Perspektivlose Rotstiftpolitik - Zur Spar-Agenda der schwarz-gelben Regierungskoalition

Von Joachim Bischoff, Bernhard Müller und Björn Radke

10.06.2010 / Sozialismus, 8.6.2010

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat das mit einem Volumen von 80 Mrd. Euro bis 2014 historisch größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht. Der "einmalige Kraftakt", von dem Bundeskanzlerin Merkel sprach, ist allerdings auch historisch einmalig in seiner einseitigen Belastung für die Lohnabhängigen und auf Sozialleistungen angewiesenen Menschen in dieser Republik.

Allein die EmpfängerInnen des ALG II sollen 30 Mrd. Euro des Sparpakets schultern. So ist u.a. konkret geplant zu sparen

durch die Umwandlung von Pflicht- in Ermessenleistungen (15 Mrd. Euro); durch die Abschaffung des befristeten Zuschlags für Arbeitslose, die in ALG II übergehen (800 Mio. Euro); durch Abschaffung des Zuschusses an die Rentenversicherung bei ALG II (7,2 Mrd. Euro); durch "Effizienzverbesserungen" bei der Arbeitsvermittlung bei SGB II (4,5 Mrd. Euro); durch Abschaffung des Elterngeldes bei ALG II (1,6 Mrd. Euro); durch Abschaffung des Heizkostenzuschusses für WohngeldempfängerInnen (400 Mio. Euro).

Besonders perfide dabei ist, dass durch die Umwandlung von Pflicht- in Ermessungsleistungen die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit in die Rolle von SparkommissarInnen gedrängt werden. Und bei der Abschaffung des Zuschusses in die Rentenversicherung handelt es sich um nicht anderes als die aus der Vergangenheit sattsam bekannte Politik der Verschiebebahnhöfe, bei der in die Rentenkasse ein riesiges Loch gerissen wird, um den Schein eines ausgeglichenen Staatshaushalts zu produzieren .

Bei vielen anderen Konsolidierungsmaßnahmen handelt es sich um reine Wunsch- bzw. Luftbuchungen. Handfest sind einzig die Einsparungen im Verwaltungsbereich, wo bis 2014 insgesamt 10.000 Stellen wegfallen sollen und Einschnitte bei den Einkommen der Beschäftigten geplant sind. Der Effekt: Der Arbeitsdruck auf die Beschäftigten wird massiv steigen und der Eindruck von ineffektiver Staatsverwaltung weiter verstärkt. Eine weitere Folge wird sein, dass der Lobbyismus durch Externe etwa bei der Ausarbeitung von Gesetzen oder der Flut von Gutachten in Legislative und Exekutive noch stärker zur Geltung kommen wird. Wofür braucht man da noch eigenes Personal?

Zu den Luftbuchungen gehört nicht zufällig die "Beteiligung der Unternehmen" am Sparpaket. So beschränkt sich die Beteiligung des Bankensektors an den Kosten der Wirtschaftskrise auf lächerliche sechs Mrd. Euro bis 2014 – und die ist nicht einmal sicher, weil Finanzmarkttransaktionssteuer etc. noch völlig in den Sternen stehen. Der "steuerliche Ausgleich der Kernenergiewirtschaft" (9,2 Mrd. Euro) unterstellt die von Schwarz-Gelb betriebene (gesellschaftlich nicht erwünschte) Verlängerung der Laufzeiten der AKW's, die allerdings erst noch die gesetzlichen Hürden überspringen muss. Und auch die "Bahndividende" (zwei Mrd. Euro) muss erst noch erwirtschaftet werden – eigentlich braucht die Bahn das Geld dringend für Investitionen ins marode Netz.

Auch der Beitrag der Bundeswehr durch eine Streitkräftereform (vier Mrd. Euro allerdings erst ab 2013) oder die Zinsersparnis für die Begrenzung der Nettokreditaufnahme (fünf Mrd. Euro) sind mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Die dramatische soziale Schieflage der ganzen Sparoperation ist derart offensichtlich, dass selbst innerhalb des bürgerlichen Lagers schon deutlicher Protest laut geworden ist. Und der volkswirtschaftliche Flurschaden ist beträchtlich, weil die Sparerei bei Beschäftigten und vor allem den SozialleistungsempfängerInnen direkt die private Nachfrage beschädigt und das erhoffte bescheidene Wirtschaftswachstum weiter bremst. Der Effekt bei denen, die noch über entsprechende Lohneinkommen verfügen, wird sein, dass die Sparquote weiter steigt.

