"Wir erzeugen künstlich einen gescheiterten Staat." - Harald Schumann über Griechenland und die Zukunft Europas

Transkription eines Interviewauszugs auf Kontext TV vom 13.08.2015 während der Sommerakademie von Attac in Marburg (Transkription durch Barbara Schmarsow)

02.09.2015 / 02.09.2015

Interview: Fabian Scheidler (Freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen (kontext tv) Theater und Oper. 2009 Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. 2015 Buchveröffentlichung "Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation".)

Gast: Harald Schumann (Journalist (Der Tagesspiegel), Buchautor ("Die Globalisierungsfalle", "Der globale Countdown") und Autor der Filme "Staatsgeheimnis Bankenrettung" und "Macht ohne Kontrolle“.)

Das Video zum Interview finden Sie auf www.kontext-tv.de

Scheidler: Herr Schumann, Sie schrieben kürzlich, dass die Griechen mit dem letzten Kreditprogramm zwar den Euro behalten, aber die Demokratie verloren haben. Was meinen Sie damit?

Schumann: Na, es war ja ein eindeutiger Vorgang. Die Regierung hatte das Volk per Referendum befragt, ob die Bürger bereit seien, sich den geforderten Auflagen der anderen Euro-Staaten zu unterwerfen oder ob sie das ablehnen. Das Volk hatte mit 61 Prozent der Stimmen abgelehnt. Mit diesem Auftrag, Wählerauftrag, ist die Regierung Tsipras dann angetreten und hat wahrscheinlich erhofft, dass mit den Wählern im Rücken Zugeständnisse von Seiten der Kreditgeber bekommen. Die haben sie nicht bekommen, sondern im Gegenteil, es wurden noch härtere Forderungen gestellt, als es zuvor verhandelt worden war. Die Alternative war ein ungeordnetes Ausscheiden aus dem Euro, was die griechische Wirtschaft in eine noch tiefere Katastrophe gestürzt hätte, so dass der Regierung keine Wahl blieb, als diese Bedingungen anzunehmen, aber natürlich gegen den erklärten Willen der eigenen Wähler. Wenn ein solches Votum innerhalb eines Währungsverbundes nichts mehr wert ist, dann ist es keine Demokratie mehr. Griechenland ist jetzt objektiv ein Protektorat der anderen Eurostaaten.

Scheidler: Sie haben auch über die strukturellen Demokratiedefizite in der EU und in der Eurozone geschrieben. Können Sie dazu noch etwas sagen?

Schumann: Das Verrückte ist, dass das gesamte Krisenregime der Eurozone nur auf so genannter intergouvernementaler Basis stattfindet, also nur auf Basis von Verträgen zwischen den Regierungen und damit komplett außerhalb der eigentlichen gemeinschaftlichen Rechtssetzung der Europäischen Union, außerhalb der europäischen Verträge. Dadurch wurde eine Art „para-legaler“ Raum geschaffen, ja, eigentlich rechtsfreier Raum, weil diejenigen, die dort entscheiden, nicht den normalen Regeln des Rechtsstaates unterliegen. Das fängt bei der Eurogruppe an, das sind die Finanzminister der Eurostaaten, das ist eigentlich ein informelles Gremium, das steht in keinem Vertrag. Sie machen keine Protokolle, es ist nicht nachvollziehbar, wie dort eigentlich verhandelt wird. Gleichwohl sind die Beschlüsse bindend und das Wesentliche daran ist: Diese Eurogruppe hat ja nicht gewählte Beamten mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, Beamte der EU-Kommission, des Internationalen Währungsfonds, der EZB und seit neuestem auch von ihrem gemeinsam verwalteten Rettungsfonds, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, die im Auftrag der Eurozone, der Eurozonenfinanzminister nicht nur verhandeln, sondern durchaus auch in vielen Details Entscheidungen treffen, Regierungsentscheidungen treffen. Und dafür müssen sie sich vor keinem Parlament verantworten, es gibt keinen Rechnungshof, der die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit dieser Entscheidungen überprüft und selbst wenn sie sich in dunkle und schmutzige Geschäfte verstricken, selbst wenn sie korrupt wären, könnte man sie nicht belangen, weil es keinen Staatsanwalt in ganz Europa gibt, der für diese Ebene der Politik überhaupt zuständig ist, man könnte nicht ermitteln.

Scheidler: In Ihrem letzten Film „Macht ohne Kontrolle“ über die Troika haben Sie ja zahlreiche Beispiele für Korruptionsfälle, an denen Mitglieder der Troika beteiligt waren, gebracht. Gab es darauf irgendwelche Reaktionen, gab es zum Beispiel juristische Aufarbeitungen dieser Fälle?

Schumann: Nichts. Gar nichts. Der eklatanteste Fall war die Verwicklung eines hohen EZB-Beamten in die Abwicklung der Banken in Zypern, wobei es zu einer Verschiebung von ca. drei Milliarden Euro zyprischen Vermögens auf eine griechische Bank kam und dieser Beamte war in enger Verbindung mit dieser Bank, zumindest hat er seine Karriere dort begonnen, so dass dort objektiv ein Interessenkonflikt vorlag. Das wäre eigentlich ganz klar Anlass für zumindest ein internes Ermittlungsverfahren bei der EZB. Die EZB hat sich bis heute geweigert, Fragen zu diesem speziellen Fall zu beantworten und zwar nicht nur von mir, sondern auch Fragen des Abgeordneten Sven Giegold von den Grünen zu diesem Fall sind vier Monate nach der Einreichung noch immer nicht beantwortet. Daran sieht man, wie problematisch die Konstruktion ist.

