Mindestlohn als Einstieg zu einer neuen Fesselung des Kapitals

Von Joachim Bischoff und Bernhard Müller

12.10.2013 / sozialismus.de, vom 11.10.2013

Die politischen Sondierungen im Nachgang der Bundestagswahlen über eine mögliche Regierungsbildung sind noch nicht weit fortgeschritten. Im Unterschied zu den verhandelnden Parteiführungen gibt es laut aktueller Umfrage bei einer deutlichen Mehrheit der Wahlbevölkerung allerdings ein klare Erwartung an eine künftige Regierung: Ein gesetzlicher Mindestlohn ist demnach unverzichtbar.

83% der Befragten geben an, dass sie sich wünschen, dass sich die Parteien auf die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einigen. Nach Parteien aufgeteilt bedeutet dies: 93% der SPD-Anhänger wollen einen Mindestlohn, 86% der Grünen- und sogar 74% der Anhänger von CDU/CSU. Angenommen, ein gesetzlicher Mindestlohn wird eingeführt, denken 35% der Befragten, er solle bei 8,50 Euro liegen. Für 56% der Deutschen sollte ein Mindestlohn über dieser Grenze liegen. Sogar 45% der CDU/CSU-Anhänger hätten gerne einen Mindestlohn über 8,50 Euro pro Stunde.

Diese Ergebnisse unterstreichen, dass ohne einen flächendeckenden Mindestlohn eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie schwer vorstellbar ist. Der Hintergrund für die breite Forderung nach einer entsprechenden Regelung für den Preis der Arbeitskraft ist eine enorm verschärfte Ungleichheit. Seit den 1990er Jahren ist die Lohnungleichheit in Deutschland deutlich gewachsen. Fast ein Viertel aller deutschen Beschäftigten bezog im Jahr 2010 einen Niedriglohn, das heißt weniger als 2/3 des mittleren Lohns.

Die Ungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung ist damit hierzulande größer als im weit überwiegenden Teil der EU-Länder. Es sind zwei Entwicklungstendenzen, die für diese wachsende Lohnungleichheit verantwortlich sind. Zum einen die massive Ausbreitung atypischer Beschäftigungsformen. Mit der Veränderung der Formen der Lohnarbeit geht auch eine Schwächung der gewerkschaftlichen Organisation einher. So unterliegen in Deutschland nur noch 58% der Beschäftigten bei der Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen einer Tarifbindung. In den skandinavischen Ländern hingegen, die auch keinen nationalen Mindestlohn haben, gelten für 85 bis 91% der Arbeitnehmer Tarifverträge.

Die Arbeitsmärkte haben sich in den kapitalistischen Hauptländern stark verändert und es ist in der Beschäftigungsstruktur zu erheblichen Umwälzungen gekommen. Eine verfestigte chronische Massenarbeitslosigkeit hat sich in allen europäischen Ländern eingenistet. Zudem breiten sich informelle, ungeschützte, nicht regulierte Arbeitsverhältnisse aus. Immer mehr Menschen sind so von der Teilhabe an ausreichendem Einkommen, Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherheit ausgeschlossen.

Während sich diese seit 20 Jahren dominierende Entwicklungstendenz der Prekarisierung der Lohnarbeit in vielen europäischen Nachbarländer mit Einsetzen der Wirtschaftskrise 2008ff. mit dem weitere sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit und dem beschleunigten Anstieg prekärer Beschäftigung noch deutlich verstärkt hat, durchläuft Deutschland eine (scheinbar) davon abweichende Entwicklung. So hat hierzulande die Erwerbstätigkeit in den letzten Jahren noch einmal deutlich zugenommen. Mit über 41,5 Mio. Erwerbstätigen, zu denen neben den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten u.a. auch Selbständige, Beamtinnen und Beamte sowie geringfügig Beschäftigte und Personen in Arbeitsgelegenheiten zählen, wurde 2012 der höchste Stand seit der Wiedervereinigung erreicht.

Berücksichtigt man allerdings die geleistete Arbeitszeit relativiert sich dieser Nachkriegsrekord auf dem Arbeitsmarkt entscheidend. Die von allen ArbeitnehmerInnen – unter Einrechnung der Minijobber und der steigenden Zahl von Zweitjobs – geleistete Arbeitszeit lag 2012 bei knapp 48,85 Mrd. Stunden. Dieses Arbeitsvolumen bewegte sich – trotz gestiegener Erwerbstätigkeit – immer noch unter dem Niveau des Jahres 2000 und auch der ersten Hälfte der 1990er Jahre. 1991 summierte sich das Arbeitsvolumen nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) auf 51,77 Mrd. Stunden, immerhin fast drei Mrd. Stunden mehr als 2012.

