»Befreiungsschlag« auf dem Weg in die Rezession?

Joachim Bischoff / Richard Detje , Sozialismus vom 18.10.2011

18.10.2011

Beim EU-Gipfel am Wochenende 22./23.10. soll der »Befreiungsschlag« in der europäischen Schuldenkrise gelingen. Angetrieben von der Sorge eines weiteren Abbremsens der Weltwirtschaft hatte die jüngste G20-Runde die führenden Finanzpolitiker der Euro-Zone aufgefordert, mit einem umfassenden Konzept die Handlungs- und Entscheidungshoheit gegenüber den Finanzmärkten zurückzuholen.

Solange die Krise in Europa nicht eingegrenzt sei, drohe selbst den stark wachsenden Schwellenländern ein Rückschlag. Auf dem Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs der 20 größten Industrie- und Schwellenländer (G-20) wurde sichtbar, in welche Richtung die Pläne zur Stabilisierung der Euro-Zone und des Finanzsystems gehen sollen.

Eine Voraussetzung für ein neues Lösungspaket ist mittlerweile erfüllt. Mit der Zustimmung des slowakischen Parlaments haben alle 17 Euro-Staaten die Erweiterung der Europäischen Finanzstabilitätsfazilität (EFSF) ratifiziert und damit – auch wenn die Ausarbeitung der nächsten Schritte noch längere Verhandlungen erfordern wird – neue Interventionsmöglichkeiten geschaffen. Finanzminister Schäuble dämpft zwar die Erwartungen gegenüber einer »großen Lösung«, spricht aber zugleich von einem Fünf-Punkte-Konzept, mit dem die europäische Schulden- und Bankenkrise bewältigt werden soll.

Der erste Baustein ist die Aufstockung der EFSF-Kreditvergabe-Kapazität auf 440 Mrd. Euro. Diese Mittel wird sich die EFSF weiterhin durch die Emission von Anleihen auf dem Markt besorgen, die von den Euro-Staaten garantiert werden. Insgesamt liegen Garantiezusagen in Höhe von 780 Mrd. Euro vor – eine »Übergarantie«, die erforderlich ist, um das Triple-A-Ranking mit den günstigsten Zinskonditionen zu erhalten. Die EFSF wird Euro-Staaten, die sich auf den Kapitalmärkten nicht mehr refinanzieren können, mit verzinsbaren Krediten unterstützen, vorausgesetzt sie unterwerfen sich einem harten Austeritätsregime. Derzeit laufen solche Programme in Irland und Portugal.

Den zweiten Baustein bilden die neuen Instrumente der EFSF für Interventionen auf den Primär- und Sekundärmärkten. Die EFSF wird sowohl neu aufgelegte Anleihen von Euro-Staaten (Primärmarkt) als auch von Banken gehaltene Staatsanleihen (Sekundärmarkt) aufkaufen können. Letzteres hatte in den vergangenen Monaten die Europäische Zentralbank (EZB) getan, was zu erheblichen Konflikten (Rücktritte von Bundesbank-Chef Weber und des EZB-Chefökonomen Stark) geführt hatte. Künftig kann die EFSF kursstützend intervenieren, falls die EZB außergewöhnliche Umstände auf dem Finanzmarkt und Gefahren für die Finanzstabilität feststellt.

Dritter Baustein: Krisenprävention. Die EFSF kann Staaten eine vorsorgliche Kreditlinie gewähren, um deren Finanzbedarf und Bonität auf den Kapitalmärkten zu sichern.

Vierter Baustein: Durch Hebelwirkungen soll die »Feuerkraft« der EFSF ohne weitere Aufstockung der Garantien erhöht werden. Die Absicht, den EFSF zu einer Bank weiterzuentwickeln, wurde fallen gelassen. Jetzt läuft alles auf eine Versicherungslösung hinaus. Diese verwendet nur jene 780 Mrd. Euro, die für die EFSF bewilligt sind. Weiteres Geld soll von Privatinvestoren kommen. Die EFSF wird als Anleiheversicherer bei der Ausgabe von neuen Anleihen aus Problemländern fungieren. Der Fonds versichert aber nur eine Risikotranche – also nicht 100% der Anleihe, sondern je nach Risiko zum Beispiel 20%. Dazu käme zunächst ein Selbstbehalt der privaten Investoren von beispielsweise 10%, die bei einer Zahlungsunfähigkeit ebenfalls Geld verlieren würden. Über die versicherten 20% hinaus kämen weitere private Investoren ins Spiel. Mit der Anleiheversicherung könnte man z.B. für Spanien eine Finanzierung zu 4,5% statt 6% Zinsen sicherstellen. Die Versicherung müsste in die Anleihe integriert und nicht separat handelbar sein.

