weisen andere darauf hin, dass es um einen politischen Mindestlohn gar nicht gehe, sondern lediglich um eine Erweiterung der ohnehin bestehenden Mindestlohn-Regeln – und das auch noch auf eher bescheidenem Mindestlohn-Niveau. Linksruck? Genossin Angela? Ein Tabubruch?


Der Antragstext zum CDU-Bundesparteitag spricht nicht für eine Revolution, wohl aber dokumentiert er einen Wandel: „Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Die Lohnuntergrenze wird durch eine Kommission der Tarifpartner festgelegt, die Höhe der Lohnuntergrenze soll sich am Tarifabschluss für Zeitarbeitnehmer orientieren. Wir wollen eine durch die Tarifpartner bestimmte und damit marktwirtschaftlich organisierte Lohnuntergrenze und keinen politischen Mindestlohn.“

Nun lässt sich vortrefflich darüber streiten, ob hier nicht gerade doch eine politische Vorgabe formuliert ist, zumal mit der Koppelung an die Zeitarbeit. Und mehr noch steht die Frage längst auch im schwarz-gelben Raum, ob der Hinweis auf die Tarifautonomie und die angebliche Schädlichkeit staatlicher Vorgaben noch den Realitäten entspricht. Die Frankfurter Allgemeine geht ein paar Schritte voraus und meint: Der Staat müsse „eine Lohnuntergrenze bestimmen, die die Würde des Vollzeitarbeitnehmers wie die Nichtbelastung der Staats- und Sozialhaushalte sicherstellt. Für diese Festlegung sind aber die Tarifparteien allein ungeeignet – das beweist gerade die hohe Zahl sogenannter Aufstocker. Auch wenn sich Gewerkschaften und Arbeitgeber – aus welchen Motiven auch immer – einmal auf einen nicht-existenzsichernden Lohn einigen sollten, muss der Staat das Recht in Anspruch nehmen, eine nach politischen und verfassungsrechtlichen Maßstäben gesamtgesellschaftlich angemessene Lohnuntergrenze zu verordnen. Das ist keine Verletzung der Tarifhoheit, denn oberhalb dieser Linie haben die Partner alle Freiheiten zu Vereinbarungen.“

Wer hat's erfunden?

Vor ein paar Jahren war eine solche Auffassung noch randständig, sie wurde von Wahlalternative und PDS, später der Linken und einigen wenigen bei SPD und Grünen erhoben, stieß auf ebenso breite wie besserwisserische Ablehnung. Nicht einmal im Gewerkschaftslager hatte sie eine Mehrheit. Inzwischen ist das anders, die Fakten sind allgemein präsent, das Beispiel der Nachbarländer gegenwärtig, der Skandal begriffen, der darin liegt, wenn über das Aufstocken mit öffentlichen Mittel die profitablen Dumpingsrategien von Unternehmen subventioniert werden. Es hat eine hegemoniale Verschiebung stattgefunden – eine Bewegung des Denkens und Redens, zu der die Kampagnen der doch irgendwann auf Mindestlohn-Linie eingeschwenkten Gewerkschaften und selbstverständlich auch jene der Linkspartei, linker Sozialdemokraten und Grüner einen Beitrag geleistet hat. Wer hat‘s erfunden? „In der politischen Debatte gibt es nun ein Wettrennen, verbunden mit der Hoffnung auf den kollektiven Gedächtnisverlust um sich das Etikett ,Erster‘ umhängen zu können“, schreibt Linken-Vize Halina Wawzyniak, „SPD und auch Gewerkschaften meinen den Mindestlohn für sich reklamieren zu können.“

„Links wirkt“, hieß das einmal bei der Partei, gelegentlich war vom „Ricola-Prinzip“ der Politik die Rede und an anderer Stelle vom Dilemma, das sich aus dieser Form von relativem politischem Erfolg ergibt. Heute gehört der Satz, die anderen Parteien würden bei der Linke abschreiben, zum Standardrepertoire von Klaus Ernst und anderen. Vor ein paar Tagen erst hat Fraktionsvize Dietmar Bartsch darauf hingewiesen, dass sich die politische Konkurrenz „fleißig bei der Linken bedient“, nicht zuletzt in Sachen Mindestlohn. „Heute sind bisweilen aus unserer Partei Bedauern und sogar Empörung ob des Ideenklaus zu vernehmen“, so Bartsch weiter. „Das sehe ich anders. Wir wollen doch die Gesellschaft verändern, nicht bloß Recht behalten.“

Für die kommende Woche hat die Linke eine Aktuelle Stunde im Bundestag beantragt. Dann wird es um zweierlei gehen: um die große Kluft zwischen einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von zehn Euro, wie ihn die Linkspartei anstrebt, und dem CDU-Modell. Das strebt nicht nur eine eingeschränkte Geltung an, sondern mit der Orientierung an der Zeitarbeit – wo der Mindestlohn bei 6,89 Euro im Ostdeutschland und bei 7,79 Euro im Westen liegt – eine sowohl regional diskriminierende als auch insgesamt deutlich zu niedrige Regel. Unter acht Euro lässt sich weder für ein angemessenes Auskommen sorgen noch Altersarmut verhindern.