Scheidler: Die Bedingungen für die neuen Kreditprogramme sind so hart, dass sie die Wirtschafts- und Schuldenkrise Griechenlands eigentlich nur verschlimmern können. Das geben sogar interne Papiere des Internationalen Währungsfonds zu. Sind die maßgeblichen Kräfte in der EU unfähig, die einfachsten ökonomischen Zusammenhänge zu verstehen? Dass in einer Rezession Kürzen und Sparen die Sache nur verschlimmert? Oder gibt es andere Motive dafür, dass die de facto gescheiterte Austeritätspolitik weiter durchgezogen wird?

Schumann: Also dass sie unfähig wären, das zu verstehen, das bestreite ich. Das ist Grundwissen Volkswirtschaftslehre, insofern bin ich mir sicher, dass sie wissen, was sie tun. Aber es gibt natürlich wichtige politische Gründe, trotzdem an dieser Politik festzuhalten. Der erste und einfachste Grund ist: Wenn man diese Politik jetzt ändern würde, würde man einräumen, dass man Fehler gemacht hat. Das würde aber bedeuten, dass man die gesamte Struktur der bisherigen Eurokrisenbewältigung mit all den zugehörigen Auflagen, Gesetzen, Verträgen in Frage stellt. Daran haben nicht nur, wenn man so will, die Architekten dieser Politik namentlich in der Bundesregierung und im Bundesfinanzministerium kein Interesse. Sondern auch die beteiligten Beamten haben daran kein Interesse. Mit der Einrichtung dieses Krisenregimes haben viele Beamte, die vorher sich vielleicht geärgert haben, dass ihre Ratschläge nicht befolgt werden, eine enorme Macht bekommen. Politologen nennen das „power grabbing“. Sie haben sich Macht genommen oder haben sie übertragen bekommen, die sie nicht freiwillig wieder hergeben werden. Und wenn sie das Regime ändern würden, würden sie damit auch die Grundlage dieser Machtübernahme in Frage stellen. Ich glaube, so lässt sich am leichtesten erklären, warum sie das so dogmatisch verfolgen.

Und dann gibt’s natürlich noch ein weiteres Moment. Bundesfinanzminister Schäuble hat sowohl gegenüber seinem früheren amerikanischen Kollegen Timothy Geithner, als auch, zumindest nach dessen Aussage, gegenüber dem früheren griechischen Finanzminister Varoufakis ganz offen zugegeben, dass sie am Fall Griechenland zeigen wollen, dass dieses Krisenregime durchgezogen wird und dass jede Regierung, die sich dem nicht unterordnet, dann eben scheitern wird. Oder dem Scheitern überlassen wird. Insofern dient Griechenland als Disziplinierungsdemonstration für andere Staaten, insbesondere natürlich für Frankreich und Italien, denen diese gleiche Politik verordnet werden soll, obwohl es dort im Regierungsapparat und auch bei den dortigen Fachleuten keineswegs als Erfolg gelten kann. Und ich meine, im Fall Italien kann man ja auch sehen, die Zwangsanpassung Italiens an das deutsche Eurokrisenregime hat dem Land unglaublich geschadet. Es hat dramatisch an Marktanteilen verloren und, indem es die Möglichkeit zur äußeren Abwertung einer eigenen Währung verloren hat, nur noch die Wahl einer inneren Abwertung hat und das passt überhaupt nicht zur Struktur der italienischen Gesellschaft und der italienischen Industrie. Das ist ein Riesendilemma.

Es gibt eine Sache, die ich nicht verstehe. Bei denen, die dieses Austeritätsregime so eisern verfolgen, insbesondere in Deutschland. Es muss ihnen klar sein, dass es wirtschaftlich nicht funktionieren kann. Also selbst, wenn man mal Vorbehalte was Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit usw. betrifft, hinten anstellt, muss man sich doch darüber im Klaren sein, dass die Eurozone unmöglich nach dem Prinzip funktionieren kann, dass alle Staaten die gleiche Wirtschaftspolitik machen sollen wie Deutschland. Die deutsche Wirtschaftspolitik war ja nur deswegen halbwegs erfolgreich, weil alle anderen es nicht gemacht haben.

Denn sie besteht darin, über Lohnmäßigung, Lohndämpfung, Lohnsenkung extrem exportstark zu werden und damit Überschüsse zu erwirtschaften. Man kann aber nur Überschüsse im Handel erwirtschaften, wenn andere Staaten Defizite machen und sich dabei verschulden. Und genau das ist ja auch in den ersten zehn Jahren der Währungsunion passiert. Wenn jetzt aber alle gleichzeitig versuchen, Überschüsse zu erwirtschaften, müsste man quasi die gesamte Eurozone in ein großes China verwandeln, mit großen Exporten in den ganzen Rest der Welt, was aber nur zu einer dramatischen Aufwertung des Euro führen würde, und am Ende nicht aufgehen könnte. Zumal sich eben die übrigen großen Wirtschaftszonen der Welt ganz sicherlich nicht in großem Maße gegenüber der Eurozone verschulden werden.

Also kann es wirtschaftlich nicht funktionieren. Und diese Unlogik, dass es langfristig nicht aufgeht, ehrlich gesagt, ich hab dafür keine richtige Erklärung, also die einzige Erklärung, die mir einfällt, ist, dass denjenigen, die das zu entscheiden haben, die lange Frist eigentlich wurscht ist. Sie reden immer von den nächsten Generationen, aber in Wirklichkeit kümmern sie sich nur noch um die nächsten drei, vier Jahre ihres eigenen Machterhalts und sonst nichts.