Fünfter Baustein: Banken-Rekapitalisierung. Die EFSF kann Staaten Kredite zur Finanzierung der Rekapitalisierung von Banken gewähren, auch wenn der Staat selbst keine Hilfe nötig hat. Die EFSF darf die Banken nicht direkt unterstützen; die Hilfe erfolgt via Staat.

Gleichzeitig sollen die Banken ihr Eigenkapital erhöhen – darum tobt gegenwärtig der Streit mit dem europäischen Bankenverband, denn das schmälert direkt die Eigenkapital-Kreditvergabe-Relation (Hebelsatz) und die Rendite. Noch unklar ist, ob bei einer Verstärkung der Banken-Grundpfeiler der Schwellenwert von 9% an hartem Eigenkapital zur Richtgröße wird. Sollte dies – zeitlich begrenzt – vorgesehen werden, ergäbe sich ein enormer Kapitalbedarf von ca. 200 Mrd. Euro.

Mit der Notwendigkeit der Banken-Rekapitalisierung steht fest, dass die Einleitung einer geordneten Insolvenz für Griechenland am 23. Oktober beim Euro- und EU-Gipfeltreffen auf der Tagesordnung steht. Dabei steht ein Schuldenschnitt von 50% und mehr an. Da trotz Rekapitalisierung der größten privaten Gläubiger Griechenlands Auswirkungen auf andere Staatsanleihen und Banken nicht ausgeschlossen werden können, soll das Gesamtpaket auch eine Regelung gegen mögliche Ausweitungen der Schuldenkrise enthalten.

Mit diesem Paket ist klar, dass es ohne einen so genannten Haircut nicht mehr geht. Praktisch niemand glaubt daran, dass Griechenland auf Dauer eine umfassende, d.h. über das bisher als akzeptabel angesehene Maß hinausgehende Schuldenrestrukturierung vermeiden kann. Die mehr als 150% Rendite für einjährige Staatspapiere sprechen Bände.

Unter der Annahme, dass sowohl der Internationale Währungsfonds (IWF) als auch die Europäische Zentralbank an einem Schuldenerlass nicht teilnehmen und die griechischen Banken von der eigenen Regierung rekapitalisiert werden, ergibt ein »haircut« der von privaten Gläubigern, also Banken und anderen Finanzinstituten, gehaltenen griechischen Papiere von 50% nur einen Abbau der gesamten Verschuldung Griechenlands um 22%. Sollte eine effektive Kürzung der Staatsschuld um 50% erreicht werden, müssten die privaten Gläubiger auf Rückzahlung vollständig verzichten.

Ganz problematisch wird es, wenn die Banken anstatt durch Kapitalerhöhungen durch einen Abbau von Aktiva ihre Kapitalquote zu verbessern versuchen. Dem Verkauf von risikogewichteten Finanztiteln oder von einzelnen Geschäftszweigen geben Marktkommentatoren – in größerem Stil vorgenommen – nur sehr geringe Erfolgschancen. Sie sehen deshalb die reelle Gefahr, dass die Banken ihren Entschuldungsprozess fortsetzen und die Kreditvergabe weiter einschränken.

Das Grundproblem in der Euro-Zone liegt allerdings darin, dass die massiven Kürzungsprogramme die wirtschaftliche Talfahrt beschleunigen, was wiederum im Fall der hochverschuldeten Staaten zur Erhöhung der Defizite und der Schuldenlast führt. Der IWF schätzt aktuell, dass die griechische Schuldenquote wegen der Rezession (2011: -6%) schon in diesem Jahr auf 166% des Bruttoinlandsprodukts und nächstes Jahr auf 189% klettern werde – eine untragbare Situation.

Auch Portugal rutscht immer tiefer in die Rezession. Für das kommende Jahr rechnet die Regierung mit einem Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 2,8%, nach geschätzten 1,9% im laufenden Jahr. Damit erlebt Portugal den stärksten Rückgang seit Jahrzehnten. Dass die Staatsverschuldung vor diesem Hintergrund von 5,9% im nächsten Jahr auf 4,5% gestutzt werden kann, scheint unrealistisch. Gleichwohl bleibt Finanzminister Vitor Gaspar bei der bereits mehrfach gescheiterten Kürzungslogik: Einkommenskürzungen für die Angestellten im öffentlichen Dienst, massive Erhöhung der Verbrauchssteuern, Entlassungen und weitere Einschnitte bei den Sozialleistungen. Und das bei einem prognostizierten Anstieg der Arbeitslosenquote 2012 auf 13,4%. Das weitere Anziehen der Kürzungsschraube ist damit bereits programmiert.

