Europa neu begründen

Von Otto König und Richard Detje

13.02.2015 / sozialismus.de, 10.02.2015

Ein halbes Jahrhundert lang hatten die politischen Verhältnisse in Griechenland mit dem idealtypischen Bild einer Demokratie nichts oder wenig gemein. Auf die Diktatur der Obristen von 1967 bis 1974 folgte ein System klientelistischer Parteienherrschaft, das im November 2011[1] durch das Regime der Troika abgelöst wurde. Am 25. Januar 2015 hat der Demos mehrheitlich[2] entschieden, die Herrschaft von Troika und parteiförmiger Selbstbereicherung zu beenden.

Gegen diese politische Umwälzung und die darin liegende Chance für einen Neuanfang wird Sturm gelaufen. Nach einer Woche intensiver Bemühungen der neuen griechischen Regierung, in den Hauptstädten Europas zumindest das zugestanden zu bekommen, was seit der Großen Krise in Europa praktiziert wird, nämlich Zeit zu kaufen, um ein Erneuerungsprogramm in die Wege leiten zu können, ist Isolation die Marschroute gegenüber der Regierung Tsipras. Dabei geht es nur teilweise um Europa – zumal es eine europäische Öffentlichkeit nicht gibt.

Schäuble und Merkel sitzt die AfD im Nacken, Hollande ist mit einem Votum seines Parteivorstands pro Politikwechsel in Griechenland konfrontiert, nicht unähnlich der Position von Renzi, die Linke in der DS und außerhalb klein zu halten, und mit Blick auf die Wahlen in Spanien gilt es, Podemos durch ein Scheitern von Syriza zu »schreddern«.

Unter dem Regime der Troika wurde Griechenland zu einem »wirtschaftlichen und menschlichen Albtraum« (Paul Krugman). Die Arbeitslosenquote verdoppelte sich seit 2010 auf mehr als 25%; im selben Zeitraum sind die Löhne um über ein Fünftel gesunken; der Mindestlohn wurde auf Drängen der Troika um 22% auf 586 Euro im Monat gekürzt; die Ausgabenstreichungen im griechischen Gesundheitswesen haben das Ausmaß einer »humanitären Krise« angenommen (German Foreign Policy, 2.2.2015).

Syriza setzt hier an mit einem Sofortprogramm gegen die humanitäre Katastrophe der griechischen Gesellschaft als ersten Schritt – Zeit kaufen als humanitäres Programm und nicht zur Sicherung der Vermögensansprüche der besitzenden Klassen in den Finanzzentren Europas. Diesem ersten soll als zweiter Schritt ein Programm des Neuaufbaus der griechischen Realwirtschaft folgen, das drittens Investitionen aber nur dann mobilisieren kann, wenn mit der Ideologie der Austerität, des Heraussparens zugunsten des Herauswachsens aus der Verschuldung gebrochen wird.

Die »radikale Linke Griechenlands«, als die Syriza hierzulande vorstellt wird, verfolgt damit eine Linie, die Wirtschaftsnobelpreisträger wie Krugman und Stiglitz seit Jahren versuchen stark zu machen. Als die Krise begann, machten die griechischen Staatsschulden 110% des Bruttoinlandsprodukts aus; inzwischen stehen sie bei 170%. Stieglitz: »Das Rezept, das Frau Dr. Merkel und die europäischen Chefärzte fürs Sparen den Griechen ausgestellt haben, war in Wahrheit Gift.«

Die Gift-Mischer bedienen sich der EZB: Zuerst wurde die erst kürzlich eingeführte Regelung, dass griechische Staatsanleiten für Zentralbank-Kredite akzeptiert werden, kassiert; schließlich wird auch der griechischen Zentralbank die Inanspruchnahme von EZB-Krediten im Falle von »emergency liquidity« verweigert (wahrscheinlich im März). Reine Spekulation, wieweit dabei Draghi mit der Zustimmung zu seiner Marschroute der Niedrigstzinspolitik (quantitative easing) unter Druck gesetzt wurde.

