Ein politischer Kuhhandel auf Kosten der Hartz-IV­Bezieher/innen

Von Christoph Butterwegge

23.02.2011

Der faule Kompromiss von CDU/CSU, FDP und SPD widerspricht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010

Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Berechnung der Regelsätze bei Hartz IV (Arbeits-losengeld II und Sozialgeld) am 9. Februar 2010 für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und verpflichtete die Bundesregierung, bis zum 31. Dezember desselben Jah­res eine gesetzliche Neuregelung zu treffen, die auf einer transparenten und nachvoll­ziehbaren Berechnung basieren sowie für Kinder ausreichend Bildungs- und Teilhabe­möglichkeiten schaffen sollte. Diese Gerichtsentscheidung (Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09) war ein Meilenstein im Kampf gegen Hartz IV, weil zum ersten Mal die Gewährleistung eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ als Aufgabe und Auftrag des Sozialstaates aus Art. 1 Abs. 1 (Unantastbarkeit der Würde des Menschen) und Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsgebot) hergeleitet wurde. Sie bestätigte höchstrichterlich, dass die bisher gültigen Regelsätze nach vorgegebenen politischen Kriterien und damit willkürlich festgelegt worden waren, ohne den Anspruch der Hilfebedürftigen an einer menschenwürdigen Existenz ausreichend zu berücksichtigen.

Bundessozialministerin Ursula von der Leyen nutzte die durch das Verfassungsge­richtsurteil entstandene Lage, um außer einer Neuberechnung der Regelsätze, die jetzt als „Regelbedarfe“ bezeichnet werden, weitere im Gesetzestext stehende Schlüsselbe­griffe zu modernisieren – so heißen die Hilfebedürftigen nunmehr „Leistungsberechtigte“

– und inhaltliche Veränderungen vorzunehmen, die teilweise Verbesserungen für Hartz­IV-Bezieher/innen und teilweise Verschärfungen der für sie geltenden Bestimmungen darstellen. Das vom Bundestag beschlossene Regelbedarfermittlungsgesetz entsprach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht einmal ansatzweise. So war die dort festgeschriebene Erhöhung des sog. Eckregelsatzes für alleinstehende Erwachse­ne um 5 EUR pro Monat kaum mehr als ein Almosen und weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Folgerichtig sprachen Betroffene, die sie als eine weitere Demütigung und Erniedrigung empfanden, abschätzig von „Hartz IV plus 5“. Denn auch mit 364 EUR kann man in unserer Wohlstands- und Konsumgesellschaft keinesfalls menschenwürdig leben, sich weder gesund ernähren noch sich gut kleiden und erst recht nicht am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben.

Die entscheidende Forderung des Bundesverfassungsgerichts, den Hartz-IV­Bezieher(inne)n ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ zu gewähren, wurde nicht erfüllt, sondern einfach ignoriert. Wieder entsprangen die von der Regierungskoalition getroffenen Entscheidungen reiner Willkür und waren der Haushaltslage angepasst, hatten aber mit der Lebenswirklichkeit der Armen nicht das Geringste zu tun. So strich man den Hartz-IV-Empfänger(inne)n die ihnen bisher für Tabakwaren und alkoholische Getränke zugestandenen 19,10 EUR pro Monat mit der Begründung, diese Güter ge­hörten nicht zum Grundbedarf. Hierdurch sinkt der Lebensstandard der Betroffenen und wächst die Gefahr ihrer sozialen Ausgrenzung weiter, denn zu rauchen oder mal ein Bier zu trinken gehört zur Alltagsnormalität in unserer Gesellschaft. Da aber kein Lang­zeitarbeitsloser wegen des sonntäglichen Koalitionsbeschlusses zum Nichtraucher wird, müssen die Betroffenen das Geld für Zigaretten an einer anderen Stelle einsparen, was ihre soziale Ausgrenzung weiter verstärkt.

Korrigiert werden sollte nach dem BVerfG-Urteil auch, dass Kinder mit 60 Prozent des Erwachsenenregelsatzes abgefunden wurden, wenn sie jünger als 6 Jahre waren, mit 70 Prozent, wenn sie 6 bis 13 Jahre alt waren, und mit 80 Prozent, wenn sie 14 Jahre und älter waren. Das BVerfG erkannte im Unterschied zur Bundesregierung explizit an, dass Kinder keine Erwachsenen „im Miniformat“ sind, sondern spezifische Bedarfe ha­ben. Kinder wachsen eben noch, weshalb sie häufiger Kleidung und neue Schuhe brauchen. All das blieb so lange unberücksichtigt, wie man vom Erwachsenen-Regelsatz einfach bloß einen bestimmten Prozentsatz für die Kinder vorsah.

