Und der Geist Carl Schmitts schwebte über dem Plenum

Von Friedhelm Grützner (Bremen)

05.02.2012 / Beobachtungen und Reflexionen anlässlich der Aktuellen Stunde im Bundestags am 26.01.2012 zur Beobachtung linker Bundestagsabgeordneter durch den Ver­fassungsschutz.

Im Jahre 1895 debattierte einst der Deutsche Reichstag eine ganze Woche lang über den von den Sozialdemokraten propagierten „Zukunftsstaat“. Die Sozialdemokratie be­fand sich damals als „reichsfeindliche“ Partei in einer weit prekäreren Lage als DIE LINKE heute: Das Sozialistengesetz war erst seit fünf Jahren ausgelaufen und fast zeit­gleich lancierte die Reichsregierung die berühmt-berüchtigte „Umsturzvorlage“, mit der nicht nur der Sozialdemokratie, sondern auch noch weiten Teilen der kritischen kulturel­len und wissenschaftlichen Öffentlichkeit der Garaus gemacht werden sollte. Gleichwohl fand diese Debatte (bei aller Polemik), in der August Bebel und Wilhelm Liebknecht mit Manchesterliberalen wie Eugen Richter und konservativen „Sozialistenfressern“ wie Wilhelm von Kardorff die Klingen kreuzten, auf höchstem Niveau statt. In einem argu­mentativem Schlagabtausch trafen sozialistische Zukunftsvorstellungen, wirtschaftslibe­rale Marktutopien und ständisch-autoritäre „Staatsgesinnung“ konfrontativ aufeinander, was die Lektüre des Stenografischen Berichts jener Woche zu einem intellektuellen Vergnügen macht.

Ganz anders stellen sich die Sozialismusdiskussionen im Bundestag dar, wenn DIE LINKE im Focus der Kritik steht – wie beispielsweise in der Aktuellen Stunde vom 26.01.2012, als die Überwachung von 27 Abgeordneten durch den Verfassungsschutz zum Thema gemacht wurde. Da schicken dann die bürgerlichen Parteien ihre dritte und vierte Garnitur ans Rednerpult, welche eigentlich intellektuell nicht satisfaktionsfähig ist, und die sich von jeder historischen und politikwissenschaftlichen Kenntnis unbeleckt in einem allgemeinen „Extremismus“-Gekeife ergeht.

Beim Lesen der Reden aus den bürgerlichen Parteien fällt auf, dass die Vorwürfe gegen die Partei DIE LINKE in merkwürdig unpräziser und schwebender Form vorgetragen werden, die in ihrer Phrasenhaftigkeit nicht debattierfähig sind und gegen die sich des­halb die Betroffenen kaum wehren können, da nie deutlich wird, was denn eigentlich konkret gemeint ist. Was sind denn nun genau die „Anhaltspunkte“, die darauf hinwei­sen, dass „Teile der Partei“ gegen die demokratische Ordnung eingestellt seien? Und wie quantifiziert sowie qualifiziert sich der Einfluss dieser „Teile“ (gemeint sind wohl Kommunistische Plattform und Marxistisches Forum) in der Gesamtpartei? Wie stark ist ihr Stimmenblock auf Parteitagen und wie erfolgreich oder erfolglos sind ihre Durchset­zungsstrategien? Zu all dem wird beharrlich geschwiegen. Wahrscheinlich fehlt den An­gehörigen der entsprechenden Dienste dafür der analytische Gehirnschmalz. Stattdes­sen werden über einzelne Personen riesige Aktenberge angelegt, die sowieso niemand liest und die irgendwann einmal ins Archiv wandern. Es wird fleißig insinuiert und es werden faktenfrei Behauptungen aufgestellt, deren nachgeschobene Begründung mit­unter einen kläglichen Geisteszustand offenbart. Den regierenden konservativ­marktradikalen Parteien geht es ausschließlich um innenpolitische Feinderklärungen und um die Stigmatisierung ihrer politischen Gegner, damit sie hinter diesem Verhet­zungsschleier weiterhin und ungestört die Geschäfte der Finanzmarkindustrie betreiben können.

