Souverän ohne Volk: Der Putsch der Märkte

Von Albrecht von Lucke

05.12.2011 / (aus: »Blätter« 12/2011, Seite 5-8)

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, lautet der wohl bekannteste Satz des „furchtbaren Juristen“ Carl Schmitt.[1] Dieses fatale Diktum ist, wenn auch ironisch gebrochen, der Satz zur Lage in Europa. Längst ist die vermeintliche Euro-Krise zu einer Krise der Demokratie und der Souveränität der europäischen Staaten geworden. Die Ironie der Geschichte: Während der Antiliberale Schmitt Souveränität dezidiert autoritär und anti-demokratisch denkt,[2] geht es heute um den Erhalt gerade der demokratischen Souveränität des Volkes.

Seit Beginn der Finanzkrise – und forciert durch die staatliche Rettung der Banken mittels eigener Verschuldung – ist die demokratische Souveränität der einzelnen Staaten ihrer schwersten Bewährungsprobe seit der autoritären Gefährdung der 30er Jahre ausgesetzt und dabei zunehmend auf dem Rückzug. Offenbar haben wir gegenwärtig den bisherigen Höhepunkt der Krise erreicht: Nach dem Ende der Regierung Papandreou in Griechenland ist auch die Regierung Berlusconi der Macht der Märkte erlegen.

Nachdem Italien erst unter Kuratel des IWF gestellt worden war – und damit bereits seine fiskalische Souveränität, die parlamentarische Haushaltshoheit, einbüßte –, erzwangen die Finanzmärkte Berlusconis Rücktritt. Indem sie italienische Staatsanleihen mit immer höheren Risikoaufschlägen belegten, haben sie den Daumen über Italien gesenkt – und diverse jener Unternehmer gegen Berlusconi auf die Barrikaden getrieben, die jahrelang allzu gerne von dessen neoliberaler Politik profitierten.

Kurzum: Was einer allzu schwachen italienischen Linken in 51 Vertrauensfragen nicht gelang, nämlich Berlusconi zu stürzen, besorgten die Märkte. Man kann daher – wie schon im Falle Griechenlands – getrost von einem Putsch der Finanzmärkte sprechen. Die Finanzmärkte suchen sich heute gewissermaßen ihre eigenen Regierungen. Sie sind es, die durchregieren.

Papandreous Sekunde, Merkels Versagen

Nur für einen kurzen Augenblick gab es gegen das Diktat der Märkte einen Aufschein demokratischer Souveränität – als der griechische Ministerpräsident Papandreou für sein Land auf einer Volksabstimmung über die Sparbeschlüsse von Brüssel bestand („Das ist ein Akt der Demokratie“). Ausgerechnet das viel gescholtene Griechenland, die „Wiege der Demokratie“, zeigte nun, dass das Diktat der Märkte Grenzen kennen muss – und schob damit den autoritären Regulierungsbemühungen der EU einen demokratischen Riegel vor.

Allerdings nur für eine historische Sekunde: Denn Papandreou hatte die Rechnung ohne den Wirt, sprich: die Märkte und deren Erfüllungsgehilfen, gemacht. Die Abstürze an den Börsen veranlassten „Merkozy“, wie die Personalunion von Merkel und Sarkozy inzwischen genannt wird, umgehend zum Eingreifen: Papandreous Fahrt nach Cannes wurde zum Gang nach Canossa – die Rücknahme der Volksbefragung folgte auf den Fuß. Danach stand seine Demission fest, sein eigenmächtiger Rücktritt kam dieser nur zuvor. Wie Italien hat auch Griechenland seine Souveränität damit faktisch an die Märkte verloren. Angela Merkel spricht treffenderweise von der „marktkonformen Demokratie“, die heute geboten sei.[3] Ein entlarvender Begriff: Denn längst ist die Volksherrschaft keine souveräne mehr, sondern eine simulierte, in steter Abhängigkeit von den Ausschlägen der Börsen. Frank Schirrmacher hat recht: Die Demokratie wird verramscht,[4] und aus Verfassungen, so könnte man ergänzen, werden Ramschpapiere. Denn, so bringt es Jürgen Habermas polemisch auf den Punkt: „Weniger Demokratie ist besser für die Märkte“.[5]