Ursula von der Leyen, persönlich in Karlsruhe anwesend, hat unmittelbar nach der Ur­teilsverkündung dort statt einer notwendigen Erhöhung der Regelsätze für Kinder die zusätzliche Einführung von Sach- bzw. Dienstleistungen ins Gespräch gebracht. Gut­scheine und die Bildungschipkarte bestimmten denn auch monatelang die öffentliche Debatte darüber. Dahinter steckte die Unterstellung, dass eine Regelsatzerhöhung bei vielen Kindern aus Hartz-IV-Familien gar nicht ankomme, weil die Eltern das Geld für ihre eigene Bedürfnisbefriedigung ausgeben würden. Zwar mag es tatsächlich den ei­nen oder anderen Vater geben, der sich lieber einen Flachbildschirm kauft, als das zu­sätzliche Geld seinen Kindern zugute kommen zu lassen. Wissenschaftliche Untersu­chungen haben jedoch übereinstimmend ergeben, dass sich die meisten Eltern das letzte Hemd ausziehen würden, bevor sie ihre Kinder spüren ließen, wie arm die Familie ist. Mit den seltenen Ausnahmefällen vergnügungssüchtiger Familienväter zu begrün­den, dass keine Erhöhung der Kinderregelsätze stattfinden sollte, womit alle übrigen Eltern und Kinder völlig schuldlos benachteiligt wurden, war perfide. Übrigens landen auch Subventionen, die man Unternehmern zahlt, oft nicht dort, wo sie ankommen soll­ten. Das hat aber m.W. bisher nie dazu herhalten müssen, die Forderung nach einem Ende aller Subventionen für Unternehmen zu legitimieren.

Gemäß der Neuberechnung überhaupt nicht erhöht wurden die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche, was im Grunde auf eine Kürzung hinauslief, weil ihre Anpas­sung ebenso wie die der Erwachsenen künftig nicht mehr zum 1. Juli eines jeden Jah­res, sondern bereits zum 1. Januar erfolgt und für das Jahr 2011 ganz entfiel. Stattdes­sen will man den Kindern ein „Bildungs- und Teilhabepaket“ im Wert von 250 EUR pro Jahr zukommen lassen. Hierin eingeschlossen sind allerdings 100 EUR des früheren „Schulbedarfspakets“, das nunmehr bezeichnenderweise eigens beantragt werden muss und in zwei Raten ausgezahlt wird, sowie 30 EUR, die für eintägige Klassenfahr­ten und Ausflüge vorgesehen und bisher im Regelsatz enthalten waren. Deshalb stellt das von der zuständigen Bundesministerin wochenlang gefeierte Bildungspaket nicht bloß ein soziales Placebo, sondern auch eine politische Mogelpackung dar. Was sind schon 10 EUR pro Monat mehr für ein Kind? Man kann damit zwar z.B. Mitglied in ei­nem Sportverein werden, sich von den im Regelsatz vorgesehenen dürftigen Mittelnaber kaum die dafür nötigen Ausrüstungsgegenstände (Fußballschuhe o.Ä.) kaufen.

Auch die Ausgabe von „personalisierten Gutscheinen“ für „Bildungs- und Teilhabebe­darfe“, etwa künstlerischen oder Nachhilfeunterricht, ist keine Lösung des Problems, weil sie einer Gängelung der Hartz-IV-Bezieher/innen durch Politiker/innen gleichkom­men, die sonst immer „Wahlfreiheit“ für die Bürger/innen fordern, sowie letztlich eine weitere Einschränkung des Handlungsspielraums von Armen darstellen. Denn wenn diese einen Gutschein im Geschäft einlösen, müssen sie sich als Transferleistungsemp­fänger „outen“. Mit der Würde des Menschen, die unsere Verfassung in Artikel 1 des Grundgesetzes zum obersten Wert erklärt, ist das genauso wenig vereinbar wie der Zwang, betteln zu gehen. Statt der sonst viel beschworenen „Eigenverantwortung“ wird für Hartz-IV-Bezieher/innen offenbar Unmündigkeit zum erklärten Ziel. Das Geld, das die Armen bekommen, reicht übrigens gar nicht aus, um einen Missbrauch im großen Stil zu befürchten, denn auch Arme müssen sich ja Kleidung und etwa zu essen kaufen.