Scheidler: Wie bewerten Sie die Rolle der Bundesregierung in den Verhandlungen mit Griechenland? Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, aber auch Sigmar Gabriel und die SPD, die die Politik der Bundesregierung mitgetragen hat?

Schumann; Die Position von Frau Merkel und ihrem Finanzminister ist relativ leicht zu erklären. Als die Eurokrise begann und Griechenland zur Überraschung, der Akteure an den Märkten und vieler auch in der Politik überschuldet war, musste man ja im Grunde den geltenden EU-Vertrag brechen, in dem drin steht, es gibt keinen finanziellen Beistand, also Eurostaaten übernehmen nicht füreinander finanzielle Verpflichtungen. Wenn man das durchgezogen hätte, hätte das bedeutet, dass Griechenland in den Staatsbankrott geht und damit hätte man das gesamte europäische Bankensystem nur zwei Jahre nach Lehmann nochmal dramatisch destabilisiert. Und zwar sowohl deutsche und französische als auch britische als auch niederländische und vor allem natürlich auch griechische Banken. Die Hauptgeldgeber des griechischen Staates waren griechische Banken, die aber ihrerseits wiederum natürlich bei ausländischen Banken verschuldet waren. Also das ganze System wäre wackelig geworden. Also musste man Griechenland zahlungsfähig halten, um das Bankensystem nicht zu gefährden.

Dann hätte man, wenn man ehrlich gewesen wäre, gesagt: „Ja, wir müssen das machen, um die Banken zu retten“. Die zweite Bankenrettung innerhalb von zwei Jahren wäre dem Wähler aber nur noch sehr schwer zu verkaufen gewesen. Ich meine, allein die deutsche Bankenrettung hat über 100 Milliarden Euro gekostet. Das ist so viel, wie alle deutschen Universitäten in vier Jahren brauchen. Schon richtig viel Geld.

Und deswegen, ich glaube, als so eine Art politischen Unfall, hat man diese Formel erfunden: „Okay, wir sind solidarisch, wir helfen den Griechen, und dafür zeigen wir denen aber auch, wie sie ihren Staat richtig machen und dafür müssen die jetzt aber auch mal richtig anpacken.“ Und dadurch entstand diese fatale Konstellation, dass die Deutschen ihren Schuldnern sagen, was sie tun sollen. Das war am Anfang, glaube ich, nur eine Notlösung. Und dann stellte sich aber heraus, dass über diese Mechanik Frau Merkel und Herr Schäuble plötzlich als die Künder deutscher Tugenden in Europa galten. Und dass sie damit innenpolitisch sehr erfolgreich waren, auf einmal repräsentierten sie die Deutschen in Europa, die da Gutes tun und den anderen sagen, wo es lang geht. Und weil das innenpolitisch so erfolgreich war, haben sie dann – wider alle ökonomische Vernunft – brachial daran fest gehalten und kommen davon auch nicht wieder runter. Wenn man so will, sie sind die Gefangenen ihres eigenen innenpolitisch erfolgreichen Narrativs, das aber europapolitisch, außenpolitisch absolut destruktiv wirkt. Es ist eine furchtbare Logik, aber sie ist eine.

Sie haben gefragt nach der Rolle der Sozialdemokratie, die Frage kann ich nur sehr schwer beantworten. Die Sozialdemokraten haben aus Furcht davor, als Geldverschwender zu gelten, schon vor der letzten Bundestagswahl dieses Spiel mitgespielt und haben keine Opposition gemacht. Wider bessere Einsicht, es gibt innerhalb der SPD genügend kundige Ökonomen, die wussten, dass Austerität in der Rezession kontraproduktiv ist und die Sache nur schlimmer macht als sie ohnehin schon ist. Aber sie haben gedacht, sie können gegen diese unglaublich starke Erzählung, ja, gegen dieses starke Wahlkampfmotiv nicht an. Das ist Feigheit vor dem Feind, auch in der Politik gibt es dieses Phänomen. Und dann waren sie hinterher gefangen in dieser großen Koalition, die ihnen natürlich keine großen Spielräume lässt. Wenn die SPD wirklich Opposition machen würde gegen die Europapolitik kündigt sie die Koalition auf. Dazu fehlt den führenden SPD-Funktionären schlicht der Mut. Was vielleicht auch viel damit zu tun hat, dass in den letzten zehn, zwanzig Jahren diejenigen, die wirklich noch für Überzeugungen kämpfen, nicht unbedingt diejenigen sind, die in Parteien Karriere machen, das gilt übrigens für fast alle Parteien. Nur in der SPD hat sich das besonders dramatisch ausgewirkt.

Scheidler: Die Selbstdemontage der Sozialdemokratie ist ja ein europäisches Phänomen. Wenn man nach Frankreich schaut, nach Italien, natürlich Griechenland, die PASOK. Wie erklären Sie sich, dass die Sozialdemokraten in Europa keine Oppositionskraft mehr sind?

