Fachkräftemangel? - Nur jeder fünfte Betrieb bildet aus!

Von Otto König und Richard Detje

24.03.2015 / sozialismus.de, 23.03.2015

Die Beschwörung eines akuten und künftig sich noch weiter verstärkenden Facharbeitermangels gehört zum Repertoire der Arbeitgeberverbände. Insbesondere im Zusammenhang mit gewerkschaftlichen Forderungen nach flexiblen Modellen für den Ausstieg von ArbeitnehmerInnen aus dem Erwerbsleben werden PR-Kampagnen gestartet, die bei Medienverantwortlichen auf fruchtbaren Boden fallen.

So lieferte die Tagesschau Mitte Januar die Botschaft in die Wohnzimmer: »Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet mit einer weiteren Verschärfung des Fachkräftemangels in der deutschen Wirtschaft.« Die ökonomische Begründung wurde gleich mitgeliefert: Eine Studie zeige, dass in besonders betroffenen Berufen während der nächsten 15 Jahre mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer in den Ruhestand gingen. Dies habe den Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, zu seinem Vorschlag animiert, Arbeitnehmer sollten künftig auf freiwilliger Basis bis 70 arbeiten. Prompt schob Arbeitgeberpräsidenten Ingo Kramer die Warnung hinterher: »Die Leistungskraft der Sozialsysteme und der Volkswirtschaft steht insgesamt auf dem Spiel«.

Nebenbei erfuhren die ZuschauerInnen, dass die vom BMWi finanzierte Studie[1] vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) durchgeführt worden war. Für den DIW-Arbeitsmarktexperten Karl Brenke sind solche Schreckensmeldungen interessengeleitet, die Arbeitgeber wollen junge Menschen ermuntern, »eine Karriere in einem MINT-Beruf (Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft und Technik) einzuschlagen«. Denn je mehr Absolventen in diesem Segment miteinander konkurrieren, desto weniger stehen die Arbeitgeber unter Druck, die Löhne zu erhöhen.«[2]

Sollte es in den kommenden Jahren bei Fachkräften zu Engpässen kommen, ist dies vornehmlich der zunehmenden »Ausbildungs-Unwilligkeit« der Arbeitgeber zuzuschreiben. Das ergibt sich aus der »Ausbildungsbilanz 2014«, die die IG Metall erstellt hat.[3] Dieser Analyse zufolge sind die Ausbildungszahlen 2014 auf einem historischen Tiefstand angekommen. Wurden im Jahr 2000 noch 620.000 Ausbildungsverträge abgeschlossen, waren es in 2014 gerade mal 522.231 – davon 448.908 (-1,4% gegenüber Vorjahr) in den alten und 73.323 (-1,2%) in den neuen Bundesländern.

Die Bereiche Industrie, Handel und Handwerk verzeichnen den größten Teil des Rückgangs. In Industrie und Handel wurden 310.761 (-2,1%) und im Handwerk 141.234 (-1,4%) Ausbildungsverträge abgeschlossen. Im öffentlich finanzierten Bereich beträgt die Zahl der abgeschlossenen Verträge 20.142.

Nur noch jeder fünfte Betrieb bildet aus. Ende 2013, dem letzten Erhebungstag des IAB-Betriebspanels, waren das 438.000 Firmen. 2008 bildeten deutschlandweit noch über 490.000 Unternehmen aus, die Quote der Ausbildungsbetriebe sank damit binnen fünf Jahren von 24,1 auf 20,7%. Und dies, obwohl die »duale Berufsausbildung« in Deutschland als Vorbild für die europäischen Länder mit hoher Jugendarbeitslosigkeit dargestellt wird.

Auch in der Metall- und Elektroindustrie sanken die Ausbildungsquoten, was zu einer Gefährdung des Fachkräftenachwuchses führen kann. Weisen der Maschinenbau und der Wirtschaftszweig Herstellung von Metallerzeugnissen noch eine Quote von 5,2% aus, bildet die Automobilindustrie mit einer Quote von 3,3% das Schlusslicht. Gegenüber dem Vorjahr wurden 840 Verträge in dieser Industriebranche weniger abgeschlossen (-1,8%).

Eine aktuelle Sonderauswertung des Duisburger Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) zeigt, dass die Ausbildung in den Metall- und Elektroberufen in den letzten 20 Jahren um 36,5% geschrumpft ist. Zu wenige neue Fachkräfte treten in den Arbeitsmarkt ein. »Der Kernbereich der deutschen Exportindustrie, die Metall- und Elektroindustrie, ist nicht hinreichend für die Zukunft gerüstet«, warnt deshalb der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch vom IAQ (Website der IG Metall, 12.2.2015).

Von den insgesamt 810.540 potenziellen Ausbildungs-BewerberInnen erhielten 522.231 einen Ausbildungsplatz. Die Einmündungsquote in eine Berufsausbildung sank damit auf 64,4%. 288.309 Jugendliche fanden keine Ausbildungsstelle – davon sind 81.188 nach wie vor als Suchende registriert, die anderen haben sich umorientiert, absolvieren Praktika oder hängen in verschiedenen Maßnahmen des Übergangs von der Schule in die Ausbildung.