Aufgrund des Regierungswechsels in Nordrhein-Westfalen, wo die SPD-Politikerin Hannelore Kraft bei Stimmenthaltung der LINKEN am 14. Juli 2010 zur ersten Minister­präsidentin des Landes gewählt worden war, damit Jürgen Rüttgers (CDU) abgelöst und ein rot-grünes Minderheitskabinett gebildet hatte, fand das Regelbedarfsermitt­lungsgesetz am 17. Dezember 2010 im Bundesrat keine Mehrheit. Die sehr zähen, schwierigen und langwierigen Verhandlungen des Vermittlungsausschusses von Bun­destag und Bundesrat bzw. der für Hartz IV zuständigen Bund-Länder-Arbeitsgruppe begannen kurz vor Weihnachten (mit Plätzchen, die Frau von der Leyen gebacken hatte und medienwirksam verteilte) und scheiterten in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2011, also genau ein Jahr nach der Urteilsverkündung.

Während der von Ursula von der Leyen auf der Regierungsseite und Manuela Schwesig auf Seiten der sog. A-Länder geführten Verhandlungen einigte man sich, den Empfän­gerkreis des „Bildungspaketes“ auf die Kinder der Bezieher/innen von Kinderzuschlag und Wohngeld auszuweiten und seine Organisation – wie es die SPD verlangte – nicht den Jobcentern, sondern den Kommunen zu übertragen. Zunächst war geplant gewe­sen, dass über die Vergabe bzw. Ausgestaltung der Bildungs- und Teilhabegutscheine sog. Familienlotsen in den Jobcentern entscheiden sollten, was diese zweifellos über­fordert hätte.

Dass die CDU/CSU/FDP-Koalition die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder entgegen den öffentlichen Erwartungen überhaupt nicht anheben, sie vielmehr auf Drängen der zu­ständigen Ministerin Ursula von der Leyen mit einem „Bildungs- und Teilhabepaket“ als sozialem Trostpflaster abfinden wollte, war ein weiterer sozialpolitischer Skandal. Grundsätzlich müsste stärker als bisher in unsere soziale Infrastruktur allgemein und besonders die Betreuungsinfrastruktur für Kinder investiert werden, die vor allem ge­genüber den skandinavischen Ländern einen großen Nachholbedarf aufweist. In den dortigen Gemeinschaftsschulen, die Kinder bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichten, existieren nicht bloß mehr Lehrer/innen, sondern auch Sozialarbeiter und Psychologin­nen. So kommen Aufwendungen für die Hilfe und die Betreuung auch bei den sozial benachteiligten Kindern an. Und gerade für die ist es ja besonders wichtig, dass sie in Ganztagsschulen ein warmes Mittagessen, Förderunterricht und kulturelle Angebote bekommen. Außerdem können die Eltern, besonders alleinerziehende Mütter, in jener Zeit, in der ihre Kinder betreut werden, vollzeiterwerbstätig sein und sich entsprechend quasi aus der Armut heraus arbeiten.

Darüber hinaus brauchen die sozial benachteiligten und bedürftigen Familien allerdings auch mehr finanzielle Mittel zu ihrer freien Verfügung, denn das meiste, was man bei uns zum Leben braucht, bekommt man nur gegen Bares. So zu tun, als lägen die sozia­len Defizite bloß auf dem Gebiet der Beteiligungs-, nicht aber der Verteilungsgerechtig­keit, wäre verkürzt. Denn heute ist das Geld in fast allen Lebensbereichen so wichtig wie noch nie, und es ist auch so ungleich verteilt wie noch nie. Wer die Armut bekämp­fen will, kommt an einer Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Arbeit nicht vor­bei.