Schumann: Ich hab da nur eine Hypothese, mehr nicht. Und die ist, dass man im modernen Finanzmarktkapitalismus keine nationale Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik und Steuerpolitik betreiben kann, die eigentlich sozialdemokratisch wäre. Weil, sofort wird man mit Kapitalentzug und Minderinvestitionen bestraft. Dem haben sich die Sozialdemokraten nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen europäischen Ländern weitgehend unterworfen, dass eben diejenigen, die über große Kapitalmengen und Kapitalflüsse entscheiden, den Daumen heben und senken können über der Politik einer Regierung. Dem hat sich die Sozialdemokratie unterworfen, weil sie es nicht geschafft hat, auf europäischer Ebene eine gemeinsame Antwort und eine andere Struktur zu überlegen.

Wenn man sich dem aber einmal unterworfen hat, geht es immer weiter, es endet nie. Die deutschen Sozialdemokraten, und ich glaube, das ist der Hauptfehler von Herrn Gabriel, haben die Erfahrung gemacht, dass man damit erfolgreich sein kann auf Kosten anderer. Also wenn man so will, in der Nach-Schröder-Ära, wo dann die deutschen Arbeitsmarktreformen und die Zwangsflexibilisierung der Arbeitnehmer sich darin äußerten, dass Deutschland extrem exportstark wurde. Das war kurzfristig erfolgreich, und die Hoffnung der jeweils nationalen Sozialdemokraten ist, dass sie auf nationalem Wege da nochmal Erfolge haben könnten. Dass sie auf diesem Wege ihren Widersachern auf der konservativ-liberalen Seite immer ähnlicher werden und Kernelemente dessen, was Sozialdemokratie ist, verloren haben, das haben sie, glaube ich, erst zu spät realisiert und jetzt wissen sie nicht, wie sie da wieder raus kommen sollen.

Scheidler: Welche Rolle hat die europäische Zentralbank in den Verhandlungen mit Griechenland gespielt? Auf dem Papier, theoretisch, soll sie ja nicht politisch agieren. De facto hat sie aber natürlich politisch agiert, indem sie den griechischen Banken beispielsweise Liquidität entzogen hat.

Schumann: Ja, die Rolle der Europäischen Zentralbank ist widersprüchlich, muss man sagen. Dadurch, dass die Euroregierungen über so lange Zeit nicht gehandelt und nicht reformiert haben, und kein eigenes Geld in die Hand nehmen wollten, um wirklich Wachstum wieder anzuschieben, während die EZB als genuine Euro-Institution ja auch ums eigene Überleben kämpft, musste die EZB versuchen, überall dagegen zu halten. Weswegen sie einerseits versucht, die Konjunktur anzukurbeln, im klassisch keynesianischen Sinne durch Vermehrung der Geldmenge und Verbesserung des Angebots und Erniedrigung der Zinsen.

Gleichzeitig sind aber sämtliche Führungsposten in der EZB durch Männer besetzt, es sind ja nur Männer, die selber hartleibige Marktradikale sind. Und da die Eurofinanzminister sie ja ausdrücklich eingeladen haben, an der Gestaltung der Krisenpolitik mitzuwirken, haben sie diese Rolle natürlich auch gerne angenommen. Das heißt, sie haben mit der einen Hand über so genannte Strukturreformen und natürlich die Austeritätsmaßnahmen europaweit die Nachfrage gedrückt, also dass sogar die Financial Times, also das Organ der Finanzanleger, von einem europäischen Nachfragemangelsyndrom spricht. Und auf der anderen Seite versuchen sie verzweifelt, die Nachfrage zu stärken, dadurch dass sie mehr Geld in Umlauf bringen. Das ist eine sehr widersprüchliche Position.

Was ich fatal finde, ist, dass sie dadurch Stück für Stück in eine Position sich haben lavieren lassen, wo sie jetzt ihre eigentliche Funktion, nämlich Zentralbank zu sein und für die Stabilität des Bankensystems und des Finanzsystems zu sorgen, nicht mehr einhalten können. Das sieht man am Beispiel Griechenland gerade ganz aktuell. Es ist die zentrale Aufgabe einer Zentralbank, das ist überhaupt, warum Zentralbanken erfunden wurden, einen Bankenkrach zu verhindern. Also den Bank-Run, die Panik zu verhindern, die die Menschen ergreift, wenn sie das Gefühl haben „meine Bank geht pleite und meine Einlagen sind weg“. Diese Angst hat aber die EZB durch die Begrenzung der Liquiditätsversorgung der griechischen Banken selber dramatisch verstärkt. Das heißt, sie haben nicht nur den Bank-Run nicht verhindert, sondern sie haben ihn selber erzeugt. Das halte ich für hochproblematisch. Und was mich verblüfft, ist, dass darüber kaum diskutiert wird.

Es gibt gar keine Auseinandersetzung dazu, sondern es wird immer gesagt, den griechischen Banken mussten die Liquiditätskredite begrenzt werden, weil das wäre ja ein Fass ohne Boden. Die Griechen schafften ihr Geld außer Landes und die EZB ersetzt es durch frisches Zentralbankgeld und betreibe damit im Grunde Staatsfinanzierung. Das ist Quatsch. Die griechischen Banken finanzieren den griechischen Staat zu einem ganz kleinen Ausmaß nur. Also, von ihrem Gesamtkreditportfolio machen die Kredite an den Staat weniger als zehn Prozent aus, nicht wirklich relevant. Das heißt, diese Begründung ist falsch.

Und das Verrückte ist, wenn Herr Draghi nur ein einziges Mal gesagt hätte “Die EZB wird dafür sorgen, das keine griechische Bank Pleite geht und es werden keine Einlagen beschlagnahmt.“, hätten die Griechen von demselben Moment an aufgehört, ihr Geld abzuheben und ins Ausland zu schaffen, im Gegenteil, wahrscheinlich wäre sogar Geld zurück gekommen. Das große Drama in Griechenland ist, dass permanent das Währungsrisiko aufrecht erhalten wird, also das alle nicht wissen, ob im nächsten Jahr der Euro immer noch die griechische Währung sein wird.