Als zentrale Rechtfertigung zur Beobachtung der linken Bundestagsabgeordneten dient der Vorwurf, dass nicht weiter quantifizierte und qualifizierte „Teile der Partei“ nicht ge­nauer definierte „verfassungsfeindliche“ Ziele verfolgen. Der Begriff „Verfassungsfeind“ ist jedoch nicht justiziabel ist und wird rein politisch – und damit willkürlich - gesetzt. Aus der Sicht des Schreibers dieser Zeilen dient die Verfassung inkludierenden Zwecken. Sie stellt für alle politischen Richtungen – vom Rechtskonservativismus bis zum Links­sozialismus – den verbindlichen Rechtsrahmen dar, der die politischen Konflikte des Gemeinwesens reguliert und der das Prozedere zur politischen Entscheidungsfindung bereitstellt. Durch die Verfassung billigen sich die freien und gleichen Rechtsgenossen

– von rechtskonservativ bis linkssozialistisch - unter Berücksichtigung vorhandener un­überbrückbarer Meinungsunterschiede gegenseitig jene Rechte zu, die sie jeweils für sich (oder für ihre politische Richtung) gegen andere geltend machen. Der Begriff der „Verfassungsfeindlichkeit“ (sofern wir ihn überhaupt verwenden) kann folglich nur dort greifen, wo eine Seite innerhalb des pluralistischen politischen Spektrums die Reziprozi­tät der wechselseitigen Ansprüche auf Bürger- und Menschenrechte sowie politische Betätigungsfreiheit in Frage stellt. Einen substantiierten Vorwurf in dieser Richtung gegen DIE LINKE (oder gegen einzelne „Teile“ von ihr) habe ich in all den teilweise unterirdischen Debatten zu diesem Thema noch von keinem konservativ-marktradikalen Schwätzer vernommen.

Im Gegensatz zum oben skizzierten inkludierenden Verfassungsverständnis steht die konservative Sichtweise der Verfassung als „Wertesystem“, zu der man sich „bekennt“ oder „nicht bekennt“ (was man gegebenenfalls durch inquisitorische Befragungen oder durch Gesinnungsschnüffelei herausfindet). Die Verfassung dient hier Exklusionszwe­cken, denn die ihr angeblich zugrundeliegenden „Werte“ (oder was man als ihre „Werte“ ausgibt) liefern die Kriterien, nach denen entschieden wird, wer „Freund“ und wer „Feind“ ist. Mit der Unterscheidung von „Freund“ und „Feind“ – nach Carl Schmitt der Inbegriff des Politischen – wird die egalitäre Rechtsgenossenschaft der politisch Freien und Gleichen tendenziell aufgehoben. Der „Feind“ (hier „Verfassungsfeind“) ist der „existentiell Andere“, der keinen Anteil an der „Verfassungsfreundschaft“ hat und der deshalb gegebenenfalls unter Ausnahmerecht gestellt wird. Der Schmitt’sche „Freund/ Feind-Dualismus“ lag offensichtlich auch der Entscheidung des Bundesverwaltungsge­richts bezogen auf die Beobachtung des Abgeordneten Bodo Ramelow zugrunde. Dass Ramelow kein „Verfassungsfeind“ sei, wurde ja von den Richtern ausdrücklich konze­diert. Seine Mitgliedschaft in der Partei DIE LINKE bringt ihn jedoch in Verbindung zu angeblichen „Feinden“ aus der Kommunistischen Plattform und des Marxistischen Fo­rums, von denen er sich im Rahmen einer „existentiellen Entscheidung“ (so würde Carl Schmitt formulieren) nicht abgrenzt hat. Da die politisch-existentialistische Logik eine Vermittlung zwischen „Freund“ und „Feind“ nicht kennt, musste sein Ausweichen vor der „existentiellen Entscheidung“ gemäß dem Motto „ein falscher Freund ist schlimmer als ein offener Feind“ gegen ihn ausgelegt werden. Ähnlich argumentiert Hans Peter Uhl (CDU), wenn er Gregor Gysi vorhält, er sei ein „führender Vertreter der zu beobach­tenden Partei, in der es eine große Anzahl von Verfassungsfeinden gibt. ... Sie trauen sich nicht, den Streit mit ihnen aufzunehmen und zu sagen, dass Sie mit denen nichts zu tun haben wollen. ... Sie haben nicht den Mut, die Linksextremen, die Verfassungs­feinde rauszuschmeißen“. Auch hier ist der Vorwurf des „Ausweichens vor der existen­tiellen Entscheidung zwischen Freund und Feind“ zentral, ein Vorwurf übrigens, den Carl Schmitt dem politischen Liberalismus als seinen Krebsschaden vorhielt, da ihn die­ses Ausweichen zur politischen Impotenz verurteile.

