Soziale Spaltung und die Flüchtlingsfrage

12.09.2016 / Axel Troost

Das Wahlergebnis der AfD in Mecklenburg-Vorpommern hat klargestellt: die AfD bleibt auf längere Zeit ein politischer Faktor; die Rechtspopulisten gewinnen aktuell unbeschadet von der wirklichen Entwicklung der Migration; die WählerInnen werden weder durch das unfertige und widersprüchliche Programm noch durch heftige innerparteiliche Richtungsauseinandersetzungen abgeschreckt. Bei den Landtagswahlen im März 2016 hatte die AfD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zweistellige Ergebnisse erzielt, in Sachsen-Anhalt sogar aus dem Stand 24,3% geholt. Jetzt wurde sie in Mecklenburg-Vorpommern mit 20,8% zweitstärkste Kraft und lässt die CDU mit 19% hinter sich. Alle „Altparteien“ (SPD, CDU, DIE LINKE, Grüne und FDP) haben verloren.

 

DIE LINKE verfehlte in Mecklenburg-Vorpommern alle Wahlziele: sie erreichte ihr bisher schlechtestes Ergebnis im Land und stellt künftig die kleinste Fraktion. Die Linkspartei verlor rund 19.000 Zweitstimmen oder 15,4% ihrer Wähler und Wählerinnen.

Keine Frage: wir müssen die Ursachen für die Stärke der AfD und die Schwächen der Linkspartei genauer betrachten und Konsequenzen für eine selbstkritische Korrektur unserer politischen Strategie ziehen. Die vorschnelle Vermutung, dass die Linke in den Augen vieler WählerInnen offenbar Teil des unsozialen Parteienkartells geworden ist, überzeugt mich nicht. Allerdings müssen wir uns fragen, warum es uns offensichtlich nicht ausreichend gelungen ist, uns von den anderen Parteien abzusetzen. Auf jeden Fall sollten wir uns mit der Tatsache beschäftigen, dass die AfD erfolgreich das große Potenzial von NichtwählerInnen anspricht. Wie schon bei den Landtagswahlen im Frühjahr ist die Wahlbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern deutlich angestiegen: von 51,5% im Jahr 2011 auf 61,6% im Jahr 2016. Die AfD wird für viele BürgerInnen, die sich von der politischen Willensbildung verabschiedet hatten, als Alternative wahrgenommen und unterstützt.

Gregor Gysi warnt meines Erachtens zurecht davor, die WählerInnenwanderung von der Linken zu den Rechtspopulisten in das Zentrum unserer Debatte zu rücken. Ja, auch die Linke verliert WählerInnen an die Rechtspopulisten. Aber ihre Stimmen holt die neue Rechtspartei überwiegend aus dem NichtwählerInnenbereich und von den Parteien des bürgerlichen Lagers. Gysi unterstreicht: „Die Armen gehen gar nicht so sehr nach rechts. Eher die, die etwas zu verlieren haben und Angst davor haben, dass es geschieht.“ Kritisch bewertet die breite Mehrheit der Wahlbevölkerung – so neuere Untersuchungen – neben der Zuwanderung auch die Unterschiede zwischen Arm und Reich. 70 Prozent nehmen einen wachsenden Abstand bei Einkommen und Vermögen wahr, zwei Drittel halten die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland für ungerecht. Gleichwohl spricht sich die Mehrheit gegen Gleichmacherei oder mehr staatliche Umverteilung aus – das Leistungsprinzip ist in den Wertvorstellungen fest verankert. Dass jede/r vom Lohn für ihre/seine Arbeit auch leben kann und dass für die gleiche Arbeit das gleiche Geld gezahlt wird, gehört für die mittlere Generation zu den grundlegenden Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Derzeit sieht aber nur eine Minderheit der Befragten diese Anforderungen als erfüllt an.

Zurecht unterstreicht Bodo Ramelow, dass wir überprüfen sollten, ob unsere Antworten auf die wachsende soziale Ungleichheit präzise und überzeugend genug sind. „Wir sind mit einem neoliberalen Umbauprozess unserer Gesellschaften in Europa konfrontiert, der einerseits dafür sorgt, dass der Reichtum immer mehr ansteigt und sich in den Händen weniger konzentriert, während andererseits eine breitere Schicht zunehmend verarmt. Das ist ein schleichender Prozess. Die vielen Flüchtlinge, die im letzten Jahr zu uns kamen, mögen der berühmte Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Aber sie sind nicht das Problem. Das Wohlstandsmodell der Bundesrepublik Deutschland hat keinen Glanz mehr. Die Menschen sagen nicht mehr mir geht es zwar im Moment nicht so gut, aber perspektivisch wird es mir besser gehen. Ohne diese im zweiten Teil des Satzes zum Ausdruck kommende Zuversicht, wird es für die Gesellschaft gefährlich. Und das bildet die AfD ab.“[1]