Solange den Ländern an der Peripherie der Euro-Zone nicht durch Investitionsprogramme und eine Expansion der europäischen Binnenkonjunktur insgesamt auf einen Stabilisierungskurs für die Realökonomie zurück geholfen wird, werden diese Länder die krisenbedingte Intensivstation nicht verlassen können.

Der verschärfte Schrumpfungsprozess in Griechenland und Portugal ist ohne Zweifel ein Ergebnis der harten Austeritätspolitik. Aber auch die globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Monaten deutlich verschlechtert. Seit dem Sommer 2011 haben sich die Aussichten für die Weltwirtschaft massiv eingetrübt.

Konjunkturforscher erwarten auch für die Bundesrepublik ein Ende des Aufschwungs. Das BIP soll in diesem Jahr um 2,9% und im kommenden lediglich um 0,8% zunehmen. Die Arbeitslosenquote dürfte nur noch wenig zurückgehen (von 7,0% auf 6,7% in 2012). Die Inflationsrate (2,3% in 2011 und 1,8% in 2012) wird mehr und mehr vom inländischen Preisauftrieb bestimmt. Das Budgetdefizit des Staates soll auf 0,9% des BIP in diesem Jahr und auf 0,6% im kommenden Jahr zurückgehen. Damit ist auch das bisherige »Kraftzentrum« der europäischen Ökonomie in den Abwärtssog geraten. Insbesondere die Exportindustrie wird die massiven öffentlichen Sparprogramme im Euroraum, die schwache wirtschaftliche Entwicklung in den USA und eine leichte konjunkturelle Beruhigung in Asien zu spüren bekommt. Hinzu kommt, dass sich im Zuge der erneuten Verschärfung der Finanzmarktkrise die Finanzierungsbedingungen für die Wirtschaft merklich verschlechtern könnten.

Die Wirtschaftsforscher sehen Deutschland im Gegensatz zu 2008 zwar nicht vor einer Rezession, schließen diese Gefahr aber ausdrücklich nicht aus. Banken und Versicherungen mit griechischen Staatsanleihen müssten mit Einbußen rechnen, »eine Ansteckung in dem Ausmaß wie nach der Insolvenz von Lehman Brothers ist aber wenig wahrscheinlich«. Sollte sich die Staatsschuldenkrise jedoch weiter zuspitzen, werde das europäische Finanzsystem erneut ins Wanken geraten. Dies würde Auswirkungen auch auf nichtfinanzielle Unternehmen haben. Die deutsche Konjunktur würde dann stärker als erwartet gedämpft, so dass es zu einer Rezession käme.

Wegen des Konjunktureinbruchs im Euroraum raten die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute der EZB in ihrem Herbstgutachten zu einer Zinssenkung. Die wirtschaftliche und monetäre Analyse der Lage und der Aussichten für den Euroraum sprächen dafür, den Schlüsselzins von 1,5% auf 1,0% zu senken. Die EZB hatte die Zinsen in diesem Jahr im Kampf gegen die vermeintlich anziehende Inflation zwei Mal erhöht. Trotz aufkommender Rezessionssorgen hält sie den Schlüsselzins bislang konstant und wird dies – nach Aussage des scheidenden EZB-Chefs Jean-Claude Trichet – wohl auch in den nächsten Monaten tun.

Die Wirtschaftspolitik in der EU hat sich bisher darauf konzentriert, die Insolvenz eines Euro-Staates zu verhindern. Stattdessen sollte sie sich auf Maßnahmen zur Stabilisierung der Binnenkaufkraft und der Binnenökonomie besinnen.

Der Mythos vom Gesundsparen hat die wirtschaftlichen und politischen Eliten jedoch voll im Griff. Obgleich das desaströse Ergebnis in Europa deutlich in Erscheinung tritt, wird nach wie vor behauptet: Spart der Staat bei den Ausgaben, um den Haushalt zu konsolidieren, sind durch den Gewinn an Glaubwürdigkeit schon nach kurzer Zeit positive Wachstumseffekte zu erwarten. Wenn Regierungen die Steuern erhöhen und die Staatsausgaben kürzen, um damit den Haushalt in Ordnung zu bringen, kostet das Wachstum und damit auch Jobs.

Wird diese Handlungsmaxime breiter umgesetzt, sind eine massive Schädigung und ein nachhaltiger Schrumpfungsprozess in der wirtschaftlichen Leistung programmiert. Die Krise kann nur mit einer gemeinsamen europäischen Anstrengung bewältigt werden. Die Europäische Union als größter Binnenmarkt der Welt verfügt über gute Voraussetzungen, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum auf den Weg zu bringen und den Prozess des Kaputtsparens zu beenden.