Damit schafft man ein solches Ausmaß an wirtschaftlicher Unsicherheit, dass jede Art von Investitionstätigkeit zum Stillstand kommt und dass die Menschen eben Angst kriegen um ihre Rücklagen. Das ist wirklich fatal, muss ich sagen. Und es ist auch rücksichtslos und menschenfeindlich, weil, die Folgen für die Menschen in Griechenland richtig schlimm sind. Wir erzeugen künstlich einen gescheiterten Staat und eine Verelendung, die ganz leicht aufzuhalten gewesen wäre.

Ich meine, man muss sich überlegen, zur selben Zeit, wo das passiert, schöpft die EZB jeden Monat 60 Milliarden frische Euro aus dem Nichts, um damit die Staatsanleihen anderer Eurostaaten aufzukaufen und de facto ja still zu legen. Weil, wenn die Zentralbank Staatsanleihen hat, dann kassiert sie dafür zwar Zinsen, aber diese Zinsen gehen in ihren Gewinn ein und dieser Gewinn wird zurück überwiesen an die Regierungen. Also mit anderen Worten: der Staat leiht sich selber Geld. Es findet im Grunde eine Monetisierung der Staatsschuld statt. Auch wenn das bestritten wird, das ist so 60 Milliarden im Monat! Wenn sie das nur zwei Monate lang für Griechenland gemacht hätten, wäre die gesamte griechische Schuldenkrise vorbei gewesen! Das ist ein unerträglicher Widerspruch.

Scheidler: Und die Motive dafür?

Schumann: Die EZB-Leute glauben daran, dass man diese Krise dafür nutzen muss, um den europäischen Wohlfahrtsstaat auf ein Minimum zusammen zu schrumpfen, und mehr, wenn man so will, amerikanischen Verhältnissen anzugleichen. Herr Draghi hat das in einem Interview mit dem Wall Street Journal schon 2011 einmal gesagt. Da wurde er gefragt, ob denn die Eurokrise jetzt zeige, dass das europäische Sozialmodell ins Schwanken gerät und dann hat er ganz lässig gesagt: „Das europäische Sozialmodell ist ja schon gescheitert, das sehen wir doch“. Also mit anderen Worten, das, was die Europäer bisher gemeint haben, was sie von vielen anderen Gegenden der Welt unterscheidet, nämlich, dass sie auf soziale Gerechtigkeit achten, Absicherung für schwere Lebenslagen, das war ein Charakteristikum des so genannten Rheinischen Kapitalismus, der aber doch in ganz Europa Rückhalt hatte, außer vielleicht in Großbritannien; dieses Modell soll im Grunde geschliffen werden und damit hat man in den Krisenstaaten ja schon weit gehend Erfolg. Und das wird sich natürlich von der Peripherie zum Zentrum fortsetzen und da machen auch die EZB-Leute mit.

Scheidler: Ein Teil des neuesten Kreditprogramms und so genannten Rettungspakets ist ein Treuhandfonds unter Kontrolle der Gläubiger, über den ein großer Teil des griechischen Staatsvermögens privatisiert werden soll. Ausdrückliches Vorbild für diesen Fonds ist die deutsche Treuhand, von der wir ja wissen, dass sie ein geschätztes Vermögen der DDR von etwa 600 Milliarden DM in 200 Milliarden DM Schulden verwandelt hat. Und auch Massenarbeitslosigkeit und eine De-Industrialisierung der Wirtschaft im Osten hinterlassen hat. Wie bewerten Sie diesen Fonds und was wird er für Griechenland bedeuten und welche Rolle spielen möglicherweise auch deutsche Firmen dabei?

Schumann: Es gibt in der, zumindest in der vorläufigen Konstruktion, einen Fortschritt gegenüber dem, was vorher war. Diese 50 Milliarden sollen erwirtschaftet werden innerhalb von 30 Jahren. Das heißt, man nimmt Zeitdruck raus, theoretisch zumindest. Wenn es bei dieser Konstruktion, es ist ja noch nicht endgültig verhandelt, aber wenn es bei der Konstruktion bleibt, ist es ein Fortschritt gegenüber vorher. Vorher musste wirklich so schnell wie möglich so viel wie möglich verkauft werden, was nun wirklich absurd war. Zu einem Zeitpunkt, wo die Nachfrage extrem niedrig ist, wegen der großen wirtschaftlichen Unsicherheit, verkauft man Staatsbesitz natürlich nur zum extrem niedrigen Preis und das in aller Regel dann auch nur an die griechischen Oligarchen, die eben über eigene politische Verbindungen verfügen, zusammen mit ihren chinesischen und arabischen Investitionspartnern. So ist es ja bisher gelaufen. Es ist nicht grundsätzlich falsch, heruntergekommene staatliche Infrastrukturunternehmen, die inflexibel sind, die zu wenig investieren, die nicht innovativ sind, zu privatisieren, das muss nicht falsch sein. Entscheidend sind wirklich die Bedingungen, der Preis, und, was passiert mit den Beschäftigten?