Wenn richtig ist, dass die politischen Öffentlichkeiten in Europa national bestimmt sind, heißt das, dass die Auseinandersetzungen und Aufklärungsleistungen vor Ort gegen die Selbstgefälligkeit »There is no Alternative« ausgetragen werden müssen. Und wenn richtig ist, dass Deutschland als wirtschaftlicher Hegemonialmacht auch ein Führungsanspruch in politisch-ideologischer Hinsicht zukommt, kommt der Auseinandersetzung mit den Herrschaftsdiskursen hierzulande eine besondere zu. Darauf sollte sich die deutsche Linke konzentrieren – nicht, der griechischen Regierung unberufene Ratschläge zu erteilen.

Die politischen Auseinandersetzungen hierzulande sind nur zu »schultern«, wenn die Linke sich nicht gemäß eigener Interessenlagen dividiert, sondern gemäß des skizzierten Dreierschritts von Syriza öffentlich aufklärerisch vorgeht. Anknüpfungspunkte gibt es viele:

Unionsfraktionschef Volker Kauder grollte im SPIEGEL, die in Athen sollten dankbar sein: »Deutschland hat die Griechen mit vor dem Ruin gerettet.« (7.2.2015) Sein Wink mit der Dachlatte lautet: Gesteht doch endlich ein, dass ihr zu viel versprochen habt. Mit Verweis auf Vertragstreue »Pacta sunt servanda« wird die Konfrontation mit der Athener Regierung vorangetrieben.

Deutschland stehe für die Einhaltung der Vereinbarungen aus dem aktuellen Sparprogramm. »Es sei für ihn unstrittig«, erklärte Finanzminister Wolfgang Schäuble dem Ökonomen Varoufakis nach einem Gespräch in Berlin, dass »die Verhandlungen wie bisher mit der Troika geführt werden müssen« (Süddeutsche Zeitung, 5.2.2015). Während Yanis Varoufakis für »ein Überbrückungsprogramm« bis Ende Mai warb, um zu Luft haben, neue Überlegungen anstellen zu können, verweigerte sich der deutsche Sparkommissar jeglicher Einsicht, dass die von Deutschland vorangetriebene Austeritäts-Politik gescheitert ist und korrigiert werden muss.

Während die Mehrzahl der europäischen Medien mit distanzierter, aber gleichzeitig auch interessierter Anteilnahme über die griechische Wende berichten, dominiert in deutschen Medien ein Stil der Provokation. Die Griechen, so der Journalist Georg Diez, würden von der »Frankfurter Allgemeinen« über die »Süddeutsche Zeitung« bis hin zu SPIEGEL ONLINE, »wahlweise als Ziegenherde, Kindergarten oder finanzpolitischer Erziehungsfall betrachtet.« (SPON, 30.1.2015)

Journalisten fast aller großen Leitmedien laufen bei der Verteidigung des »Spardiktats für Europa« zu Höchstform auf. »Vor so einem gelehrten Raufbold darf man sich nicht in die Hosen machen«, mahnte »Die Welt« (5.2.2015), sonst habe man »wenig Chancen«. Und Klaus-Dieter Frankenberg fragte in der »FAZ«: »Ist das eine Truppe von linksradikalen und rechtspopulistischen Halbstarken, die glaubt, Abmachungen gelten nichts?« (31.1.2015)

Die Medienkampagne, die schon in »seriösen« Presseorganen unter die Gürtellinie zielt, nimmt bei »BILD« fast hetzerische Züge an. Mit dem Titel »Das sollen die Griechen alles kriegen!« und der nachgeschobenen Erklärung, dass sie das alles natürlich auf »unsere« Kosten bekommen, wird Sozialneid geschürt. »Keine Gnade mit den Griechen!« ist dann die logische Konsequenz, Tsipras muss »auf die Finger gehauen« werden (27.1.2015).