Am Fall Griechenland entpuppte sich auch das spezifische Versagen der Kanzlerin. Denn zuallererst für Deutschland wäre die Selbstermächtigung der Griechen kein Schaden, sondern von Nutzen gewesen. Was aus der neuen Übergangsregierung unter Lucas Papademos erwächst, wird man sehen. Möglicherweise steht am Ende trotzdem und erzwungenermaßen der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone. Das hätte auch der Ausgang der gefürchteten Volksabstimmung sein können – dann allerdings aus freien Stücken. Wie immer sie auch entschieden hätten, damit hätten die Griechen selbst die demokratische Verantwortung für ihre Politik übernehmen können und auch müssen.

Deutschland: Vom Zahlmeister zum Zuchtmeister

Deutschland wäre dadurch zumindest ein Stück weit aus seiner neuen fatalen Rolle in Europa herausgetreten. Denn hier liegt ein ganz eigener Kollateralschaden des letzten Jahres: das fundamental geänderte Deutschlandbild in Europa. Das deutsche Image hat sich im letzten Jahr entscheidend gewandelt: Deutschland wurde vom Zahlmeister zum Zuchtmeister Europas – mit der einsamen Zeremonienmeisterin namens Angela Merkel an der Spitze.

Dahinter verbirgt sich ein gravierendes Dilemma: Einerseits wird von Deutschland in Europa Führung verlangt, andererseits wird Deutschland – und explizit die Kanzlerin – für ihre rigide Umsetzung der Führungsrolle als Spardomina Europas gescholten. Menschen zu etwas zu zwingen, kommt eben nie gut an – auch wenn es zu ihrem „Glück“ sein soll.

Dadurch aber gerät die große Errungenschaft der EU in Gefahr, die Entfeindung zwischen den Staaten. Wie schnell die eingeübte Befreundung in Europa fragil werden kann, zeigen die Hetzartikel der „Bild“-Zeitung gegen „die Griechen“, aber auch die Proteste in Athen, wo regelmäßig Deutschlandfahnen mit Nazi-Emblem gezeigt werden. Wie schreibt zu recht die französische Libération: „Es herrscht ein schmutziges Klima in der EU. Und die Beziehungen zwischen den Mitgliedsländern sind auf gefährliche Weise brutal geworden. Dabei gehören sie einer politischen Konstruktion an, die geschaffen wurde, um eben diese alte Form der internationalen Beziehungen – wo die Starken die Schwachen dominierten – zu überwinden.“[6] Die Einbeziehung des Anderen, auch und gerade der schwächeren Staaten, gehörte von Beginn an zu den politischen Prinzipien der EU und wurde nicht zuletzt von deutscher Seite beherzigt.

Doch hier zeigt sich das eigentliche, tiefer liegende Problem: Seit 2008, seit der Pleite von Lehman Brothers, wird dieses politische Leitprinzip der EU immer mehr außer Kraft gesetzt. Denn seither herrscht auch in der europäischen Union faktisch der Ausnahmezustand, hat sich die Politik ihres Primats begeben. Seither wird auch in der EU alles der obersten Maxime – der Rettung der systemrelevanten Banken – untergeordnet. Letztlich ging es auch bei der Rettung Griechenlands stets in erster Linie um die Rettung der involvierten europäischen Geldhäuser und um die Verhinderung von Ansteckungseffekten. Daher zuallererst der Aufschrei der anderen Regierungen in Europa – nicht aus Sorge um die griechische oder italienische Zukunft.