Im vergangenen Jahr blieben 37.101 Ausbildungsplätze unbesetzt, überwiegend in Wirtschaftsbereichen mit unattraktiven Arbeits- und Ausbildungsbedingungen wie im Hotel- und Gaststättengewerbe und im Lebensmittelhandwerk. Der »Ausbildungsreport 2014«[4] des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hat nachgewiesen: Je schlechter die Ausbildungsbedingungen in den jeweiligen Wirtschaftssektoren sind, desto schwieriger ist es für Betriebe, Auszubildende zu finden bzw. zu halten. Ausbildungsfremde Tätigkeiten, regelmäßige Überstunden, Verstöße gegen den Jugendarbeitsschutz, niedrige Ausbildungsvergütungen und Nichtübernahme nach abgeschlossener Ausbildung in Handwerksbetrieben und in der Gastronomie schrecken ab.

»Die Zahlen der IG Metall spiegeln nicht die Lage auf dem Ausbildungsmarkt wider«, weist Markus Kiss, Ausbildungsexperte beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag, entschieden den Vorwurf zurück, die Unternehmen bildeten zu wenig aus. Dass zuletzt weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen wurden, habe ganz wesentlich mit der sinkenden Zahl der Schulabgänger und dem Run auf die Universitäten zu tun. 2003 hätten noch 950.000 junge Leute die Schulen verlassen, im vergangenen Jahr seien es nur noch 850.000 gewesen. Im gleichen Zeitraum habe sich die Zahl der Studienanfänger von 377.000 auf 500.000 erhöht (vgl. Frankfurter Rundschau, 11.2.2015). Mit pauschalen Verweisen wie diesen mogelt sich der DIHT weiterhin an der erschreckend hohen Zahl ausbildungsinteressierter Jugendlicher ohne Ausbildungsplatz wie auch an der notwenigen Verbesserung der Ausbildungsqualität und damit -attraktivität vorbei.

»Das große Klagen über einen drohenden oder bereits vorhandenen Fachkräftemangel kann man nicht länger ernst nehmen. Die Unternehmen strafen sich mit ihrer Passivität selbst Lügen«, kritisiert IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. Viele Unternehmen würden nach wie vor statt auf nachhaltige Personalplanung weiterhin auf kurzfristige Kostenersparnis und schnellen Profit setzen oder verhielten sich wie »bildungspolitische Trittbrettfahrer«, die darauf hoffen, dass die Konkurrenz ausbildet, um dann deren Fachkräfte abzuwerben.

Für die Gewerkschaften ergibt sich aus der aktuellen Analyse der Ausbildungssituation 2014 ein dringender Handlungsbedarf für die im Dezember 2014 neu vereinbarte »Allianz für Aus- und Weiterbildung«.[5] Diese von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Politik gebildete Allianz setzt sich für die kommenden vier Jahre u.a. folgende Ziele: Aufwertung der Bedeutung und Attraktivität der beruflichen Bildung, Reduzierung der Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss, Aufzeigen eines Pfades für jeden ausbildungsinteressierten Menschen im Rahmen der im Koalitionsvertrag angesprochenen Ausbildungsgarantie, Erhöhung der Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze und der Zahl der ausbildungsbereiten Betriebe.

Da eine Vereinbarung über zusätzliche betriebliche Ausbildungsverträge aufgrund des Widerstands der Wirtschaft bisher nicht zustande kam, macht sich ein Erfolg der »Allianz« für die IG Metall insbesondere an folgenden Punkten fest: Steigerung der Anzahl von betrieblichen Ausbildungsverträgen, vor allem auch im Bereich der Metall- und Elektroberufe, IT-Berufe und kaufmännischen Berufen und an einer steigenden Zahl von TeilnehmerInnen in der beruflichen Fortbildung.

Jetzt müsste die Wirtschaft liefern: Diese hat 20.000 zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze allein für das laufende Jahr versprochen. Da das nicht ausreicht, strebt die Metall-Gewerkschaft eine Ausbildungsgarantie für alle Jugendlichen an. Dazu sei es auch notwendig, dass Betriebsräte in den Betrieben die »Fachkräftesicherung« zum Thema machen. Ziel eines Aktionsplans sollte sein: Einforderung einer Fachkräftebedarfsplanung beim Arbeitgeber für mindestens fünf Jahre in Verbindung mit der Erhöhung des betrieblichen Ausbildungsangebots, sowohl was die Zahl der Ausbildungsberufe als auch der Ausbildungsplätze anbelangt.

[1] Sebastian Bußmann/Susanne Seyda: Fachkräfteengpässe in Unternehmen – Die Altersstruktur in Engpassberufen, Gutachten für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.
[2] Vgl. Mythos Fachkräftemangel?, Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, 26.2.2015.
[3] Ausbildungsbilanz 2014. Eine Analyse der IG Metall, FB Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik, IGM Vorstand Februar 2015.
[4] Studie »Ausbildungsreport 2014. DGB Bundesvorstand, Abt Jugend und Jugendpolitik, Berlin September 2014, An der repräsentativen Befragung der Gewerkschaftsjugend haben sich 18.357 Auszubildende aus den 25 laut Bundesinstitut für Berufsbildung häufigsten Ausbildungsberufen beteiligt. Es wurden Auszubildende aus betrieblicher und dualer Ausbildung befragt, aus allen Ausbildungsjahren und aus Betrieben unterschiedlichster Größe. Der Ausbildungsreport wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozial-pädagogische Forschung Mainz (ism) erstellt.
[5] Die »Allianz für Aus- und Weiterbildung von 2015 bis 2018« wird getragen von der Wirtschaft (BDA, DIHK, ZDH), dem Staat (Bund, Länder) und den Gewerkschaften (DGB, IG Metall, Verdi). Sie wurde am 12. Dezember 2014 in Berlin gebildet.