Statt das „unechte“, d.h. nur von der knappen CDU/CSU/FDP-Mehrheit im Vermitt­lungsausschuss getragene Verhandlungskonzept aufgrund der dieser Koalition im Bun­desrat für eine Beschlussfassung fehlenden Stimme durchfallen zu lassen, einigten sich der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck als Verhandlungsführer der SPD-geführten Länder sowie seine beiden Amtskollegen Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt) und Horst Seehofer (Bayern) für die unionsgeführten Länder am 11. Februar 2011 kurz­fristig auf eine neuerliche Anrufung des Vermittlungsausschusses. Dessen neuerliche Verhandlungen begannen kurz darauf, standen unter der Federführung der genanntenMinisterpräsidenten und fanden diesmal unter Ausschluss der (Medien-)Öffentlichkeit statt und endeten in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 2011.

SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten eine Anhebung des Regelsatzes auf 370 EUR gefordert, konnten sich aber damit nicht durchsetzen, was die Bündnisgrünen veran­lasste, den Verhandlungstisch kurz vor Schluss zu verlassen. Es bleibt nunmehr bei der geplanten Erhöhung des Regelsatzes um 5 EUR rückwirkend zum 1. Januar 2011. Am

1. Januar 2012 soll es eine weitere Regelsatzerhöhung um 3 EUR geben. Bei diesem faulen Kompromiss handelt es sich um einen Kuhhandel auf Kosten der Hartz-IV-Betroffenen. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte (Bedarfs-)Gerechtigkeit beim Regelsatz gibt es nicht auf Raten.

Zu fragen bleibt, warum sich die Bundesregierung so schwer mit einer Anpassung der Regelsätze an die gestiegenen Lebenshaltungskosten tat. Die etablierten Parteien hal­ten seit jeher das sog. Lohnabstandsgebot hoch und interpretieren es so, dass die So­zialleistungen für Familien niedrig bleiben müssen, damit Beschäftigte mit mehreren Kindern ein höheres Einkommen haben. Deshalb werden Sozialleistungen den steigen­den Lebenshaltungskosten möglichst gar nicht oder nur sehr zögerlich angepasst. Um­gekehrt müssten die Löhne steigen, damit die Sozialleistungen nicht sinken. Die einzig richtige Konsequenz aus dem Karlsruher Urteil wäre deshalb ein allgemeiner gesetzli­cher Mindestlohn, will man dem „Lohnabstandsgebot“, das aus einer Zeit ohne breiten Niedriglohnsektor mit Hungerlöhnen stammt, Genüge tun. Denn bloß wenn das Lohn- und Gehaltsniveau stabilisiert wird, macht ein solches Postulat überhaupt Sinn, ohne dass die Menschenwürde der Sozialleistungsbezieher/innen auf der Strecke bleibt.

Schaut man genau hin, trägt der Kompromiss dem Karlsruher Urteilsspruch nicht einmal ansatzweise Rechnung. Vielmehr wird Hartz IV in Bezug auf die Grundsicherungsbe­zieher(inne)n drohenden Sanktionen, die Möglichkeit der Pauschalierung von Unterkunftskosten durch die Kommunen, die Gewährung von Darlehen, die Aufrech­nung von behördlichen Ansprüchen sogar weiter verschärft, sodass man ohne Übertrei­bung von „Hartz V“ sprechen kann. Obwohl der Eckregelsatz (für alleinstehende Er­wachsene) geringfügig erhöht wurde und Kinder nunmehr „Bildungs- und Teilhabegut­scheine“ erhalten, hat sich das BVerfG-Urteil als sozialpolitischer Pyrrhussieg erwiesen und führte der juristische (Teil-)Erfolg der Kläger/innen nicht zur Weiterentwicklung, vielmehr zu einer Bankrotterklärung des Sozialstaates.

Hierüber können auch die trotz beharrlichen Widerstandes der FDP vereinbarten Min­destlöhne in der Teil- bzw. Leiharbeit, dem Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie der Weiterbildung nicht hinwegtäuschen, denn selbst wenn es gelänge, den seit Inkrafttre­ten der sog. Hartz-Gesetze enorm gewachsenen Niedriglohnsektor etwas zurückzu­drängen, würde das den Langzeitarbeitslosen, den Sozialhilfebezieher(inne)n sowie den auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesenen (Früh-) Rentner(inne)n wenig nützen. Sie alle hätten eine Regelsatzerhöhung benötigt, die es ihnen ermöglicht, ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Literatur

Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3. Aufl. Wiesbaden 2006 Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael/Belke-Zeng, Matthias: Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland,

2. Aufl. Wiesbaden 2008 Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird,

2. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2011

Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, lehrt seit 1998 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.