Im Vergleich zum Vorjahr hat sich der Zukunftsoptimismus der Mehrheit der Wahlbevölkerung deutlich eingetrübt. Als größte Gefahren für die Entwicklung Deutschlands werden wachsende Unterschiede zwischen Arm und Reich und eine steigende Fremdenfeindlichkeit angesehen (jeweils 68%) sowie die hohe Zahl der Flüchtlinge in Deutschland (64%). Persönliche Sorgen wachsen vor allem im Hinblick auf die materielle Absicherung im Alter und der inneren Sicherheit. 60 Prozent der Befragten treibt die Sorge um, ihren Lebensstandard im Alter nicht halten zu können (2015: 54%). 44 Prozent befürchten, dass ihr Einkommen schon in den nächsten Jahren nicht ausreichen könnte (2015: 39%).

Nach der Entscheidung der Kanzlerin vom September 2015, Flüchtlinge ohne weitere Kontrollen einreisen zu lassen, hat sich das politische Klima im Land mehr und mehr nach rechts verschoben. Aber die Flüchtlingsfrage war eher der Katalysator für eine Veränderung der Stimmung in der Gesellschaft. Die Linke muss sowohl ihre Kernkompetenz „soziale Gerechtigkeit“ weiterentwickeln als auch in der Flüchtlingsfrage eine umfassende Konzeption entwickeln.

In der Rückschau werden aus SPD und CDU/CSU die Stimmen lauter, die die damalige Öffnung und den zeitweiligen staatlichen „Kontrollverlust“ für die Hauptursache für das Erstarken der AFD halten und deshalb selber mit der gefährlich illusionären Forderung nach „Obergrenzen“ hantieren, um im Kalkül damit WählerInnen zurückholen zu können. Tatsächlich aber ist es schwerer geworden, nach Deutschland zu kommen. Die Balkanroute ist weitgehend geschlossen. Die EU hat sich auf einen Pakt mit der Türkei eingelassen. Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Griechenland kommen, werden wieder zurückgeschickt. Die Zahl der Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ist drastisch gesunken. Seit Jahresbeginn machten sich nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) rund 260.000 Flüchtlinge auf den Weg nach Europa. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind es ungefähr 280.000. Zum Vergleich: 2015 lag die Zahl für das gesamte Jahr bei etwas mehr als einer Millionen Flüchtlinge.

Barbar Baloch, Beauftragter des UNHCR für die Region fordert legale Zugangswege nach Europa: „Die Menschen sind verzweifelt. Grenzen und Zäune können doch nicht die Antwort sein. Es wird immer Schmuggler geben, die bereit sind, ein noch größeres Risiko einzugehen.“ Er verweist auf das große Drama der jüngsten Entwicklungen. Trotz sinkender Flüchtlingszahlen ist die Zahl der Menschen, die auf dem Weg nach Europa gestorben sind, gestiegen. UNHCR und IOM geben sie weitgehend übereinstimmend mit mehr als 3.100 Männern, Frauen und Kindern in diesem Jahr an. Das sind mehr als 70 Prozent der weltweit vermissten Flüchtlinge und laut IOM ein Anstieg um mehr als 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Der immer wieder vorgetragenen Frage nach einer möglichen Alternative zur Grenzöffnung kann zurecht entgegnet werden, dass dies die gesamte Balkan-Stabilisierungs-politik der vergangenen Jahre massiv gefährdet und damit zu weiteren nicht kalkulierbaren Konflikten auch in Griechenland geführt hätte.

Die Flüchtlingskrise hat die Konstruktionsfehler des EU-Asylsystems und der Migration offenbart. Fest steht, dass die Migration Europa noch Jahre beschäftigen wird, weshalb eine Grundsatzdiskussion über eine neue Verteilung der Zuständigkeiten und Lasten unausweichlich ist. Eine Neuregelung muss auch einheitlichere Regeln für EU-weite Resettlement-Programme umfassen – also für die Aufnahme von Flüchtlingen direkt aus Drittstaaten. Dabei müssen neue Wege für die legale Migration geschaffen werden. Die Europäische Asylbehörde (EASO) muss aufgewertet werden. Die Behörde hat bisher kaum Kompetenzen, soll aber die Flüchtlingsverteilung neu organisieren und die Umsetzung der EU-Regeln überwachen. Die EU als mit Abstand größter Wirtschaftsraum der Welt steht hier in besonderer Verantwortung. Auch die Intensivierung von Entwicklungspolitik ist ein wichtiges Thema. In diesem Punkt ist dem deutschen Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zuzustimmen, der einen gesamteuropäischen Marshall-Plan für die Bewältigung der Flüchtlingskrise mit einem eigenständigen EU-Flüchtlingskommissar und Ende der Ausbeutung von Afrika fordert. Ein falscher Weg ist es dagegen die Alternative aufzumachen: Investitionen dort zu fördern sei viel sinnvoller, als in Europa in die Flüchtlingsaufnahme zu investieren.

