Hartz IV-Sätze dürfen nicht nach politischer Willkür oder Kassenlage festgelegt werden

Diana Golze, Katja Kipping, Im Wortlaut

08.10.2010 / Die Fraktion in den Medien, www.linksfraktion.de

Katja Kipping, Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, und Diana Golze, kinderpolitische Sprecherin der Fraktion, sind sich einig, dass die Festlegung der Hartz IV-Regelsätze nicht verfassungskonform ist. Die Regierung macht nicht deutlich, worauf die Berechnungen basieren. Eigenständige Kinderregelsätze sind gar nicht ermittelt worden. Die Fraktion strebt nun eine Normenkontrollklage an. Ob sie zustande kommt, hängt auch vom Verhalten der SPD-Fraktion ab.


Sie werfen der Regierung vor, die Höhe der Hartz IV-Regelleistung politisch willkürlich und nach Finanzlage bestimmt zu haben.. Warum?

Katja Kipping: Die neue Regelleistung von 364 Euro ist bereits im Jahr 2008 von Minister Peer Steinbrück (SPD) genannt worden - also zwei Jahre vor deren „Berechnung“ aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Damit wird deutlich, dass vorab politisch eine Höhe festgelegt worden ist, die durch die Berechnung lediglich bestätigt werden sollte. Ein Skandal! Dass im Haushaltentwurf für 2011 keinerlei Erhöhungen der Grundsicherungsleistungen vorgesehen sind, bestätigt die Einschätzung der Politik nach Kassenlage. Das Grundrecht auf ein Existenz- und Teilhabeminimum ist aber kein Recht im Belieben politischer Willkür oder gemäß gewünschter Kassenlage.

Sie kritisieren außerdem, dass die Neuberechnung der Regelsätze gegen das Urteil des Verfassungsgerichts verstoße. Inwiefern?

Katja Kipping: Das Bundesverfassungsgericht hat einen strengen Maßstab für die Beurteilung entwickelt: Die Bestimmung muss transparent und sachgerecht erfolgen. Sie darf keine willkürlichen Festlegungen beinhalten. Bisher erfolgte aber keine Offenlegung der ursprünglichen Daten, die der Regelleistungsbestimmung zugrunde gelegt worden sind. Von Transparenz kann daher keine Rede sein.

Zudem wurde willkürlich die Bezugsgruppe, von deren Ausgaben man auf die Regelleistung schließen soll, festgelegt: Statt die bisher zugrunde gelegten untersten 20 Prozent in der Einkommenshierarchie werden noch ärmere Menschen, nämlich die untersten 15 Prozent, als Bezugsgruppe festgelegt. Auch wurden Personen, die noch unterhalb des jetzigen Hartz-IV-Einkommensniveaus leben, die verdeckt Armen, in der Bezugsgruppe belassen. Und außerdem wurden vollkommen willkürlich bestimmte Ausgaben der untersuchten Bezugsgruppe als nicht regelsatzrelevant definiert.

So sind zum Beispiel keine alkoholischen Getränke, die ich Gästen der Geburtstagsfeier anbieten könnte, keine Ausgaben für Schnittblumen und keine Zimmerpflanzen sowie keine Übernachtungsausgaben bei einem längeren Ausflug im neuen Regelsatz enthalten. Die Ausgaben für den öffentlichen Verkehr und Mobilität sind ebenfalls willkürlich zusammengestrichen worden. Das sind alles Manipulationen, um die Regelleistung nach unten zu drücken.

Oft wird behauptet, die 5 Euro wären eine Erhöhung der Regelleistung …

Katja Kipping: Nein, die 5 Euro sind keine „Erhöhung“. Sie kompensieren nicht einmal den realen Kaufkraftverlust der Regelleistung seit Beginn von Hartz IV von über 20 Euro. Auch nicht die gerade diskutierte „Erhöhung“ im Juli 2010 auf 370 Euro gleicht den Kaufkraftverlust nicht aus.

Der eigenständige Regelsatz für Kinder ist auch jetzt nicht ermittelt worden: Entspricht das der Vorgabe des Gerichts?

Diana Golze: Soweit wir das bisher beurteilen können, ist dies genau nicht geschehen. Laut Urteil vom Februar hätte die Berechnung in „einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren“ erfolgen müssen. Bei einem zweiten Blick auf das, was Frau von der Leyen vorgelegt hat, wird sehr schnell deutlich, dass keine dieser Vorgaben erfüllt wurde.

Leider wird uns die Herausgabe der Daten, die zur Berechnung herangezogen wurden, (auch) beim Kinderregelsatz bisher verwehrt.

In Ihrer Rede haben Sie das Beispiel Windeln genannt. Wie muss man das verstehen, wenn hier 6,07 Euro im Monate ausgewiesen sind – dass das nicht realistisch ist, sieht doch jedes Kind?

Diana Golze: Dennoch diskutiert die Öffentlichkeit leider nicht über diese gravierenden Mängel, die auch an vielen anderen Stellen sichtbar werden, dass z.B. für öffentlichen Nahverkehr nur 14 Euro zur Verfügung stehen, obwohl gerade Kinder, die in eine weiterführende Schule gehen, den Schulweg selbst finanzieren müssen. Oder dass einem Kind zwischen 6 und 13 Jahren 2,37 Euro für Bücher oder gerade mal 0,25 Euro für Bücherleihgebühren zugestanden werden. Nein. Mit realitätsgerecht hat das nichts zu tun und hier werden wir weiter den Finger drauf legen, damit allen Kindern das zur Verfügung steht, was ihnen vom Verfassungsgericht zugestanden wurde.

Sie sehen bei den geplanten Chipkarten ein Datenschutzproblem..?