Das vermeintliche »Jobwunder« kommt also dadurch zustande, dass vor dem Hintergrund eines nur schwachen Wirtschaftswachstums vorhandene Arbeit umverteilt wird. Gezählt wird dabei in der Beschäftigungsstatistik nicht nur Arbeit, von der man leben kann, sondern jede Art von Job, seien es Ein-Euro-Jobs oder sozialversicherte Vollzeitbeschäftigung bzw. Mini-Jobs, die am Schicksal der Arbeitslosigkeit möglicherweise nichts ändern, oder der Niedriglohnjob, der nicht aus Hartz IV herausführt. Der Rekord bei der Erwerbstätigkeit wird daher gerne zur Schönfärberei genutzt, da er insbesondere auf die gestiegene Zahl von Kleinstarbeitsverhältnissen und prekärer Beschäftigung zurückzuführen ist.

Die Umverteilung eines rückläufigen Arbeitsvolumens auf immer mehr Lohnabhängige zeigt sich im enorm gewachsenen Gewicht der Teilzeitarbeit. Addiert man die verschiedenen Formen der Teilzeitarbeit waren von den nach der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit 34,7 Mio. Lohnabhängigen (BeamtInnen, sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte) 12,8 Mio. in Teilzeit. Das entspricht einem Anteil von 27%.

Die Tendenz zur Prekarisierung findet sich aber nicht nur bei atypische Formen der Lohnarbeit wie der geringfügigen Beschäftigung, sondern auch und gerade bei der Kerngruppe des Beschäftigungssystems, den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Auch hier ist der Anteil der teilzeitbeschäftigten Lohnabhängigen über die letzten 20 Jahre kontinuierlich gestiegen. »Von Juni 2006 bis Juni 2011 stieg der Bestand an sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten um 25%, die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten dagegen nur um 4%. Infolge dieser unterschiedlichen Entwicklungen ist die Teilzeitquote im gleichen Zeitraum um 3 Prozentpunkte auf 20% gestiegen – das entspricht 5,7 Mio. Teilzeitbeschäftigten. Insbesondere während der Finanzkrise (2008/2009) wuchs die Teilzeitbeschäftigung weiter an, dagegen waren bei der Vollzeitbeschäftigung deutliche Verluste zu verzeichnen. Unbeeindruckt von konjunkturellen Effekten konnte Teilzeit am deutschen Arbeitsmarkt also zunehmend an Bedeutung gewinnen.«[1]

Nach jetzt von der Bundesagentur für Arbeit vorgelegten Zahlen[2] ist der Anteil der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung sogar deutlich höher als bisher angenommen. Danach arbeitenden Ende 2012 25% bzw. 7,4 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Teilzeit. Die zuletzt verfügbaren Zahlen von Mitte 2011 wiesen dagegen nur einen Anteil von 20% bzw. 5,7 Mio. Beschäftigte mit reduzierter Stundenzahl aus.

Außer im wachsenden Anteil von (schlechter bezahlter und unzureichend sozial abgesicherter) Teilzeitarbeit, zeigt sich die Prekarisierung des »Normalarbeitsverhältnisse« der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung u.a. auch darin, dass 20% der Vollzeitbeschäftigten nur einen Niedriglohn verdienen und der Anteil von Leiharbeit und Aufstockern bei sozialversicherungspflichtig Voll- wie Teilzeitarbeitenden seit der Jahrtausendwende massiv zugenommen hat.

Diese Entwicklungstendenzen können eindrucksvoll an der vom Statistischen Bundesamt auf Basis des Mikrozensus dokumentierten Entwicklung der atypischen Arbeitsverhältnisse abgelesen werden. Danach hat sich die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse und insbesondere auch der prekären Beschäftigung von 4,4 Mio. Anfang der 1990er Jahre auf 7,9 Mio. 2012 deutlich erhöht, während sich die Zahl der im Normalarbeitsverhältnis (inkl. Teilzeitbeschäftigte mit mehr als 20 Wochenstunden) stehenden Beschäftigten über die Konjunkturzyklen verringerte – von 26,9 Mio. Anfang der 1990er Jahre auf 24,2 Mio. in 2012. Deutliche Zuwächse zeigen sich demgegenüber bei den Minijobs. Bereinigt man die Gesamtzahlen lediglich um diejenigen, die nur einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, so liegt die Zahl der verbleibenden Erwerbstätigen auch absolut noch unter dem Niveau von 1991 und 1992.

