Abkehr von der Schuldenbremse für NRW?

Bernhard Sander: DIE LINKE vor der Haushaltsentscheidung

21.11.2010 / www.sozialismus.de

Die rot-grüne nordrhein-westfälische Landesregierung hat Ende September einen Nachtragshaushalt sowie einen Gesetzentwurf zur Änderung des Gemeindefinanzierungsgesetzes 2010 vorgelegt, über den der Landtag im Dezember endgültig abstimmen soll. Scheitert die Grünen-SPD-Minderheitsregierung damit, wird es in Nordrhein-Westfalen zu Neuwahlen kommen – vermutlich noch vor den ersten regulären der sechs Landtagswahlen des kommenden Jahres.

Der Nachtragshaushalt hat ein Gesamtvolumen von plus 2,7 Mrd. Euro und enthält viele Korrekturen, die umgesetzt werden müssen, weil die vorherige schwarz-gelbe Koalition keinen soliden Haushalt beschlossen hatte:

  • 236,5 Mio. Euro für Nachteilsausgleich »Wohnentlastung« an die Kommunen
  • 11 Mio. Euro Erstattung an die Nahverkehrsunternehmen für die Einführung eines Sozialtickets, die im Landtagswahlkampf für Europas größten Verkehrsverbund bereits grundsätzlich verkündet worden war
  • 16 Mio. Euro Mehrausgaben beim Wohngeld
  • 6,8 Mio. Euro für 1.656 Mehrstellen bei Personal.

Der Nachtragshaushalt erhöht die Nettoneuverschuldung des Landes auf 8,2 Mrd. Euro. Dieser Betrag liegt niedriger als anfangs geplant, da der konjunkturelle Aufschwung auch höhere Steuereinnahmen bringt (etwa 400 Mio. Euro). Die zusätzliche Verschuldung will die CDU gleichwohl zum Anlass nehmen, die Landesregierung zu verklagen. Sie wird trotz der Tatsache, dass auch die CDU-Oberbürgermeister der notleidenden Kommunen betroffen wären, gegen den Haushalt stimmen. Die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW braucht also eine Stimme für den Nachtragshaushalt.

Kern der Reform der Gemeindefinanzierung ist die Beteiligung der Kommunen an der Grunderwerbsteuer mit rund 133 Mio. Euro und die Befreiung von der Konsolidierung des Landeshaushaltes mit ca. 166 Mio. Euro. Zu diesen 299 Mio. Euro kommen noch einmal 150 Mio. Euro für den Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren in Tageseinrichtungen hinzu – es geht also um insgesamt 449 Mio. Euro.

Da die Landesregierung ankündigt, die seit 2006 gestrichene Beteiligung der Kommunen an der Grunderwerbsteuer »wieder einzuführen«, ist davon auszugehen, dass die Kommunen in den folgenden Jahren über 100 Mio. (23% von 4/7 des Steueraufkommens – 2010 ca. eine Mrd. Euro) weiterhin erhalten. Da das Steuerrecht der Grunderwerbsteuer bei den Bundesländern liegt, hat die rot-grüne Minderheitsregierung einen kleinen Beitrag zur Solidarität mit den Kommunen geleistet – auch wenn das keinen Rettungsschirm für die Kommunen darstellt. Bevor die so genannte Schuldenbremse greift, versucht die Landesregierung mit einer massiven Kreditausweitung die Lage der Kommunen zu stabilisieren.

Ein Scheitern dieser Kommunal-Zuschüsse gilt unter den KommunalpolitikerInnen der LINKEN als nicht vermittelbar. Sind sie es doch, die vor Ort eine wichtige Rolle im Kampf gegen die schönfärberisch »Haushaltskonsolidierung« genannten Kürzungsvorhaben spielen. Ohne die Protestbewegungen, die sie mit initiierten, und ohne den Einzug der LINKEN in den Landtag wäre der Nachtragshaushalt vermutlich auf die Korrekturen der Vorgängerregierung beschränkt geblieben, die vom Verfassungsgericht vorgeschrieben wurden.