Der eigentliche Souveränitätsverlust der europäischen Staaten fand daher zu einem anderen Zeitpunkt statt, nämlich als die Staaten die Banken mit Milliarden aus der Malaise befreiten und sich nicht ihrerseits Zugriff auf die Macht in den Geldhäusern und auf den Finanzmärkten verschafften. Selbst Ex-Finanzminister Peer Steinbrück musste unlängst eingestehen, dass es ein Fehler war, damals auf die bloße Freiwilligkeit der Banken gesetzt zu haben.

Der Fall Griechenland war insofern nur der letzte Beweis dafür, dass wir es mit einem Putsch der Märkte zu tun haben. Merkel agierte hier von Beginn an weniger als Gestalterin, denn als Getriebene der Märkte. Und als Erfüllungsgehilfin einer grundfalschen Sparlogik. Das Beispiel Griechenland zeigt: Von Beginn an war das deutsche Spardiktat zum Scheitern verurteilt. Denn was des einen Exportüberschüsse, sind des anderen Schulden. Ohne eine Änderung der deutschen Wirtschaftspolitik wird es daher keine Lösung der EU-Krise geben. Heute stehen wir vor den Trümmern dieser einseitigen Sparstrategie. Auch deshalb steht der Kontinent vor der Alternative: Entweder Griechenland verlässt den Euro-Raum, womit aber heute – vielleicht wäre es bei den richtigen Begleitmaßnahmen vor einem Jahr anders gewesen – das Problem nicht gelöst wäre, da mit Italien (oder gar Frankreich) schon der nächste Pleitekandidat wartet.

Oder die Rettungsmaßnahmen werden in ganz andere Dimensionen vorangetrieben. Denn offenbar war es eine Illusion, genauer: eine fehlgehende Spekulation, zu glauben, durch das Hebeln von einer Billion Euro die Probleme der Euro-Zone lösen zu können – womit man sich exakt jener creatio ex nihilo bediente, die die Finanzkrise erst verursacht hat. Doch auch das konnte die Märkte nur für eine Sekunde besänftigten, dann machten sie auch diesem Versuch den Garaus.

Letzter Ausweg Notenpresse?

Am Ende könnte somit doch, wie von US-Präsident Barack Obama schon lange gefordert, die Notenpresse stehen, sprich: der Druck frischen Geldes durch die Europäische Zentralbank (EZB). In der Merkelschen Logik des „Stirbt der Euro, stirbt Europa“ müsste, im Fall der Fälle, die Übergabe der fiskalischen Souveränität an die EZB stehen – als lender of last resort, der für alles haftet. Die EZB könnte dann, wie die US-amerikanische FED, unbegrenzt Geld schöpfen und so jede weitere Spekulation gegen den Euro im Keime ersticken – wenn auch unter Inkaufnahme erheblicher Inflation.

Auch dahinter verbirgt sich jedoch ein Problem demokratischer Souveränität: Denn die deutsche Bevölkerung ist – genau wie die griechische – niemals zu dieser Frage, der Abgabe der fiskalischen Hoheit, befragt worden. Der akute Regelungsbedarf in der EU ist dem Stand der europäischen Demokratien also weit enteilt. Es herrscht ein demokratisches Souveränitätsvakuumauf EU-Ebene. Deshalb erleben wir heute in Europa einen permanenten autoritären Überschuss, mit radikal antidemokratischen Folgen.

Kommissarische Diktatur

Andere wissen es längst: Autoritär regiert es sich leichter. Dieses Wissen verbindet die Finanzmärkte mit den Autokraten dieser Welt, ob in China, Russland oder der Türkei. Und auch die Regierungschefs der EU spüren unter dem Druck der Märkte die autoritäre Versuchung. Bereits 1997 hatte Ralf Dahrendorf davor gewarnt, dass wir uns „An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“ befinden.[7] Momentan nimmt dieser neue Autoritarismus in Riesenschritten Kontur an. In Italien wie Griechenland wurden nun bereits Übergangsregierungen aus „Experten“gebildet, ohne vorausgegangene Wahl. Andere Länder könnten diesem Beispiel folgen. In der politischen Theorie – wie auch in der realen Geschichte, nämlich der römischen – kennt man dafür durchaus ein Vorbild: die kommissarische Diktatur. Sie hebt die geltende Verfassung samt ihrer demokratischen Regelungen befristet auf, jedoch gerade mit dem Ziel, ihren grundsätzlichen Bestand zu schützen. Diese Form der Diktatur ist eng gekoppelt an den Ausnahmezustand als notwendige Voraussetzung. Dieser ist gegeben, wenn Existenz oder Grundfunktionen eines Staates von der maßgeblichen Instanz als akut bedroht angesehen werden.