Die „Verfassungstreue“ als „existentielle Entscheidung“ (und nicht als Selbstverständ­lichkeit in einem demokratischen Gemeinwesen), die den „Verfassungsfeind“ als not­wendiges Gegenüber voraussetzt, kommt im Redebeitrag des Abgeordneten Armin Schuster (CDU) recht plastisch zum Ausdruck. So rügt er: „Im Parteiprogramm (der LINKEN F.G.) vom Oktober 2011 findet sich mit keinem einzigen Wort die freiheitlich­demokratische Grundordnung erwähnt oder gar ein Bekenntnis zu selbigen“, woraus er flugs den Schluss zieht, dass DIE LINKE ihre „Überwindung“ anstrebt. Wenn die Partei­führer der LINKEN nicht als „existentiell Andere“ dem Verdikt der „Verfassungsfeindlich­keit“ verfallen wollen, so „erwarten wir (von diesen) vorbildliches Verhalten im Sinne des Grundgesetzes in ihrer Partei“. Aus der Sicht Schusters sollen sie den vom politischen Gegner formulierten „Freund/Feind“-Dualismus in die eigene Partei tragen, um nicht tendenziell dem Ausnahmerecht zu verfallen. Damit ist allerdings jeder politische Plura­lismus am Ende. Bestenfalls haben wir es dann neben den herrschenden konservativ­marktradikalen Gruppierungen nur noch mit „Blockparteien“ a la DDR – diesmal aller­dings unter einem anderen Vorzeichen – zu tun. Es ist ja manchmal durchaus von Vor­teil, wenn schlichte Gemüter wie Herr Schuster das Wort ergreifen. In ihrer Plattheit sind sie häufig sehr ehrlich und wir verstehen endlich, welche autoritären Staats- und Politik­vorstellungen hinter ihren wohlfeilen Phrasen von der „Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung“ stehen.

Soweit Argumente von konservativ-marktradikaler Seite in der Bundestagsdebatte an­geführt werden, welche die angebliche Verfassungsfeindlichkeit der LINKEN begründen sollen, läuft bei den diesbezüglichen Rednern einiges durcheinander. Ich will mich hier nicht auf Sachverhalte kaprizieren, die ob ihrer Sinnhaftigkeit auch innerhalb der LIN­KEN umstritten waren und sind, die aber bei Rezeption des oben beschriebenen inklu­siven Verfassungsverständnisses zur Unterscheidung von „Freund“ und „Feind“ nicht taugen. Man mag sich ja über die Kommunistische Plattform bei den LINKEN oder über das CDU-nahe Studienzentrum Weikersheim je nach politischem Standort maßlos är­gern und dazu auch saftige Polemiken verfassen. Aber diese weiten Ausdifferenzierun­gen sind nun einmal ein Merkmal der pluralistischen Gesellschaft, die von uns allen ein gewisses Maß staatsrechtlicher Toleranz verlangt, wenngleich gegebenenfalls die eine oder andere Meinungsäußerung den jeweiligen Betrachter geradezu widerwärtig anmu­tet. Außerdem wird sich jede Partei schon aus Gründen der Selbstachtung dagegen wehren, die „Feinderklärungen“ des politischen Gegners und die ihnen zugrundeliegen­den Maßstäbe gegen innerparteiliche Gruppierungen anzuwenden.