Angesichts des Aufstiegs des Rechtpopulismus in Europa stellt sich die Frage, wie diese Neuausrichtung gelingen kann. Die Zunahme von Ressentiments und Ängsten muss vor dem Hintergrund eines wachsenden Widerspruchs in der Bevölkerung über die Konsequenzen des Zustroms an Flüchtlingen und der unübersehbaren Defizite des Staatsapparates gesehen werden, was sich in eine anwachsende Sympathie und Unterstützung für Positionen der Ab- und Ausgrenzung umsetzt. Die Integration der vor Krieg, Elend und politischer Verfolgung Geflohenen in Deutschland erfordert kluges und mutiges Handeln. Sie wird nur dann gelingen, wenn sie Teil der Erneuerung der sozialen Infrastruktur zugunsten aller hier lebenden Menschen ist.

Als erstes müssen die Länder und vor allem die Kommunen unverzüglich vom Bund in einem Umfang finanziell unterstützt werden, der sie in die Lage versetzt dringende Zukunftsinvestitionen in Angriff zu nehmen. Für alle heute und zukünftig in Deutschland lebenden Menschen ist es wichtig, dass unser Bildungssystem – von der Kita angefangen – modernisiert und ausgebaut wird. Wir brauchen mehr und besser bezahlte Fachkräfte in den öffentlichen Dienstleistungen und mehr bezahlbaren Wohnraum für alle in den Ballungsräumen. Die notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens dürfen nicht dem Mantra der „Sparpolitik“ geopfert werden. Angesichts der niedrigen Zinsen ist die Finanzierung öffentlicher Investitionen für den Staat so günstig wie noch nie.

Da die Probleme jetzt anstehen, müssen die Gelder kurzfristig bereitgestellt werden. Da keine Überschüsse im notwendigen Maße zur Verfügung stehen, Ausgabenkürzungen an anderer Stelle nirgendwo in Europa politisch zu vermitteln sind und Steuereinnahmen bestenfalls mittelfristig zur Verfügung stehen, müssen die Ausgaben über Neuverschuldung bestritten werden. Dies ist ohnehin angemessen, da die zu tätigenden Ausgaben überwiegend den Charakter von Investitionen tragen, die typischerweise und generationengerecht durch Kredite vorfinanziert werden. Zudem ist eine starke Anschubfinanzierung oft wirksamer als den gleichen Betrag stückweise auszahlen. Auch dies spricht für eine Vorfinanzierung durch Kreditaufnahme, die auch durch die derzeit äußerst niedrigen Zinsen unproblematisch ist.

Die langfristige Gegenfinanzierung hat natürlich durch Steuereinnahmen zu erfolgen. Dabei wird durch die ausgelösten Wachstumsimpulse und selbstfinanzierenden Effekte ein beträchtlicher Teil der Ausgaben (oder bestenfalls das komplette Programm) gedeckt. Dennoch sollten Steuererhöhungen oder neue Steuern auf nationaler oder europäischer Ebene beschlossen werden, da sie aus vielerlei Gründen ohnehin geboten sind.

Angesichts dieser Herausforderungen trete ich dafür ein, dass sich die LINKE auf die Stärkung so einer reformalternativen Strategie konzentriert und offensiv für eine Bündelung der Kräfte links der gesellschaftlichen Mitte wirbt. „Die Logik der Großen Koalition muss durchbrochen werden. Denn eine Große Koalition so lange zu machen, bis die Großen nicht mehr groß sind, ist kein guter Weg. Österreich lässt grüßen. … Wir brauchen einen Aufbruch in der Gesellschaft, für einen starken Sozialstaat, in dem sich Ausgegrenzte, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Handicaps, Menschen, die unter prekären Bedingungen arbeiten, sich endlich wieder eingeladen fühlen. Wir tun uns in einem der reichsten Länder der Welt nichts Gutes, wenn wir immer nur partielle Angebote machen, anstatt zu sagen, Armut ist das übergreifende Thema mit dem wir uns ausein-andersetzen müssen.[2]

 

[1] und [2] www.taz.de

 

 

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