Schäubles Politik des Stillstandes

20.04.2017 / Axel Troost

In Washington steht die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank ins Haus, zu der auch zahlreiche Finanzminister und Notenbankchefs aus Europa anreisen, darunter Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) plädieren angesichts der immer noch existierenden Probleme – anhaltend schwaches Wirtschaftswachstum, niedrige Zinsen und eine fortschreitende Alterung der Bevölkerung – für eine umfassende Investitionsoffensive. Außerdem seien eine weitere Konsolidierung des Bankensektors und strukturelle Anpassungen der Geschäftsmodelle von Banken, Versicherungen, Pensionskassen sowie bei den angebotenen Finanzprodukten unausweichlich.

Die neue US-Administration greift die Politik der IWF-Direktorin Lagarde und deren Stabilitätsorientierung an. US-Handelsminister Ross beschuldigte Christine Lagarde und andere Freihandelsverfechter, sie wollten nur ein System erhalten, das seit 1970 zum riesigen US-Handelsdefizit geführt habe. Sie wollten dieses System nicht verändern, weil es zu ihrem Vorteil sei, warf der Amerikaner den Handelspartnern vor. „Aber das wird nicht funktionieren.“ Der Präsident toleriere es nicht länger, dass die Amerikaner das Land seien, das mit seinem Defizit die Überschüsse der anderen tragen würde.

Für die Bundesrepublik Deutschland plädiert Finanzminister Schäuble sowohl auf globaler wie auf europäischer Ebene für „Stillstand“. Schäuble macht klar, dass er weder von einer Investitionsoffensive noch von den Ideen der Brüsseler Behörde zur Weiterentwicklung der Eurozone etwas hält. Schäuble will keine Reformen im Währungsfonds und in der europäischen Währungsunion. Da EU-Vertragsänderungen nicht machbar sein, müsse man „pragmatisch“ vorgehen und sich notfalls auf „intergouvernementale“ – also zwischenstaatliche – Lösungen „konzentrieren“. Die Bemerkung zielt ab auf den Luxemburger Euro-Rettungsfonds: Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) basiert auf einem zwischenstaatlichen Vertrag. Dieser Vertrag könnte nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland geändert werden mit dem Ziel einer engeren Zusammenarbeit der Euro-Staaten. Die EU-Kommission und das Europaparlament würden dabei allerdings außen vor bleiben.

Deutschland stellt sich gegen Ideen für eine Reform des internationalen Handels und gegen Reformen der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mit einem eigenen Haushalt und Finanzminister. Nötig wären dafür Vertragsänderungen, und diese seien derzeit unrealistisch, sagte Finanzminister Wolfgang Schäuble: „Lasst uns jetzt darauf konzentrieren, pragmatisch die zentralen Probleme Europas“ zu lösen, sagte der CDUPolitiker. Dazu zählte er die Flüchtlingskrise und die Stabilisierung der gemeinsamen Währung Euro. Notfalls müsse dies mit verschiedenen Geschwindigkeiten geschehen. Geltende Regeln müssten durchgesetzt werden. Dagegen sei der Spielraum für eine Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion „nach dem europäischen Primärrecht außerordentlich begrenzt“.

Diese Logik des Bundesfinanzministers ist gefährlich. Denn zurecht drängen IWF und die europäische Bankenaufsicht auf strukturelle Anpassungen im Finanzsystem. Es steht nach Jahren der Bankenregulierung noch immer nicht gut um das Finanzsystem, auch wenn Fortschritte nicht bestritten werden können: die Europäische Zentralbank garantiert seit 2012, dass sie im Notfall alles unternehmen wird, um eine Eurokrise abzuwenden. Dazu zählen auch unbegrenzte Staatsschuldenaufkäufe hochverschuldeter, aber „reformwilliger“ Regierungen, sogenannte Outright Monetary Transactions (OMT). Die Regierungen haben ihrerseits mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus einen gemeinsam finanziell gespeisten „europäischen Währungsfonds“ geschaffen, der im Notfall Kredite vergibt, um Zahlungsbilanzprobleme und damit allseits befürchtete Finanzkrisen bei der öffentlichen Kreditaufnahme zu verhindern.