Vor allem aber ist in der von Schwarz-Gelb aufgelegten Sparoperation keine Konzeption zu erkennen, die aus der anhaltenden Krisenkonstellation herausführt. Bis heute fehlt jede Regulierung der Finanzmärkte und kreist der gigantische Berg von Eigentumstiteln über den Volkswirtschaften der großen kapitalistischen Länder und verhindert ihren effektiven Umbau. Viele Milliarden Euro werden vorrangig zur Stabilisierung dieser Eigentumstitel genutzt (siehe Euro-Rettungsfonds etc.).

Gleichzeitig werden die Sparkommissare durch die Länder der EU gehetzt, um vornehmlich in die Geldbeutel der Lohnabhängigen und der sozial Ausgegrenzten zu greifen. Investitionen in die maroden Infrastrukturen der Länder, in die gesellschaftlich wichtigen Zukunftsbereiche wie Bildung, Gesundheit, Wohnen und soziale Infrastruktur bleiben aus, weil dafür wegen der sprunghaft steigenden Staatsverschuldung, an der wiederum vorwiegend die Finanzmarktakteure verdienen, vorgeblich kein Geld da ist.

Es bleibt dabei: Aus der Krise kann man sich nicht heraussparen. Ein schneller Verzicht auf Neuverschuldung ist nicht möglich, weil das eine Abwärtsspirale aus Haushaltskürzungen und Steuermindereinnahmen in Gang setzt. Deshalb sind Stellenabbau und Rotstiftpolitik in der Arbeitsmarkt- Bildungs- und Sozialpolitik volkswirtschaftlich schädlich und verschärfen zudem die soziale Spaltung. Auch öffentliche Investitionen sind unverzichtbar, müssen aber der Stärkung der Wirtschaftskreisläufe und dem Umbau der Wirtschaft in Richtung einer solidarischen Dienstleistungsökonomie dienen – und nicht der haushaltsbelastenden Bedienung der sozialen Interessen der Besserverdienenden. Nur dadurch würden auch wieder wachsende Steuereinnahmen generiert.

Eine strukturelle Lösung der Verschuldung ist zudem nur durch eine andere Steuergesetzgebung möglich (Einkommens-, Vermögens-, Erbschaftssteuer etc.), die die Steuerkraft von Bund, Ländern und Kommunen stärkt und ihnen perspektivisch die Rückzahlung von Schulden erlaubt. Die Tabuisierung der Einnahmepolitik bei den öffentlichen Finanzen ist nicht länger tolerierbar. Nur durch eine stärkere steuerliche Belastung der Reichen, der BürgerInnen mit höheren Einkommen und Vermögen, kann es geordnete öffentliche Finanzen geben. Schließlich und nicht zuletzt müssen auch die Finanzmarktakteure (Banken etc.) über eine Politik der geordneten Entwertung von Vermögenstiteln in den Sanierungsprozess einbezogen werden.

Ein Befreiungsschlag für die sich in schwerem Wasser bewegende schwarz-gelbe Koalition wird die Operation Rotstift deshalb ganz sicher nicht. Das Echo in der Öffentlichkeit ist verheerend und das Gezerre innerhalb des bürgerlichen Lagers um Nachbesserungen (von Reichensteuer bis zu noch härteren Einschnitten ins soziale Netz) hat unmittelbar nach Veröffentlichung der Sparpläne eingesetzt. Sie verstärken den Eindruck von Zerstrittenheit und Konzeptionslosigkeit, der sich aktuell in der Frage der Kopfprämie im Gesundheitssystem, einer weiteren Baustelle der schwarz-gelben Koalition, austobt ("Wildsau" versus "Gurkentruppe").

Der Vertrauensverlust in der Bevölkerung, der inzwischen hohe Fallgeschwindigkeit angenommen und seinen Niederschlag auch in "Exit-Strategien" beim politischen Personal (Koch, Köhler etc.) gefunden hat, wird dadurch nicht gebremst werden können. Dazu trägt auch bei, dass sich die Belastungen für die BürgerInnen durch die Konsolidierungsprogramme auf Kommunal-, Länder- und Bundesebene (in der Regel alle mit sozialer Schieflage) kumulieren und Ruhe an der Euro-Front nicht aufkommen will. Die Streiks in Spanien und anderswo zeigen, dass die Hoffnung der herrschenden ökonomischen und politischen Eliten auf Akzeptanz oder Duldung der für die Sanierung der Staatsfinanzen vermeintlich unverzichtbaren harten Zumutungen für große Teile der Bevölkerung in den betroffenen Ländern nicht aufgeht.

Egal deshalb, wie die Bundespräsidentenwahl ausgeht, die Unruhe im politischen Feld, das hektische und perspektivlose Reagieren auf immer neue Krisenkonstellationen, die damit einhergehende Entzivilisierung des politischen Diskurses und schließlich die fortschreitende Desavouierung des politischen Feldes, werden uns erhalten bleiben.