Aber ob es sich nun um die Kommunistische Plattform, den Castro-Brief oder um die geschichtsphilosophischen Spekulationen von Gesine Lötzsch über die „Wege zum Kommunismus“ handelt: all diese Vorhalte sind rein ornamental. In Wahrheit geht es um die antikapitalistische Stoßrichtung und die sozialistische Programmatik der Gesamtpar­tei als solche, womit sie sich vom neoklassisch-marktradikalen Konsens der Konkurrenz abhebt, der CDU/CSU, SPD, GRÜNE und FDP eint. Auch hier ist der Abgeordnete Ar-min Schuster (CDU) in seiner Unbedarftheit wieder ein guter Zeuge, wenn er den De­mokratischen Sozialismus „für ungefähr genauso plausibel wie die Gründung einer neuen Innung für vegetarische Metzger“ hält. Es werden von ihm mit einem Satz die bedeutenden emanzipatorischen Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung des

19. und frühen 20. Jahrhunderts aus der europäischen Freiheitsgeschichte entfernt. Ein derart eng gefasster (und geschichtsklitternder) „verfassungsfreundlicher“ Pluralismus lässt dann als „linken“ Flügel im politischen Spektrum nur noch die AGENDA-SPD der Steinmeier und Steinbrück zu, die in etwa so sozialistisch sein dürfte wie die DDR-Blockpartei LDPD liberal war.

Nachdem der Abgeordnete Schuster die Grenzen eines „verfassungsfreundlichen“ Plu­ralismus recht eng gezogen hat, kommt er zu seinen zentralen Vorwürfen: DIE LINKE sähe „ihre strategische Kernaufgabe in einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräf­teverhältnisse. Hier wird offen bekannt, dass Sie eine Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse in diesem Land anstreben.“ Und der CSU-Abgeordnete Stephan Mayer ergänzt: „Ich kann Sie an dieser Stelle wirklich nur auffordern: Klären Sie endlich Ihr Verhältnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und zur sozialen Marktwirt­schaft“.

Beide Redner aus der CDU und CSU – ihre Sichtweise dürfte allerdings als mainstream weit in die Steinbrück/Steinmeier-SPD reichen – unterschlagen in ihren Beiträgen die kategoriale Scheidung von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit. Verfas­sungsnorm und Verfassungswirklichkeit werden nie deckungsgleich sein. Es wird stets ein Spannungsverhältnis zwischen ihnen existieren. Während die Verfassungsnorm be­stimmt, was sein soll, informiert uns die Verfassungswirklichkeit darüber, was ist. Wenn die Finanzmärkte die Politik kujonieren, wenn bestimmte Parteien durch die Spenden großer Wirtschaftsunternehmen über mehr Mittel verfügen als andere, um den Wählermarkt zu bewerben, wenn die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften – trotz Streikrecht und Koalitionsfreiheit – durch einen deregulierten Arbeitsmarkt geschwächt werden oder wenn Lobbyisten die für ihre Auftraggeber relevanten Gesetze als Ministe­rialbeamte gleich selbst schreiben und die politischen Instanzen dies nur abnicken, dann haben wir es hier mit der Verfassungswirklichkeit, d. h. mit den verfassungsrecht­lich nicht erfassten realen Machtverhältnissen in einer Gesellschaft zu tun. Zur Verfas­sungswirklichkeit gehört auch die „Soziale Marktwirtschaft“, sie ist aber nicht – hier irrt der Abgeordnete Mayer – Teil der verfassungsrechtlich normierten „freiheitlich­demokratischen Grundordnung“ und besitzt somit keinen Verfassungsrang, wie es das Bundesverfassungsgericht in 1950er Jahren übrigens ausdrücklich festgestellt hat. Die Absicht der LINKEN, die vorhandene Verfassungswirklichkeit durch eine „Verände­rung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse“ und durch eine „Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse“ in eine andere Verfassungswirklichkeit zu transformie­ren, widerspricht nicht der Verfassungsnorm, da Art 14 GG (Sozialpflichtigkeit des Eigentums) und der Sozialisierungsartikel 15 GG dies ausdrücklich zulassen.