Außerdem gibt es deutliche Schritte bei der Schaffung einer europäischen Bankenunion, also der Übertragung von nationalen Kompetenzen der Bankenregulierung auf zentrale Institutionen, aber von einer durchgreifenden Lösung sind die europäischen Länder noch weit entfernt. Zwei von drei Säulen der Bankenunion stehen bereits, nämlich die einheitliche Bankenaufsicht und die einheitliche Bankenabwicklung. Bei der dritten Säule, der gemeinsamen europäischen Einlagensicherung, gibt es noch immer keinen Durchbruch. Laut dem Vorstand der Deutschen Bundesbank ist die Basis für eine gemeinsame Einlagensicherung nicht gegeben. Die Finanz- und Wirtschaftspolitik, die den Zustand der jeweiligen Bankensysteme wesentlich beeinflusse, sei noch immer national. Eine europäische Einlagensicherung würde daher dazu führen, dass die Folgen falscher nationaler Entscheidungen auf alle SparerInnen im Euro-Raum umgelegt würden. Dazu kommen die Probleme mit notleidenden Krediten in einigen südlichen Euro-Ländern.

In den Bilanzen der europäischen Institute schlummern immer noch hohe Altlasten aus der Finanz- und Euro-Krise – Wertpapiere, die nicht mehr so viel wert sind wie einst. In vielen Ländern sind die Probleme verschleppt worden, statt das Kapital der Banken zu erhöhen oder sie gleich ganz zu schließen. Dazu kommt die Politik der Europäischen Zentralbank, die es wegen der niedrigen Zinsen allen Instituten schwer macht, im klassischen Zinsgeschäft gut zu verdienen.

Im Bankensystem der Euro-Zone waren im dritten Quartal 2016 notleidende Kredite (Non Performing Loans, NPL) über sage und schreibe 921 Mrd. Euro geparkt. Das ist eine gewaltige Summe, auch wenn sie im Vergleich zum Vorjahr um 54 Mrd. Euro zurückgegangen und die Quote der faulen Kredite an der Gesamtheit der vergebenen Kredite von 7,3% auf 6,5% gesunken ist. Insofern bleiben die NPL die größte Sorge der bei der EZB angesiedelten Bankenaufsicht für Institute innerhalb der Euro-Zone. Die faulen Kredite belasten die Profitabilität der Banken und limitieren ihre Fähigkeit zur Finanzierung der Wirtschaft.

Die Europäische Zentralbank hat mit der Vorlage ihrer Richtlinie zu notleidenden Krediten einen weiteren Schritt unternommen, dieses drückende Problem für Banken in einigen Staaten der Eurozone anzugehen. Sie will Banken mit erhöhten Beständen an notleidenden Krediten demnächst Briefe mit qualitativen Vorgaben schreiben. Diese Briefe sollen sicherstellen, dass die Institute notleidende Kredite entsprechend den Erwartungen der Aufsichtsbehörden behandeln. Allerdings sei ihr bewusst, dass sich ein hoher Bestand an notleidenden Krediten nicht schnell abbauen lasse, räumte die EZB ein.

Wie oft in der EU gibt es deutliche nationale Unterschiede: Das Spektrum reichte Ende 2016 von einem Anteil von 1% in Schweden bis zu 45,9% in Griechenland. Die höchsten Bestände nach Griechenland wiesen Zypern (44,8%), Portugal (19,5%) und Italien (15,3%) auf. Auch in Bulgarien, Irland, Kroatien, Rumänien, Slowenien und Ungarn lag die Kennzahl bei über 10%.

