Ist DIE LINKE radikal? - Fragen an Willy Brandt

27.05.2009 / Geschrieben von Thorsten Hild auf www.wirtschaftundgesellschaft.de

Der Partei DIE LINKE wird in einigen Medien eine „Radikalisierung“ ihrer Positionen vorgehalten. Des Beifalls führender SPD-Funktionäre dürfen sie sich dabei sicher sein. Doch was ist an dieser Zuschreibung wirklich dran?

Wirtschaft und Gesellschaft hat den ehemaligen und langjährigen SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzler, Willy Brandt, zu den Inhalten der LINKEN befragt.
Wirtschaft und Gesellschaft: Der Parteivorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, hat auf dem Parteitag der Liberalen gesagt: „Es macht einen Riesenunterschied für Deutschland, ob am Ende des Jahres die Linkspartei unter Oskar Lafontaine etwas zu sagen hat oder wir, die Kraft der Freiheit.“ Wird da eine linke Gefahr herauf beschworen?

Willy Brandt: Viele Bürger haben verstanden, dass Planlosigkeit in unserer Zivilisation nicht mehr für Freiheit und Liberalität steht, sondern für Mangel an Verantwortungsbewusstsein; dass die Alternative zur Planlosigkeit nicht freies Spiel der Kräfte, sondern Chaos heißt und dass ein solches Chaos mörderisch sein kann.

Wirtschaft und Gesellschaft: DIE LINKE stellt die Systemfrage, sie will den Kapitalismus überwinden und fordert einen „demokratischen Sozialismus“. Sie beruft sich dabei auch auf das Grundgesetz.

Willy Brandt: Wir haben festgestellt: Zwischen den Forderungen des Grundgesetzes und der Verfassungswirklichkeit klaffen Risse. Das weithin noch unerfüllte Verfassungsgebot von der Sozialbindung des Eigentums macht sie drastisch sichtbar. Die CDU/CSU hat in den langen Jahren ihrer Regierungsverantwortung bewiesen, dass sie mit diesem Verfassungsgebot nichts oder wenig im Sinn hatte. Eigentum muss, wo es für das Gemeinwohl notwendig ist, jenen Nutzungseinschränkungen unterworfen werden, die der Verfassung gemäß sind.

Wirtschaft und Gesellschaft: Was aber ist „demokratischer Sozialismus“?

Willy Brandt: Demokratie als gesellschaftliche Notwendigkeit zu verstehen, Sozialismus als konsequente Demokratie zu begreifen. Ob dies gelingt, davon hängt ab, ob die Zukunft der Menschheit im Zeichen der Menschlichkeit stehen wird. (Schon) unser Godesberger Programm nennt die Grundwerte des demokratischen Sozialismus: Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität.

Wirtschaft und Gesellschaft: Ist die „soziale Marktwirtschaft“ gescheitert?

Willy Brandt: Niemand, der den Marktmechanismus versteht, wird den marktwirtschaftlichen Prozess aufs Spiel setzen wollen. Doch ich habe mich andererseits dagegen gewehrt, dass mit dem Schlagwort von der sozialen Marktwirtschaft teils eine plumpe Sozialisierung der Verluste – also Kapitalismus mit beschränkter Haftung – betrieben und dieser Begriff außerdem häufig als Deckblatt für die Unantastbarkeit von Privilegien missbraucht wird.

Wirtschaft und Gesellschaft: DIE LINKE ist auch gegen den Europa-Vertrag und klagt gegen ihn vor dem Bundesverfassungsgericht. Sie sieht durch den Europa-Vertrag das im Grundgesetz fest verankerte Sozialstaatsgebot gefährdet. Missbraucht DIE LINKE damit nicht unser höchstes Gericht, um sich über den Parlamentsbeschluss für den Europa-Vertrag hinweg zu setzen? CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNE stimmten immerhin mehrheitlich für den Vertrag.

Willy Brandt: Europa darf nicht Selbstzweck sein. Unser Ziel ist nicht ein Europa der Banken und Konzerne, sondern eine Gemeinschaft, die über die wirtschaftliche Kooperation und die politische Organisation zu einer sozialen Union zusammenwächst.

Wirtschaft und Gesellschaft: Gegen den Europa-Vertrag zu sein, der ja auch den unkontrollierten Kapital- und Zahlungsverkehr festschreibt, worin DIE LINKE eine der wesentlichen Ursachen für die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise sieht, ist also nicht per se Ausdruck einer anti-europäischen Grundhaltung bzw. einer „europäischen Geisterfahrt“, wie sie die jetzt zur SPD übergetretene Linken-Abgeordnete, Sylvia-Yvonne Kaufmann, der Linkspartei vorwirft?

Willy Brandt: Auch die europäische Integration hat unmittelbar den Menschen zu dienen. Sie soll die Arbeits- und die Lebensbedingungen verbessern. Sie soll dem Anspruch der Arbeitnehmer auf messbare Fortschritte gerecht werden.

Wirtschaft und Gesellschaft: DIE LINKE fordert deswegen, dass soziale und politische Grundrechte (Streikrecht, Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit usw.) Vorrang vor den Grundfreiheiten des Marktes haben sollen.