Also, wenn man den deutschen Fall der Telekom nimmt, es war nicht unbedingt falsch, die Telekom zu privatisieren. Gemessen an dem, was dieser Konzern früher geleistet hat, leistet er heute sowohl für die Kundschaft als auch für die Beschäftigten wesentlich mehr. Es kommt immer eben auf die Bedingungen an, deswegen bin ich nicht pauschal gegen Privatisierung. Es geht darum, sich dagegen zu wehren, zu privatisieren um jeden Preis. Und eben, wenn die Privatisierung für den Staat unwirtschaftlich ist. Also der klassische Fall ist jetzt der Verkauf dieser Regionalflughäfen an ein deutsches Staatsunternehmen, was ja die besondere Absurdität ist, Privatisierung als Kolonialisierung. Der deutsche Staat übernimmt die griechischen Regionalflughäfen über seine Gesellschaft Fraport und übernimmt aber nur die Flughäfen, die rentabel sind. Und die Flughäfen, die nicht rentabel sind, die aber zur Aufrechterhaltung der Binnenversorgung im Land notwendig sind, bleiben dem griechischen Staat erhalten, so dass der griechische Staat unterm Strich Verlust machen wird, langfristig, trotz der kurzfristigen Einnahmen mit dem Verkauf. Das ist im Grunde nur Plünderung von Staatsvermögen ohne Sinn und Verstand. Auch da wiederum wundert mich, warum es auf europäischer Ebene und auf deutscher Ebene gegen diesen Schwachsinn keine richtige Opposition gibt, insbesondere von der Sozialdemokratie.

Scheidler: Der US-Ökonom Paul Krugman schrieb neulich, dass der Euro keine Zukunft habe, weil inzwischen jedes Mitgliedsland weiß, dass im Krisenfall die Gläubiger die Macht haben, die Wirtschaft des Schuldnerlandes zu zerstören. Geben Sie dem Euro eine Zukunft?

Schumann: Bei Fortsetzung des bisherigen Regimes nicht, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis in irgendeinem Land, Frankreich oder Italien sind die herausragenden Kandidaten, die Mehrheit der Bürger Parteien wählen, die ihren Wählern versprochen haben, ihr Land aus dem Euro heraus zu führen. Das Schlimme ist, dass die Allermeisten keine praktische Vorstellung davon haben, wie das gehen soll. Eine Währungsunion ist eine Einbahnstraße. Und als Einzelner daraus auszuscheren ist eben wirklich, wie auf der Autobahn in die Gegenrichtung fahren.

Man muss sich das so vorstellen: wir haben jetzt seit 15 Jahren eine Währungsunion. Das bedeutet, das Zig-Tausende, vielleicht Hunderttausende von Unternehmen grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen haben, mit Lieferungen, Vorlieferungen, ganze Lieferketten über mehrere Länder hinweg. Und die funktionieren alle unter dem wesentlichen Kriterium, dass es kein Währungsrisiko gibt. Sprich, die Preise, die ich mit meinem Geschäftspartner in Frankreich, in Spanien, in Portugal aushandele, stehen in Euro da und die werden auch in Euro bleiben, auch in fünf Jahren. In dem Moment, wo ich dieses Währungsrisiko wieder einführe, sind alle diese Geschäftsbeziehungen hinfällig, funktionieren auch nicht, weil, die Unternehmen sich dann gegen Kursverfall oder -steigerungen absichern müssen. Das kostet wiederum viel Geld. Und dann werden viele dieser Geschäfte einfach nicht mehr stattfinden. Das heißt, ein erheblicher Teil der europäischen Arbeitsteilung, die sich in den letzten 15 Jahren entwickelt hat, müsste rückwärts abgewickelt werden.

Das geht aber nur mit Verlusten an Arbeitsplätzen und Wohlstand. Mit anderen Worten, wenn wir den Euro wieder auflösen, kriegen wir so etwas wie eine währungsbedingte Rezession in der gesamten Eurozone. Und, wie wir wissen, steigende Arbeitslosigkeit, Rezession, Armut und Verelendung haben immer politische Folgen. Das heißt, wahrscheinlich ist das dann wieder Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten und Rechtsradikalen. Und eine innere politische Destabilisierung nicht nur in einem, sondern gleich in mehreren Eurostaaten. Darum meine ich, wie der Engländer sagt: „Be careful what you wish for!“. Ich sehe, dass das jetzige Eurokrisenregime natürlich zutiefst undemokratisch und auch auf Dauer nicht durchhaltbar ist. Aber darum würde ich trotzdem im Moment die Hoffnung noch nicht aufgeben, zu versuchen, dieses Regime auf eine rationale Wirtschaftspolitik mit einer gemeinsamen, von einem Parlament kontrollierten und gewählten Regierung und einer gemeinsamen Steuer- und Schuldenpolitik umzustellen, dass das, zumindest ökonomisch, die rationalere Lösung ist. Und letztlich auch unter dem Gesichtspunkt von Demokratie und Einhaltung von Grundrechten die bessere Lösung wäre.

Ich weiß, es ist sehr schwer zu erkämpfen, und wir haben das große Problem, dass Europas soziale Bewegungen sich unglaublich schwer damit tun, sich transnational zu organisieren, auch die Gewerkschaften. Aber, wenn wir’s jetzt nicht versuchen, dann ist absehbar, dass wir in ein Europa hineinrauschen, was dem unserer Eltern wieder viel ähnlicher wird, wo wieder nationalistische Ressentiments die Politik bestimmen, wo irrationale Wirtschaftspolitik dazu führt, das Armut und Arbeitslosigkeit eher noch zunehmen. Und wo wir all das, und diese ungeheuren Fortschritte, die Europa uns gebracht hat in den vergangenen 50 Jahren alle nach und nach wieder verlieren werden. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich froh, dass ich nicht mehr so jung bin.