Noch tut sich die Landtagsfraktion der LINKEN schwer. Sie kann »dem Nachtragshaushalt so nicht zustimmen«. Der Landesrat, der als Kontrollorgan zwischen den Parteitagen fungiert, wird vor der Schlussabstimmung die Ergebnisse der parlamentarischen Beratungen bewerten. Die »Koalition der Einladung«, wie die Ministerpräsidentin ihre Landesregierung gern verkauft, hat allerdings – von den simulierten Sondierungsgesprächen über die verweigerte Zurücknahme der Überwachung durch den Verfassungsschutz bis hin zu den Haushaltsberatungen – alles getan, um deutlich zu machen, dass DIE LINKE nicht Teil eines rot-grünen Lagers ist. Der linksradikale Flügel der Partei wurde bis zur Weißglut provoziert, um die gewünschte Distanzierung herbeizuführen. Es gehört jedoch zum Selbstverständnis der Partei DIE LINKE, dass man nicht zum Abnicken gewählt sei.

Die Grünen spielen die ideologischen Leitwölfe des »Förderns und Fordern« gegenüber den Kommunen, indem sie bei jeder Gelegenheit die Zuschüsse an die nachzuweisenden Konsolidierungsbemühungen der Gemeinden und Städte knüpfen. Die Grünen würden von Neuwahlen in jedem Falle profitieren. Sie fühlen sich so stark, dass sie sogar im Schulstreit ihre Wahlkampfposition »Eine Schule für alle« zugunsten des FDP-Konzepts der Gemeinschaftsschule aufgeben können (der vor allem im ländlichen Raum attraktiven Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen). Mit dem neuen CDU-Vorsitzenden Röttgen hat man bereits in vergangenen Jahren Pizza gegessen und insofern eine weitere Koalitionsoption.

Aus Neuwahlen würden die Grünen nach den aktuellen Umfragewerten mit etwa 19% gestärkt hervorgehen, während die SPD weiter nach diesen Umfragen auf der Stelle ihres miserablen Wahlergebnisses vom Sommer 2010 tritt. Die SPD hat gleichwohl ein starkes Interesse an Neuwahlen, denn eine gestärkte rot-grüne Koalition, die DIE LINKE wieder aus dem Landtag gedrängt hätte, wäre eine gute Startposition für Hannelore Kraft auf Bundesebene. Die FDP hat sich von ihrem neoliberalen Fundamentalismus weder mental noch personell verabschiedet und müsste ebenso wie DIE LINKE um ihren Wiedereinzug in den Landtag bangen.

Bisher beharrte die linke Landtagsfraktion vor allem auf der Einstellung von 200 Betriebs- und Steuerprüfern, um wenigstens im Steuervollzug einen gesetzeskonformen Zustand zu erreichen. Es fehlen darüber hinaus die im Koalitionsvertrag angekündigten Zuschüsse für Arbeitslosen- und Schuldnerberatungen, Jungendhilfemittel u.a.

Symbolisch noch höher hängte DIE LINKE die eingeplanten Rückstellungen für etwaige Verluste der WestLB. Die Landesbank wurde im Sommer des letzten Jahres in einer Wochenend-Aktion unter Einschuss von drei Mrd. stiller Einlagen aus dem Bundes-Sonderfond zur Rettung des Finanzwesens von einem Teil der aktuell nicht mehr handelbaren Kreditverbriefungen, Hypothekendarlehn usw. befreit. Während die größten Anteilseigner, die beiden Sparkassenverbände, für die neu geschaffene Bad Bank bereits Garantie-Rückstellungen vorgenommen haben, hatten CDU und FDP bis zu ihrer Abwahl nichts dergleichen für das laufende Jahr vorgesehen. Der Nachtragshaushalt stellt nun 1,3 Mrd. Euro bereit.