Der eigentliche verfassungspolitische Streitpunkt mit dem konservativ-marktradikalen Spektrum liegt m.E. in den unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie sich Verfas­sungsnorm und Verfassungswirklichkeit zueinander verhalten sollen. Die konservative Staatsrechtlehre im Dunstkreis von Carl Schmitt favorisiert ein „dynamisches“ Verfas­sungsverständnis, wonach die realen Machtverhältnisse (wie sie nun einmal geworden sind) auf die Verfassungsnorm zurückwirken und diese in ihrem Sinne korrigieren („souverän ist, wer über den Ausnahmezustand befindet“).Das Musterbeispiel liefert hier die Zeit der Präsidialkabinette am Ende der Weimarer Republik, als der normative Ge­halt der Reichsverfassung durch die extensive Nutzung des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV ausgehöhlt und schließlich beseitigt wurde, was von der konservativen Staatsrechtslehre als implizite Veränderung der Verfassungs­norm durch die Verfassungswirklichkeit interpretierte wurde. Nach dieser Lesart konn­ten die prozeduralen Bestimmungen der Reichsverfassung (Gesetzgebungsrecht des Parlaments, parlamentarische Verantwortlichkeit der Reichsregierung, Periodizität der Reichstagssitzungen) beliebig umgangen und durchbrochen werden, solange nur die der Verfassung zugrundeliegenden „Werte“ intakt blieben Von hier war es dann nur noch ein kurzer Schritt zum Diktum Carl Schmitts nach den Röhm-Morden 1934: „Der Führer schützt das Recht.“

Dieses „dynamische“ Verfassungsverständnis liegt auch der Politik der schwarz-gelben Regierung zugrunde. Wenn Angela Merkel von einer „marktkonformen Demokratie“ spricht, dann heißt dies, dass sie das normativ gefasste Demokratiegebot des Grund­gesetzes den realen Machtverhältnissen der Verfassungswirklichkeit (hier der Macht der „Märkte“) unterordnet. Das mit „Ewigkeitscharakter“ in Art. 20 GG verankerte De­mokratieprinzip ist folglich nicht mehr die Ausgangsmaxime staatlichen Handelns, wo­durch dieses überhaupt erst Legitimität gewinnt, sondern es gilt nur soweit, als die Ver­fassungswirklichkeit, welche durch die Macht der „Märkte“ bestimmt wird, dies zulässt. Auf europäischer Ebene findet derzeit ein breiter Entdemokratisierungsprozess statt, wo demokratische Institutionen und demokratische Prozeduralien ausgehöhlt werden, um die „Märkte“ als die eigentlichen Machthaber in der Verfassungswirklichkeit „zu beruhi­gen“. Und wir beobachten auch, wie parallel mit der Aushöhlung parlamentarischer Be­fugnisse und der Abwertung demokratischer Verfahrensweisen die „Werte“ in den Him­mel gehoben werden, obwohl die Praktizierung dieser „Werte“ abhängig ist vom korrek­ten demokratischen Prozedere einer Gesellschaft, die nur jene Mächte als legitim an­sieht, die sich einem demokratischen Verfahren unterwerfen.

Auch eine linke Verfassungspolitik wird um das grundsätzliche Spannungsverhältnis von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit nicht herumkommen. Denn das „Sein“ wird nie bruchlos im „Sollen“ aufgehen. Die Verfassungsnorm wird aber stets der kritische Maßstab sein, an der sie die Verfassungswirklichkeit misst. Und im Konfliktfall wird sich die Verfassungswirklichkeit der Verfassungsnorm beugen müssen. Und sollten dies „die Märkte“ als Teil einer nicht verfassungskonformen Verfassungswirklichkeit an­ders sehen, dann verfügt eine demokratisch legitimierte Politik über die „Klinke der Ge­setzgebung“ (Otto v. Bismarck), um gegebenenfalls mit auf Art 14 GG (Sozialpflichtig­keit des Eigentums) und Art 15 GG beruhenden staatlichen Zwangsmitteln den notwen­digen Respekt vor der Verfassungsnorm zu erzielen. Eine „marktkonforme Demokratie“ kann es normativ ebenso wenig geben wie eine „sozialismuskonforme Demokratie“. Und ob wir in einer „demokratiekonformen Marktwirtschaft“ oder einem „demokratiekon­formen Sozialismus“ leben wollen, darüber lässt sich unter den politisch freien und glei­chen Rechtsgenossen trefflich streiten, ohne den jeweiligen politischen Kontrahenten zum „existentiell Anderen“ und damit zum „Feind“ zu erklären.