  • Von den notleidenden Krediten konzentrieren sich mehr als 70% in vier Ländern. Italiens Banken sind doppelt so exponiert wie die Institute in den restlichen drei Staaten: Auf sie entfallen 271 Mrd. Euro oder 30% der europäischen NPL. Frankreich und Spanien bringen es auf je rund 136 Mrd. Euro (15%) sowie Griechenland auf 114 Mrd. Euro (13%). Im Falle Frankreichs machen die faulen Kredite gemessen an den Gesamtausleihungen französischer Banken aber nur 3,8% aus („Gross NPL ratio“).
  • Sechs Länder sind wirklich gefährdet: Griechenland und Zypern, wo 47% bzw. 40% der ausgeliehenen Kredite notleidend sind. Ebenfalls in Gefahr sind Portugal, Irland, Slowenien und Italien, wo diese Anteile zwischen 20 und 16% liegen.
  • Entscheidend ist die Höhe der Bank-Rücklagen zur Absicherung gegen Kreditausfälle.

Trotz der wirtschaftlichen Erholung wird sich das Problem nicht von selbst lösen, darin stimmen die Finanzminister der Eurozone überein. Zu hohe Bestände belasten das Bankensystem, binden Kapital und behindern die Vergabe neuer Kredite an die Wirtschaft. Zudem besteht in der Währungsunion die Gefahr von negativen Auswirkungen auf andere Staaten.

Gleichwohl sehen die Minister Bedarf für einen europäischen Rahmen für den NPLAbbau. Bis im Juni soll eine Arbeitsgruppe eine Art Aktionsplan ausarbeiten, der an mehreren Stellen ansetzt. So soll die EU-Kommission eine Art „Bauplan“ für nationale Vermögensverwaltungsgesellschaften erarbeiten, die – allenfalls unterlegt mit öffentlichem Kapital – faule Kredite von den Banken übernehmen und verwerten könnten. Der Bauplan soll klarstellen, was innerhalb des EU-Beihilferechts und der Bankenabwicklungsregeln zulässig ist und was nicht. Geprüft werden sollen weiter Initiativen zur Stärkung eines Sekundärmarkts für NPL.

Zu den weiteren Ansatzpunkten gehört neben zusätzlichen Kompetenzen der Bankenaufseher und der Restrukturierung der Banken das Insolvenzrecht. In manchen EUStaaten sind die Insolvenzverfahren langwierig und ineffizient, was den Gläubigern schadet. Eine EU-weite Harmonisierung des Insolvenzrechts steht zwar nicht zur Debatte. Zu groß sind hierfür die Unterschiede zwischen den nationalen Systemen und zu tief sind diese im nationalen Recht verwurzelt. Hingegen hat die EU-Kommission im November einen Gesetzgebungsvorschlag vorgelegt, der eine gewisse Angleichung vorsieht und vor allem zu effizienteren Verfahren führen soll.

Die derzeitige Lage Europas und der Zustand des europäischen Einigungswerks sind paradox. Einerseits wachsen die Anforderungen und die Erwartungen an Europa angesichts globaler Herausforderungen und Veränderungen – nicht zuletzt nach dem Amtsantritt Donald Trumps. Andererseits setzt sich die Bundesregierung mit Finanzminister Schäuble für einen politischen Stillstand ein. Schäuble wird mit politischer Bewegungslosigkeit weder die europäische Währungsordnung noch den gemeinsamen Wirtschaftsraum dauerhaft verteidigen können.

Ich plädiere dafür, die gegenwärtig nur verhalten geäußerte Kritik nicht nur an der Finanz- und Währungspolitik des Finanzministers Wolfgang Schäuble klar zu äußern, sondern glaubhaft deutlich zu machen, dass es ein „Weiter so“ in der Europa-Politik mit der LINKEN nicht geben wird. Konkrete Alternativen, wie es anders gehen könnte, liegen auf dem Tisch.[1]

[1] Klaus Busch/Axel Troost/Gesine Schwan/Frank Bsirske/Joachim Bischoff/Mechthild Schrooten/ Harald Wolf: „Europa geht auch solidarisch. Streitschrift für eine andere EU“, VSA-Verlag 2016 www.axel-troost.de