Bewährungsproben in Europa – ein erster Ausblick auf das Jahr 2015

Von Axel Troost

04.01.2015 / 03.01.2015

Die politisch-ökonomische Bilanz des Jahres 2014 fällt für die europäische Ebene durchwachsen aus. Die Hoffnungen vieler BürgerInnen auf eine Besserung ihrer Lebensverhältnisse haben sich nicht erfüllt. Um 1,2 Prozent, so die Prognose der Kommission der Europäischen Union, sollte die Volkswirtschaft des gemeinsamen Währungsraumes insgesamt in 2014 wachsen. Doch im Herbst hat die Brüsseler Behörde ihre Prognose auf 0,8 Prozent zurückgenommen. Und die Aussichten für 2015 wird mit 1,1 Prozent Wirtschaftswachstum sehr bescheiden eingeschätzt. Die meisten Prognosen sehen die Eurozone mit einem solch geringen Wachstum von 1,2 bis 1,5 Prozent. Dies bedeutet, dass sich die Arbeitslosigkeit von zuletzt 11,3 Prozent nicht reduzieren wird. Auch die politischen Anstrengungen der Regierungen von Italien und Frankreich, mit zusätzlichen Wachstumsimpulsen die Lage des Großteils der Bevölke­rungen zu verbessern, führen vermutlich bestenfalls dazu, den Trend der Schrumpfung und Erhöhung der Arbeitslosigkeit zu verlassen. Italien und Frankreich sind neben den eigentlichen Krisenländern Griechenland, Spanien und Portugal die neuen Sorgen­kinder der Eurozone.

Europa und die Eurozone werden auch im Jahr 2015 nicht zu den Säulen wirtschaft­licher und politischer Stabilität gerechnet werden können. Das Hauptrisiko: der Konflikt um die Ukraine und Russland hat ohne Zweifel erheblich dazu beigetragen, dass das Jahr 2014 wirtschaftlich nicht so lief, wie von vielen Zeitgenossen erwartet. Denn die Sanktionen des Westens gegen Russland haben nicht nur dieses Land selbst, sondern auch einige Volkswirtschaften in Europa, die enge Handelsverflechtungen mit dem Land haben, negativ getroffen. Auch die Wirtschaft der Ukraine ist schwer beschädigt und der bisherige Unterstützungsfonds durch die EU, USA und den Internationalen Währungs­fonds ist ausgeschöpft. Mittlerweile steht Russlands Wirtschaft – auch infolge des Preis­verfalls im Rohstoffsektor und vor allem bei den Energiepreisen – vor einem drama­tischen Schrumpfungsprozess. Eine Überwindung der militärischen Konfrontation vor der Haustür Europas ist durchaus möglich, aber selbst bei dieser optimistischen Annahme wird die Aufhebung der wirtschaftlichen Schäden enorme große gesellschaft-lichen Anstrengungen und einige Zeit in Anspruch nehmen.

Angesichts dieses Risikopotenzials sind die politischen Initiativen der EU-Kommission völlig unzureichend. Selbst der EZB-Präsident Mario Draghi fordert zum Jahresbeginn von den Staaten der Eurozone neue Impulse. Fehlende Reformen „erhöhen das Risiko eines Ausscheidens (aus dem Euro)“, unterstreicht Draghi. Die Konsequenzen eines Euro-Austritts würden letztendlich alle Euro-Staaten treffen. Die Europäische Zentral­bank (EZB) könne mit ihrer Geldpolitik, die auf Preisstabilität abziele, nicht auf Fehl­entwicklung und ökonomische Schocks in einzelnen Staaten reagieren. Die Euro-Länder müssten die Währungsunion vollenden, indem sie ihre Wirtschaftspolitik enger abstimmten. Auch die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, forderte zusätzliche Anstrengungen. Der Weltwirtschaft drohe eine langwierige Phase von niedrigem Wachstum; vor allem Europa könne und müsse mehr leisten. Die beim G-20-Treffen beschlossenen Maßnahmen zur Ankurbelung des Wachstums müssten umgesetzt werden, betonte Lagarde. Die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G-20) wollen die globale Konjunktur in den nächsten fünf Jahren um zusätzliche 2,1 Prozentpunkte anschieben, auch um Millionen neue Jobs zu schaffen, wie die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen Mitte November erklärten. Dazu sollen Anreize für Investitionen, etwa zum Ausbau der Infrastruktur, sowie der Abbau von Handelshemmnissen beitragen. „Die Geldpolitik muss weiterhin locker bleiben, während das Wachstum schwach bleibt. Wir müssen aber das Risiko möglicher Neben­wirkungen genau beobachten“.

Die ökonomischen Fehlentwicklungen werden immer offenkundiger zu einem politi­schen Problem. Die ökonomische Stagnation in der Euro-Zone und das beträchtliche Risiko des Umschlags in eine rezessive Entwicklung stellen das Projekt der europä­ischen Union mehr und mehr in Frage. In Frankreich und Italien schaffen es die Regierungen nicht, eine breit getragene gesellschaftliche Erneuerung anzuschieben und erste Impulse gegen die hohe Arbeitslosigkeit zu erkämpfen. Mit den neoliberalen Reformen – Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und weiterem Sozialabbau – werden die vorhandenen gesellschaftlichen Gräben weiter vertieft. Diese Schwierigkeit, eine wirtschaftliche Entwicklung zu organisieren und die Existenz des Großteils der Bevölkerungen durch gute Lohnarbeit und auskömmliche soziale Transfers zu sichern, führt zu wachsendem gesellschaftlichen Unmut. In Italien kam es erneut zu einem Generalstreik gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung. Und in Griechenland steht nach dem Scheitern der Neuwahl eines Staatspräsidenten endlich eine Neufest­setzung der politischen Kräfteverhältnisse auf der Tagesordnung.