Scheidler: Als Lösung der strukturellen Fehler der Eurozone und auch des Demokratiedefizits in der Eurozone schlagen Sie, ähnlich wie der französische Präsident Francois Hollande, die Einrichtung eines Eurozonenparlaments und einer Eurozonenregierung vor. Warum dieser Vorschlag in einer EU, die ohnehin von bürgerfernen Institutionen oder als bürgerfern empfundenen Institutionen geprägt ist?

Schumann: Es ist die einzige Lösung, die ich sehe und die ich guten Herzens unterstützen kann. Jetzt kann man ja sagen: „Das ist alles Utopie und die Europäer haben die Schnauze voll von Europa“. Es käme vielleicht darauf an, dass wir versuchen, Politiker zu entwickeln, aufzubauen, die den Bürgern erklären, dass diese Position „Ich hab die Schnauze voll von Europa“ Schwachsinn ist, dass sie irrational ist und das sie sich damit nur selber schaden werden. Wir leben in einer global integrierten Ökonomie, ob uns das passt oder nicht. Und innerhalb dieser global integrierten Ökonomie können einzelne europäische Länder keine autonome Wirtschaftspolitik machen.

Also jeder Politiker, der seinen Wählern verspricht: „Wir hier in Frankreich, wir in Italien, oder wir in Deutschland machen künftig jetzt wieder nur noch Politik für uns und dann geht’s uns gut“, der hat entweder von der globalisierten Ökonomie überhaupt nichts verstanden, oder aber er lügt. Beide Möglichkeiten gibt’s und kenne ich auch, aber diejenigen, die uns versprechen, dass sie uns auf nationaler Ebene aus dieser Misere herausführen, sie werden scheitern.

Und darum plädiere ich dringend dafür, dass jeder, der Kopf und Herz und Verstand hat, mit seinen Mitbürgern spricht und sie darüber aufklärt, dass sie sich dieses Europa aneignen müssen. Und eben nicht den Technokraten, und den Eliten und den Lobbyisten überlassen dürfen. Dazu gehört zum Beispiel, dass man mal zu seinem Europaabgeordneten geht. Und einfach mal seine demokratischen Rechte wahrnimmt. Und sagt: „Hör mal zu, Alter, Du sitzt im Europaparlament als Parlamentarier. Du sollst unsere demokratischen Rechte verteidigen. Wie kannst Du es zulassen, dass seit fünf Jahren nicht gewählte Technokraten in den Krisenländern der Eurozone Politik machen? Ohne, dass sie ein einziges Mal bei Euch Rechenschaft ablegen müssen, geschweige denn, dass Ihr ihnen sagen dürft: „Tut dies und tut dies nicht“. Wer ist verantwortlich dafür, dass in Griechenland ein Drittel der Menschen keine Gesundheitsversorgung mehr haben? Wer hat das eigentlich genau entschieden?

Die griechischen Regierungen sagen alle: „Das haben uns die Kreditgeber auferlegt“. Die Kreditgeber? Wer repräsentiert die? Du bist Europaabgeordneter. Warst Du eigentlich dafür, dass in Griechenland ein Drittel der Menschen keine Gesundheitsversorgung mehr hat? Wenn Du nicht dafür warst, warum hast Du nichts dagegen gemacht?“ Diese Art von Debatten müssen geführt werden. Was anderes fällt mir nicht ein.

Scheidler: Und nochmal zu dem Eurozonenparlament. Was ist die Idee dabei?

Schumann: Na, die Idee dabei ist, dass man eine europäische Regierung braucht, die ein eigenes Budget, ein Steuerrecht und auch das Recht hat, selber Kredite aufzunehmen, um mit diesem Geld der wirtschaftlichen Auseinanderentwicklung der Eurozonenstaaten entgegen zu wirken. Nicht als ein einfacherFinanzausgleich, das muss vielleicht irgendwann auch mal sein. Sondern in erster Linie, um Investitionen in Bildung und Infrastruktur und Forschung anzuschieben, die es diesen Ländern ermöglichen, wirtschaftlich aufzuschließen. Dafür brauchen wir ein europäisches Budget. Da aber der Grundsatz gilt: „No taxation without representation“, wenn die ein europäisches Steuerrecht und ein europäisches Budget haben, dann möchte ich die gefälligst auch wählen und abwählen können. Und dafür brauche ich natürlich auch ein Parlament für die Eurozone, was ein richtiges Parlament ist, also, was auch das Initiativrecht hat, sprich, was selber Gesetze machen kann, nicht nur die Gesetze nachvollziehen, die irgendwelche Technokraten ihnen vorschlagen. Und dazu gehört natürlich auch, dass man tatsächlich europäisch wählt. Also ein Eurozonenparlament müsste dann wirklich „one man, one vote“, ja, also ein Bürger, eine Stimme sein. Dadurch kommen kleine Nationen natürlich unter die Räder, weil sie unterrepräsentiert sind und dafür muss es dann einen Bundesrat, ja, eine Oberkammer, geben, so wie es in allen anderen föderalen Staaten auch ist. Wir müssen, wenn wir die Eurozone als politisch und wirtschaftlich überlebensfähig gestalten wollen, sie einem föderalen Staat sehr ähnlich machen. Es muss nicht sofort eine allmächtige Bundesregierung sein wie in Amerika, aber es muss eine wirtschaftlich potente Regierung sein.