Wer sich traut, aus der vermeintlich alternativlosen Elendsverwaltung auszubrechen, kommt an den öffentlichen Pranger. »Griechenland läuft Amok«, heißt es in einem Kommentar der staatsfinanzierten Deutschen Welle. Athen sei »bockig« wie ein kleines Kind, die Regierung eine »Abrisstruppe«, eine »Chaostruppe«, deren Ziel es sei, »die gesamte EU mit in ihren Strudel zu reißen« (Deutsche Welle, 30.1.2015).

Den Tiefpunkt des Journalismus lieferte DER SPIEGEL (Nr. 6/2015): Auf das Titelbild wurde der »Geisterfahrer« Alexis Tsipras gehievt, dem bescheinigt wird, der »Alptraum Europas« zu sein. »Was ›Der Spiegel‹ in dieser Titelgeschichte gemacht hat, hat das ›Sturmgeschütz der Demokratie‹ in ein ›Sturmgeschütz der Merkel-Schäuble-Doktrin‹ verwandelt«, stellt der österreichische Journalist Robert Misik fest.

In diesem Diskurs der politischen und publizistischen Eliten Deutschlands kommt eine massive Abwehrhaltung gegenüber einem politischen Kurswechsel in Europa zum Ausdruck. Denn wird durch die politischen Entwicklungen in Griechenland der Nachweis erbracht, dass Alternativen zur herrschenden Politik möglich sind, bekommt der Widerstand in Ländern wie Irland, Portugal, Spanien und Zypern, die in den vergangenen Jahren auch unter den Memoranden der Troika, unter Sozialkürzungen, Privatisierungen und einer enormen Arbeitslosigkeit zu leiden hatten, verstärkten Auftrieb.

Der politische Erdrutsch in Griechenland ist somit nicht nur eine Chance für die krisenge-schüttelten EU-Länder, sondern auch dafür, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU grund-sätzlich zu korrigieren. Mit dieser Botschaft wandten sich führende Gewerkschaftsfunktionäre – u.a. die Vorsitzenden Reiner Hoffmann (DGB), Frank Bsirske (ver.di),Robert Feiger (IG BAU), Alexander Kirchner (EVG), Michaela Rosenberger (NGG), Marlis Tepe (GEW), Michael Vassiliadis (IG BCE), Detlef Wetzel (IG Metall), hinzu kommen die Vorsitzenden des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, der spanischen CC.OO und des Schweizer Gewerkschaftsbundes – gemeinsam mit Wissenschaftlern in einem Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit, in dem sie den Politikwechsel in Griechenland »nicht als Gefahr, sondern als eine Chance für Europa« bewerten.

Der politische Umbruch in Griechenland biete jetzt die Möglichkeit für einen politischen Kurswechsel in ganz Europa. Das europäische Projekt werde »nicht durch Spardiktate gestärkt, sondern nur durch die demokratische Initiative von unten für einen wirtschaftlichen Wiederaufbau und mehr soziale Gerechtigkeit«. Angesichts vieler kritischer Stimmen in Politik und Medien bekräftigen die UnterzeichnerInnen, dass »der politische Umbruch in Griechenland zu einer Chance für ein demokratisches und soziales Europa gemacht werden (muss)!«

Die Brechtsche Mahnung »Ändere die Welt, sie braucht es!« ist für Europa aktueller denn je.

[1] Am 30. Oktober 2011 hatte Ministerpräsident Giorgos Papandreou ein Referendum über das so genannte Euro-Rettungspaket angekündigt; am 3. November musste er das Referendum zurückziehen und am 9. November zurücktreten; damit begann auch offiziell die Herrschaft der Troika.
[2] Zwar haben nur 36% der WählerInnen bei einer Wahlbeteiligung von 64% Syriza gewählt; aktuellen Umfragen zufolge sind aber 60% der Griechen sind mit dem Start der neuen Regierung zufrieden.