Es werden aber nicht »erneut Gelder zur Verfügung gestellt werden«, wie Teile der LINKEN Glauben machen wollen. Der Nachtragshaushalt sieht keine neuen Zahlungsverpflichtungen vor, sondern es soll, folgt man dem Wortlaut des Gesetzentwurfes, eine Rücklage für das Fälligwerden bereits gewährter Bürgschaften gebildet werden, die so oder so gezahlt werden müssten. Täte die Landesregierung das nicht und treten dann ungeplante Verluste auf, müsste die Landesregierung umgehend aus dem laufenden Haushalt die Garantieleistungen aufbringen.

Dies würde nach Lage der Dinge unweigerlich zu sofortigen Haushaltssperren führen und damit zur Blockade der kommunalen Zuschüsse. Faktisch ist dieser kritische Fall absehbar, da die EU-Kommission einen engen Zeitrahmen für die bereits vorher gelaufene Rettungsaktion des außerbilanziellen Phoenix-Fonds gesetzt hat. Danach ist zum Beispiel bis Ende des Jahres die WestImmo zu verkaufen, für die sich aber kein Käufer zu dem erhofften Preis von 500 bis 700 Mio. Euro gefunden hat. Die Investmentbanker und Privatbanken können getrost bis zum Ablauf der Frist warten und dann zum Schleuderpreis ein Schnäppchen machen. Ähnlich dürfte es mit dem Verkauf des 7,5%-Anteils am Sparkassen-Fondsverwalter Deka-Bank laufen. Eine wirkliche Sanierung der WestLB wird entschieden mehr kosten.

»Wenn man die Schuldenbremse als Bedingung akzeptiert, dann hat man fast keine Möglichkeit mehr, als auch Personalabbau zu akzeptieren« sagte Oskar Lafontaine auf dem Programmkonvent der LINKEN in Hannover. Faktisch bedeutet die geplante Ausdehnung der Neuverschuldung im Nachtragshaushalt von Nordrhein-Westfalen auf 8,2 Mrd. Euro eine Abkehr von der Schuldenbremse, die bis 2020 für das Land jährliche durchschnittliche Kürzungen von mehr als 500 Millionen verlangt. Der zur Entscheidung stehende Nachtragshaushalt wird diesen Konsolidierungsbetrag noch erhöhen.

Insofern verletzt der eingebrachte Nachtragshaushalt die von Lafontaine vorgeschlagenen und im Wahlprogramm der NRW-LINKEN festgelegten »Haltelinien« nicht nachhaltig. Er enthält im Saldo keinen Personalabbau (es werden sogar Stellen geschaffen), er wird nicht durch Privatisierungen gegenfinanziert und es findet kein weiterer Sozialabbau statt.

Allerdings verschiebt die Minderheitsregierung gleichzeitig die Abschaffung der Studiengebühren auf den nächsten regulären Haushalt. Der Altschuldenfond für die notleiden Kommunen sowie die in Aussicht gestellten Landesmittel für notleidende Stadttheater werden ebenfalls zu Mehrausgaben in den kommenden Haushalten führen.

Wie diese unter dem Diktat der Schuldenbremse kompensiert werden sollen, wenn die Länder faktisch keine eigene Steuerbasis haben und die konjunkturbedingten Steuermehreinnahmen wieder sinken, werden die künftigen Haushaltsentwürfe zeigen. Der SPD-Fraktionsvorsitzenden Norbert Römer und der NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans kündigen »Disziplin« und »Sparen« an.

Das wird DIE LINKE vor neue Entscheidungssituationen stellen. Zuvor hängt von ihrer Entscheidung über den Nachtragshaushalt in Nordrhein-Westfalen nicht nur ihre eigene parlamentarische Präsenz ab, sondern sie dürfte auch die Landtags-Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2011 und damit den bundespolitischen Auftritt der Partei beeinflussen.