Scheidler: James Madison, einer der Gründerväter der USA und Hauptautor der amerikanischen Verfassung, schrieb vor etwa 240 Jahren, dass echte Demokratie eine große Gefahr für den Staat sei und wir statt dessen eine ‚Republik‘ bräuchten, in der die Repräsentanten weit entfernt von den Bürgern sind. Und dies funktioniere umso besser, je größer das Staatswesen sei, der Staatenverbund oder das Territorium, weil dadurch natürlich die Repräsentanten noch eine größere Distanz zu den Bürgern haben. Wäre ein Eurozonenparlament nicht auch wiederum so eine Konstruktion? Sehr entfernt von den Bürgern, riesiger Staatenverbund? Brauchen wir nicht stattdessen mehr lokale und regionale Demokratie?

Schumann: Ja. Aber. Natürlich müssen wir versuchen auch so viel wie möglich auf die regionale und lokale Ebene zurück zu holen und dort auch zu entscheiden, was dort zu entscheiden ist. Aber wir haben eine transnationale, integrierte Wirtschaft, davon leben wir alle. Der verdanken wir unseren Wohlstand, wir leben hier im Paradies. Das muss man auch mal zur Kenntnis nehmen. Also wenn wir unsere gesamte Volkswirtschaft umstellen würden, auf regionale, autarke Kreisläufe, bedeutet das einen völligen Systemwechsel, es bedeutet die Abschaffung des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, und es bedeutet eine völlig andere Lebensweise als die, die wir gewohnt sind. Das muss man dann ehrlicherweise dazu sagen. Ich bin da vielleicht schon zu alt, aber ich glaube, dass ich das nicht mehr erleben werde. Sondern ich denke, der Weg nach vorne liegt da, dass wir eine internationale Integration haben, wirtschaftliche Integration, die wir noch lernen müssen demokratisch und politisch zu beherrschen.

Ja, ein Eurozonenparlament hätte natürlich das Problem, dass es über dreihundert Millionen Menschen regieren müsste, und wir müssten es vermutlich auch ergänzen durch eine wirklich praktikable europäische Bürgerinitiative, die Direktentscheidungen möglich macht, zumindest grundsätzlicher Natur, und wir müssen da sicherlich lernen. Die Sache ist die: Demokratie ist noch nie einfach vom Himmel gefallen. Sondern alle Demokratie auf dieser Welt musste, in der einen oder anderen Form, erkämpft werden. Und genau so wird es auch mit der europäischen sein.

Scheidler: Wie bewerten Sie die Rolle der deutschen Medien in der Griechenland-Krise und speziell in den fünf Monaten der Verhandlungen mit der griechischen Regierung?

Schumann: Bei der Berichterstattung über die aktuelle Krise in Griechenland ist in den vergangenen Monaten wirklich dramatisch etwas schief gegangen. Es wurde in einem Ausmaß Falschberichterstattung, diffamierende, beleidigende Berichterstattung über griechische Politiker geleistet, die ich mir noch vor einem Jahr niemals hätte vorstellen können. In gewisser Hinsicht war die jüngste Griechenland-Krise für die deutschen Medien, was der Irakkrieg für die amerikanischen Medien war, Versagen auf breiter Front.

Das hat allerdings auch damit zu tun, dass es von keiner autoritativen Stelle aus eine starke Stimme gab, die diesem nationalistischen, kulturrassistischen Ressentiment gegen „die Griechen“ entgegen getreten wäre. Weder der deutsche Bundespräsident, noch die Sozialdemokratie, noch die Kirchen, noch irgendjemand anderes mit moralischer Autorität ist mal aufgetreten und hat gesagt: „Sagt mal, Leute, spinnt ihr eigentlich? Die Griechen?“ Ich meine, dass ein deutscher Unionspolitiker wie der Schwiegersohn von Herrn Schäuble sich hinstellt und sagt: „Der Grieche hat genug genervt.“ Das ist die Sprache des „Landser“, das ist die Sprache der 1920-iger, 1930-iger Jahre.

Jeder, der sich ein bisschen mit den ökonomischen Zusammenhängen befasst hat, weiß, dass es nicht um „die Griechen“ und „die Deutschen“ geht, sondern dass es um „die Kreditgeber“ und „die Gläubiger“ geht. Und das sind sowohl Griechen als auch Deutsche. Die Umdeutung eines Verteilungskonfliktes in einen Konflikt zwischen den Nationen, das zu überwinden war die zentrale Aufgabe der europäischen Integration. Genau das sollte nie wieder sein. Und dass das dann von deutschen Medien völlig unkritisch mit betrieben worden ist, ist wirklich fatal.

Und ich kann es mir ehrlich gesagt nur so erklären, dass Journalisten sehr abhängig sind von ihren Quellen und wenn aus vielen Quellen die gleiche Botschaft kommt, dann wird das eben so geschrieben. Oder gesendet. Und da man nicht dauernd in Abspaltung von sich selbst berichten und senden kann, machen die Menschen sich das dann zu Eigen. Da sind Journalisten genau wie alle anderen Menschen auch. Und dadurch ist an einer ganz wichtigen Stelle die zentrale Funktion der Journalisten, nämlich kritisch zu sein und nicht zu glauben, was gesagt wird, sondern zu hinterfragen und zweite und dritte Quellen zu suchen, ist dann da zumindest an einem wichtigen Punkt untergegangen, was ich sehr bedaure.