Genau dieser Fall liegt in Griechenland und in Italien vor: Von der maßgeblichen Instanz, nämlich den Finanzmärkten, wurden beide Staaten samt ihrer gewählten Regierungen quasi entmündigt. Das Problem bei alledem: Was kommt nach dem Übergang? Was mit Hilfe einer Notstandsregierung zu einer ökonomischen Sanierung des Staates führen soll, könnte auch zu einem quasi-diktatorischen Dauerübergang werden. Denn jede kommissarische oder Übergangs-Regierung, das zeigt die Geschichte, unterliegt der Versuchung, ihre Amtsgeschäfte so lange wie möglich auszudehnen. Solange faktisch der Sachzwang der Finanzmärkte weiter regiert, ist dies jedenfalls die ideale Begründung für Übergangsregierungen auf Dauer. Auch hier ist Angela Merkels Forderung nach einer „marktkonformen Demokratie“ beredt. Was nämlich kann das anderes heißen, als dass sich die Politik in Zukunft stets zuerst an den ökonomischen Sachzwängen orientiert, bevor sie selbst zur ausführenden Tat schreitet? Natürlich ganz alternativlos – und immer getreu dem Diktat der Finanzmärkte.

Die letzten beiden Jahrzehnte waren geprägt durch die Figur des Populisten vom Typus Berlusconi/Haider; diese Dekade könnte geprägt werden durch die Figur des Experten. Denn das Heil bescheinigen heute die Finanzmärkte, und der neue Heilsbringer ist vom Schlage „Super-Mario“ Montis.

Die Transformation der Demokratie schreitet derweil munter voran. In jedem Falle wächst – auch durch das Versagen vieler Parteien – die Sehnsucht nach Führung. Bei dieser Gelegenheit sollte man sich daran erinnern, dass die Demokratie im Süden Europas – auch wenn sie alte Wurzeln hat – in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts keineswegs fest verankert war. Das betrifft das Regime der Obristen in Griechenland (bis 1974), die Franco-Diktatur in Spanien (bis 1975), aber auch das Salazar-Regime in Portugal (bis zur Nelkenrevolution 1974). Salazars Estado Novo, sein „Neuer Staat“ der Experten, wurde in erster Linie mit dem Bedürfnis nach wirtschaftlicher Stabilität legitimiert. Auch damals waren es die ökonomischen Sachzwänge, die nach einer Regierung aus „Technikern“ verlangten. Ohne die Entmachtung der Märkte und die Wiederherstellung des Primats der Politik werden die Europäer ihre demokratische Souveränität daher nicht wiedererlangen. Souverän im demokratischen Sinne ist heute nicht der, der über den Ausnahmezustand entscheidet, sondern jener, der den herrschenden Ausnahmezustand beendet.

[1] Nach Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987.

[2] An Stelle des ewigen „Palavers“ der parlamentarischen Demokratie forderte Schmitt nicht erst seit seinem Überlaufen zu den Nazis die einsame Entscheidung („Der Führer schützt das Recht“).

[3] Vgl. www.nachdenkseiten.de/?p=10611.

[4] Frank Schirrmacher, Demokratie ist Ramsch, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 2.11.2011.

[5] Jürgen Habermas, Rettet die Würde der Demokratie, in: FAZ, 5.11.2011.

[6] Vgl. „Libération“, 4.11.2011.

[7] In „Die Zeit“, 14.11.1997; vgl. auch das Gespräch mit Ralf Dahrendorf in: „Blätter“, 9/1996.