Wer sagt hier: Besser spät als nie

Es wird in der politischen Diskussion nun außerdem ein Wettstreit um die Urheberschaft zu beobachten sein. Die Sozialdemokraten werden die Werbetrommel rühren, Generalsekretärin Andrea Nahles hat der Union bereits Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Pläne angeboten und Gesetzesvorlagen aus der Amtszeit des früheren Arbeitsministers Olaf Scholz offeriert. Die Sozialdemokraten, die vor wenigen Jahren noch gegen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn waren, rufen der Union sogar ein „besser spät als nie“ entgegen. Die Linke wird dagegen auf ihre zahlreichen parlamentarischen Initiativen für einen echten gesetzlichen Mindestlohn verweisen, zuletzt wurde ein solcher Antrag vor ein paar Tagen eingebracht – unter Verweis auf die Europäische Sozialcharta wird darin ein Mindestlohn gefordert, der noch in dieser Wahlperiode auf zehn Euro brutto pro Stunde erhöht wird und jährlich mindestens in dem Maße wächst, wie die Lebenskosten steigen“.

Wer den Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen als Beleg dafür nimmt, wie weit der Diskurs zu Gunsten eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in den vergangenen Jahren tatsächlich verschoben werden konnte, kann einerseits nicht in Euphorie ausbrechen. Dazu ist der Vorstoß nicht ausreichend genug, er zeigt zunächst einmal die parteipolitischen und gesellschaftlichen Widerstände, ein praktisches Ergebnis würde beim Merkel-Mindestlohn ohnehin erst in den Kommissionen der Tarifpartner erzielt, wo wiederum andere soziale Kräfte wirken und eine Lohnuntergrenze zum Spielball von Krisenkorporatismus und Standortdenken werden kann.

Eine Lösung „von oben“, zu der jede zuerst „von unten“ formulierte Forderung werden kann, wenn sie von den Regierenden aufgegriffen und dabei politisch absorbiert wird, wirft außerdem Probleme auf. Sie beantwortet jedenfalls nicht die offenen Fragen von geringem gewerkschaftlichem Organisationsgrad und schwacher Tarifbindung, von neuen Arbeitswirklichkeiten und dem Solidaritätsproblem zwischen den Beschäftigten in den tariflichen Hochzonen und der wachsenden Zahl von Prekarisierten. Nicht zuletzt wäre ein echter Mindestlohn günstigen Falles nur ein Pfeiler eines umfassenderen sozialpolitischen Konzepts, in dem es unter anderem auch um Arbeitszeitverkürzung und Grundsicherung gehen müsste – und nicht zuletzt um die real existierenden Probleme von Langzeiterwerbslosen.

Hegemoniale Verschiebung

Andererseits ist der Wandel, so unzureichend und langsam er einem erscheinen mag, nicht zu übersehen. (Siehe zum Beispiel auch die wachsende Zahl von landesgesetzlichen Regelungen zur Tarifbindung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.) Die Kunst wird darin bestehen, von links auf die gravierenden Schwächen des „Mindestlohn-Schwenks“ der Union zu verweisen – und trotzdem den Schwung mitzunehmen. Wenn man so will, sind die Linken (nicht nur die gleichnamige Partei) jetzt mit dem Übergang vom Kampf für einen gesetzlichen Mindestlohnes zu einem Kampf um dessen Höhe und Ausgestaltung konfrontiert – das bedeutet gegebenenfalls auch, die eigenen politischen Strategien anzupassen. Es gilt, jetzt weiter in die Räume vorzustoßen, welche durch die hegemoniale Verschiebung in Sachen Mindestlohn eröffnet sind.

Dabei ist der Vorschlag des Linksparteichefs sicher nur eine Variante von vielen. Klaus Ernst hat „jetzt Nägel mit Köpfen“ gefordert und Merkel aufgerufen, „die im Bundestag vertretenen Parteien sowie die Sozialpartner einzuladen, um einen parteiübergreifenden Mindestlohnkonsens zu erarbeiten“. Die Interessen von Kapital und Arbeit lassen sich freilich nicht am Verhandlungstisch „aufheben“, allenfalls ein neuer Stand in den sozialen Auseinandersetzungen kodifizieren. Das ist nicht nichts. Die Chance ist günstiger denn je, die Regierung in dieser Frage zu treiben. Man wird sehen, wie Gewerkschaften, die Parteien des gewachsenen Mindestlohn-Lagers und die sozialen Bewegungen diese Möglichkeit nutzen.