Die Zahl der atypisch Beschäftigten ist zwar nach der Analyse des Statistischen Bundesamts (siehe Pressemitteilung vom 28.8.2013) im Jahr 2012 leicht zurückgegangen. »Der Anteil atypisch Beschäftigter an allen Erwerbstätigen ging zwischen 2011 und 2012 von 22,4% auf 21,8% zurück. Seit 1991 war der Anteil atypisch Beschäftigter (12,8%) nahezu kontinuierlich gestiegen und hatte 2007 seinen bislang höchsten Wert von 22,6% erreicht. Seitdem blieb er knapp unter diesem Niveau und war 2012 nun erstmals deutlich rückläufig.«

Daraus eine Entwicklungstendenz abzuleiten, wäre allerdings völlig verfehlt, denn erstens zeigt die Konjunkturentwicklung leichte Bremsspuren, die zur weiteren Zunahme prekärer Beschäftigung führen werden. Zweitens unterzeichnet die StaBu-Statistik das Ausmaß prekärer Beschäftigung deutlich, weil etwa 25% der dort ausgewiesenen »Normalarbeitsverhältnisse« im Niedriglohnbereich angesiedelt, also prekär sind. In der Summe müssen heute etwa ein Drittel aller Lohnarbeitsverhältnisse als prekär angesehen werden, was einen entsprechenden Druck auch auf die »Normalarbeitsverhältnisse« entwickelt.

Mit der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns wäre ein wichtiger Damm gegen die Lohnungleichheit geschaffen. Allerdings – und auch das belegen die Erfahrungen in den europäischen Nachbarstaaten – der Mindestlohn ist kein Universalschlüssel zur Bekämpfung von Einkommensungleichheit und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Der Mindestlohn muss durch weitergehende Regulierungen im Arbeitsmarkt ergänzt und verstärkt werden. Dass die Lohnungleichheit unter Voll- und Teilzeitbeschäftigten in Deutschland mittlerweile weiter fortgeschritten ist als in fast allen anderen Ländern der Europäischen Union – und weiter als in allen westlichen EU-Ländern –, stellt also eine umfassende Herausforderung für die Arbeitsmarktpolitik dar und fordert eine deutliche Einschränkung der Macht des Kapitals dar.

Das wachsende Gewicht prekärer Beschäftigung hat vor allem mit der durch den Finanzmarktkapitalismus ausgelösten Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der organisierten Vermögensverwaltung zu tun, die in der Folge eine Auflösung der Form der organisierten Lohnarbeit und über die Prekrarisierung eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse im nationalstaatlich organisierten Kapitalismus nach sich zieht. Die Ausrichtung am Shareholder-Value und die dahinter steckende Begünstigung der leistungslosen Kapital- und Vermögenseinkommen schlagen sich in einer gesamtgesellschaftlich fallenden Quote des Arbeitseinkommens.

Und: Öffentliche Dienste sowie wichtige soziale Dienstleistungs- und Infrastrukturbereiche wie Bildung, Gesundheit, Alterssicherung, Umwelt, Wasser, Energie werden der Kapitalverwertung geöffnet. Neben der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gibt es also weitere Kernthemen: Reformen am Arbeitsmarkt und der sozialen Sicherung, Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse und höhere Ausgaben für öffentliche Infrastruktur. Ein Vertrag über eine große Koalition ist daran zu messen, in welchem Umfang entsprechende Regulierungen auf den Weg gebracht werden können.

[1] Brenzel u.a., Neueinstellungen in Teilzeit. Betriebe wie Beschäftigte können profitieren, IAB-Kurzbericht 19/2013, S. 2
[2] »Die Statistik der BA berichtet regelmäßig über die Struktur und die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen und der geringfügigen Beschäftigten. Wegen einer Umstellung im Erhebungsverfahren war für einen vorübergehenden Zeitraum weder eine Berichterstattung zur ›ausgeübten Tätigkeit‹ der Beschäftigten, noch zu ihrer ›Ausbildung‹ oder zu ihrer ›Arbeitszeit‹ möglich. Das betraf die Stichtage nach dem 30. Juni 2011. Ab dem Stichtag 31. Dezember 2012 können diese Merkmale in der Beschäftigungsstatistik wieder berichtet werden.
Mit der Umstellung war nicht nur eine Lücke in der Berichterstattung verbunden, sondern es gibt auch spezifische Umstellungseffekte, die sich in teilweise deutlich gegenüber den Vorjahren abweichenden Ergebnissen zeigen. Die Auswertungen der ›Arbeitszeit‹ ergeben z.B. einen Teilzeitanteil, der mit bundesweit nunmehr 25% (31.12.2012) um rund 5 Prozentpunkte über dem Vorjahreswert liegt. Das ist viel mehr als der normale Anstieg der Teilzeit zuletzt betrug. Der Grund liegt darin, dass die Arbeitgeber im Zuge der Umstellung in den Lohnabrechnungsprogrammen die melderelevanten Angaben über ihre Beschäftigten überprüft und häufig auch aktualisiert haben. Für die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung kann dieser Sondereffekt mit rund 4 Prozentpunkten veranschlagt werden.« (Bundesagentur für Arbeit, Methodische Hinweise, in: Beschäftigungsstatistik, 27.9.2013)