Bei der Parlamentswahl in Griechenland im Januar fällt die Entscheidung zwischen zwei grundverschiedenen finanz- und wirtschaftspolitische Konzepten; der Ausgang dieses Machtkampfes wird – so oder so – auch die weitere Entwicklung in Europa beein­flussen. Auf der einen Seite steht ein „weiter so“, getragen von der konservativen Nea Dimokratia und einer massiv beschädigten sozialdemokratischen Partei Pasok, die trotz offenkundigen Scheiterns den neoliberalen Austeritätskurs im Sinne der Troika von EU, EZB und IMF fortführen wollen. Auf der anderen Seite steht das Parteienbündnis SYRIZA mit dem Angebot diese Austeritätspolitik zu beenden.

In Griechenland gibt seit vier Jahren eine diskreditierte politische Klasse mit Spar­zwänge den Takt vor. Jetzt versucht diese einen möglichen Wahlerfolg SYRIZAS zu verhindern, weil ein Wahlsieg SYRIZAS eine neuerliche Zuspitzung der Wirtschafts- und Schuldenkrise nach sich ziehen werde. Aus Angst vor politischen und wirtschaft-lichen Turbulenzen, so wird in den griechischen und europäischen Medien kolportiert, hoben im Dezember zahlreiche Sparer und Unternehmen insgesamt 2,5 Milliarden Euro von ihren Bankkonten ab. Der Vorsitzende SYRIZAS, Alexis Tsipras, dagegen ruft die Wählerinnen und Wähler dazu auf, sich nicht von diesen Schreckensvisionen beeindrucken lassen. Es wird bis zur Wahl darauf ankommen, die Wählerinnen und Wähler mehrheitlich davon zu überzeugen, dass das Programm einen realitätstüchtigen Weg aus dem bisherigen Austeritätskurs weist. Wird SYRIZA bei der Neuwahl stärkste Kraft und kommt das Bündnis an die Macht, will sie mit einem Sofortprogramm die „humanitäre Katastrophe“ beenden und eine Transformation in Richtung eines neuen gesellschaftlichen Entwicklungstyps einleiten. Das politische Credo des linken Parteienbündnisses: „SYRIZA und der Wille der Wähler stellen weder für Griechenland noch Europa eine Bedrohung dar. Sie sind ein möglicher Ausweg aus der Krise. Im letzten Jahr wurde Griechenland zum Versuchskaninchen für Sparmaßnahmen, die sich als Reinfall und Katastrophe entpuppt haben.“

Ein Wahlsieg von SYRIZA bedeutet noch nicht automatisch die parlamentarische Mehrheit und die Regierungsfähigkeit. In jedem Falle wird aber mit dem politischen Votum auch die Agenda in der Eurozone verändert. Die linken und fortschrittlichen Kräfte in Europa werden damit aufgefordert sich für eine umfassende Erneuerung der Politik einzusetzen.

Mit den britischen Unterhauswahlen am 7. Mai wartet schon die nächste, entgegen­gesetzte Weichenstellung. Ein politischer Erfolg für die UK Independence Party wäre ein weiteres Signal für die Stärkung der rechtspopulistischen Kräfte und ihr Projekt einer deutlichen Einschränkung der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik sowie der Auf­lösung des europäischen Vereinigungsprozesses.

Die Eurokrise schien durch die Politik der EZB weitgehend eingedämmt. Dennoch sind nicht nur wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage sondern auch wegen der verbreiteten Unzufriedenheit mit Europa die Fliehkräfte in der EU stärker geworden Mit der Entscheidung in Griechenland wird die gesellschaftliche Debatte über die gemeinsame Währungs- und Wirtschaftsunion neu befeuert. Die Wahlen in Griechen­land und die Unterhaushauswahl in Großbritannien sind wichtige Abschnitte im politischen Kampf für eine europäische Erneuerung.

Die Fortsetzung der Austeritätspolitik der Troika in Griechenland und ein weiterer politischer Erfolg der ausländerfeindliche und europakritischen Ukip in Großbritannien würde die Europäische Union erneut in einen Krisenprozess hineinziehen. Die Europa-Skeptiker in Ungarn, Frankreich, Italien, Schweden und auch in Deutschland würden einen neuen Schub bekommen. Mit einer Vertiefung der politisch-sozialen Kluft in Frankreich, wo die rechts-populistische Marine Le Pen für einen Austritt aus der EU kämpft, könnte der europäische Einigungsprozess schwere Beschädigungen erfahren. Im März will die EU über eine Verlängerung der Sanktionen gegen Russland ent­scheiden – auch ein Test für den Zusammenhalt in der Union.

Keine Frage: Der EU steht ein turbulentes Jahr bevor. Dabei ist es immer eine Kombi­nation von politischen und wirtschaftlichen Risiken, die eine Bedrohung der Stabilität in der gesamten EU darstellen. Es geht dabei letztlich um zwei Grundkonflikte: Weiter sparen oder Übergang zu einer anderen gesellschaftlichen Entwicklungslogik? Umfas­sende Erneuerung über demokratische Willensbildung oder Basta-Politik der über­lieferten wirtschaftlich-politischen Eliten?