Diana Golze: Meine Kritik geht dahin, dass durch die Chipkarte oder die Gutscheine Absicherungen vorgegaukelt werden, die sie nicht erbringt. Zum einen reichen die veranschlagten 10 Euro im Monat vorn und hinten nicht, zumal offenkundig jede Leistung extra beantragt werden muss. Eine solche Vorgehensweise stigmatisiert Kinder, sichert aber keineswegs den ebenfalls angemahnten gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Kultur für jedes Kind. Zudem ist die geplante Chipkarte äußerst bürokratisch und datenschutzrechtlich bedenklich, da niemand sagt, wer die Daten der Kinder einsehen kann und wo diese am Ende landen. So entstehen gläserne Minderjährige. Mit dem besonderen Schutz von Kindern hat das alles nichts mehr zu tun.


Was bezweckt die von Ihnen bereits angekündigte Normenkontrollklage?

Katja Kipping: Der Zweck besteht darin, dass neue Hartz-IV-Gesetz auf seine Verfassungskonformität zu prüfen. Ich habe, als sich der erneute Verfassungsbruch bei den Hartz-IV-Regelleistungen anbahnte, sofort die Möglichkeiten der Normenkontrollklage, also der Klage von Abgeordneten oder von Landesregierungen vor dem Bundesverfassungsgericht prüfen lassen. Wir brauchen dazu 25 Prozent der Abgeordneten des Bundestages. Die haben wir in der Opposition nur mit der SPD zusammen. Unsere Anfrage an die SPD-Fraktion bezüglich einer gemeinsamen Normenkontrollklage wurde bis heute nicht beantwortet. Auch scheint die SPD in den rot-rot geführten Bundesländern keine Normenkontrollklage zu wollen. Wir werden aber weiter politisch Druck machen.


Haben Sie den Eindruck, dass SPD und Grüne tatsächlich daran interessiert sind, eine grundlegende Änderung herbeizuführen?

Katja Kipping: Die Signale sind sehr widersprüchlich. Mir scheint, dass das Unbehagen mit den neuen Regelleistungsbestimmungen sehr groß ist. Es ist aber auch klar, dass diejenigen, die selbst schon ein verfassungswidriges Hartz IV erlassen haben, einen langen Lernprozess in Sachen verfassungskonformer Gesetzgebung durchmachen müssen. Es muss auch berücksichtigt werden, dass es neben der verfassungskonformen Bestimmung des Existenz- und Teilhabeminimums um weitere Grundrechtethemen geht. Unserer Auffassung nach hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls die Sanktionen und die Bedarfsgemeinschaftsregelung in Frage gestellt.

Wir sehen unsere Forderung nach Abschaffung der Sanktionen und der Bedarfsgemeinschaftsregelung bestätigt. Für einen solchen grundlegenden Wandel des Sozialrechts zu einem sozialen Grundrecht sehe ich derzeit noch keine Mehrheiten bei der SPD und bei Bündnis 90/Die Grünen.

DIE LINKE fordert schon länger einen Regelsatz von 500 Euro. Ministerin von der Leyen gibt den Ball jetzt zurück: dem lägen keine soliden Berechnungen zugrunde. Wenn schon Hartz IV: Worauf basieren Ihre Forderungen?

Katja Kipping: Nun, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Wie nervös Frau von der Leyen ist, zeigt sich auch daran, wie sie Kritiken an ihrer intransparenten und nicht sachgerechten Regelleistungsbestimmung mit einer sattsam bekannten Basta-Politik wegwischen möchte. Die 500 Euro, die DIE LINKE im Wahlprogramm und den Anträgen im Bundestag fordert, sind angelehnt an die detaillierten Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes plus einem erhöhten Bedarf für ein gesunde Ernährung, wie er von der 500-Euro-Kampagne in der Erwerbslosenbewegung gefordert wird.

In vielen Fachgesprächen mit Expertinnen und Experten wurde uns bestätigt, dass wir mit unserer Forderung richtig liegen. Es liegen sogar Berechnungen mit der alten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe und mit Warenkorb-Modellen vor, die auf eine Regelleistung bis zu 674 Euro weisen. Daher werden wir uns intensiv mit den neuen Auswertungen beschäftigen und drängen nicht auch zuletzt deswegen auf die Freigabe der bisher unveröffentlichten Daten.


Was schlägt Ihre Fraktion für die Ermittlung realistischer Regelsätze vor?

Diana Golze: Wir möchten, dass die Bundesregierung eine unabhängige Kommission einsetzt, die mit der Berechnung und Ermittlung eines realitätsnahen und existenzsichernden Grundsicherungsregelsatzes für Kinder beauftragt wird. Da uns bewusst ist, dass dies nicht in einer Hauruck –Aktion geschehen kann, schlagen wir vor, dass bis dahin die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ermittelten Kinderregelsätze ausgezahlt werden. Das bedeutet konkret: Für unter 6 jährige 276¤, für 6 -14 332¤ und 14- bis 18 jährige 358¤.

Und wie müsste der Bedarf der Kinder ermittelt werden?

Diana Golze: Auch dies hat der Paritätische Wohlfahrtsverband in Ansätzen schon aufgezeigt. Viele Ausgaben, die für Kinder notwendig sind, können auch von wenig Verdienenden nicht mehr geleistet werden. Dies zeigen die Erhebungen des Verbandes deutlich. Bücher etwa, der Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen oder die Ermöglichung zusätzlicher Außerschulischer Bildungsangebote. Will man also den realen Bedarf von Kindern ermitteln, kann man sich nicht an dem orientieren, was die, die nur etwas weniger arm sind, finanziell leisten können. Bei der Ermittlung eines kindgerechten Regelsatzes kommt man also weder an einem Warenkorb oder an einem Bruch mit der bisherigen Berechnungsgrundlage, die nur Geringverdiener einbezieht, vorbei.