Willy Brandt: Die sozialen Grundrechte sollen Wirklichkeit werden. Planung, Mitbestimmung und demokratische Kontrolle müssen schließlich die Qualität unserer Gemeinschaft bestimmen. Aus der Verflechtung internationaler Unternehmen ergibt sich das klare Interesse an einer Tarifpolitik, die nationale Grenzen überwindet. Es darf nicht ein Europa erster und ein Europa zweiter Klasse geben, weder regional noch innerhalb der Mitgliednationen.
Die sozialen Energien Europas, die es zu entwickeln gilt, werden auch neue demokratische Impulse wecken. Doch auf eine Automatik können wir uns nicht verlassen. Hier finden die Generationen, die jetzt die politische Verantwortung übernehmen, ihren großen Auftrag. Sie können das Europa der realen Freiheit formen, das Europa, das nun die Aufgabe leistet, an der es in der Gefangenschaft der Nationalismen, mit seinem zivilisatorischen Hochmut und seiner Nachgiebigkeit gegenüber dem Unrecht versagt hat: der Welt ein Beispiel zu geben für die Herrschaft der Vernunft über die Produktivkräfte, für die Herrschaft der Gerechtigkeit über die Egoismen der Macht, für die Herrschaft der Humanität über die Krankheit der Intoleranz.

Wirtschaft und Gesellschaft: DIE LINKE klagt auch gegen den Europa-Vertrag, weil sie befürchtet, dass er den Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr aushebelt. Sie lehnt jede Art von Militäreinsätzen ab. Ist diese Position der LINKEN nicht plumpe Fundamentalopposition, wie selbst einzelne Kritiker aus den Reihen der LINKEN behaupten?

Willy Brandt: Die großen Aufgaben, die sich die deutsche Sozialdemokratie gestellt hat, sind zugleich ihr Auftrag für Europa und in Europa: die beharrliche Arbeit für den Frieden.

Wirtschaft und Gesellschaft: Die SPD sieht in der Beteiligung deutscher Soldaten an völkerrechtswidrigen Kriegen wie im ehemaligen Jugoslawien, aktuell in Afghanistan oder mittelbar im Irak-Krieg aber kein Problem, so auch CDU/CSU, FDP und GRÜNE.

Willy Brandt: Das Grundgesetz enthält einen präzis gefassten, bindenden Auftrag an den Staat, zur Wahrung des Friedens beizutragen. In der Präambel schon ist das Friedensgebot verankert. In Artikel 1 ist von den Menschenrechten als Grundlage des Friedens die Rede. Wir haben uns mit Nachdruck zu fragen, welche friedenspolitischen Aufgaben heute vor uns liegen. Es sind vor allem zwei: Die eine besteht darin, den unvorstellbaren Wettlauf der Rüstungen zu einem Ende zu führen.

Wirtschaft und Gesellschaft: Mit Verlaub: Deutschland ist nach acht Jahren unter Führung von SPD und GRÜNEN und nach vier Jahren Regierung unter CDU/CSU und SPD drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt. Seit 2003 sind die deutschen Rüstungsexporte um 70 Prozent gestiegen.

Willy Brandt: Das energische Bemühen um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung ist schlicht ein Gebot von Vernunft und Menschlichkeit. Es hat zugleich Verfassungsrang. Die zweite friedenspolitische Aufgabe, die vor uns liegt, besteht in der Überwindung des gefahrvollen Spannungsfeldes zwischen den Industrienationen und weiten Teilen der Dritten Welt. Ein weiter wachsender Graben zwischen armen und reichen Nationen ist nicht nur moralisch inakzeptabel, er führt auch zu einer zusätzlichen Bedrohung des Weltfriedens.

Wirtschaft und Gesellschaft: Ein radikales Nein zum Krieg ist heute keine Grundlage mehr für Realpolitik sagen viele.

Willy Brandt: Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.

Wirtschaft und Gesellschaft: Ist die der Partei DIE LINKE zugeschriebene „Radikalisierung“ dann vielleicht nicht einfach dem Umstand geschuldet, dass sich Ihre Partei, die SPD, mit Hartz IV, der Agenda 2010, einer in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Umverteilung von unten nach oben und der Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen durchaus „radikal“ von ihren sozialdemokratischen Wurzeln entfernt hat?

Sie, Willy Brandt, haben 1973 immerhin noch betont: „Das Grundgesetz verwirklichen…“

Willy Brandt: „…heißt also den Sozialstaat durchsetzen, mehr Demokratie in Staat und Gesellschaft verwirklichen.“

Wirtschaft und Gesellschaft: Ja, und Sie haben fortgeführt: „Die Gesellschaft demokratisieren…“

Willy Brandt: „…heißt für uns Sozialdemokraten konkret, die Rechte der vielen stärken.“

Wirtschaft und Gesellschaft: Das könnte auch aus dem Munde Oskar Lafontaines stammen. Er zitiert in der Demokratiefrage gern den alten griechischen Demokratiebegriff des Perikles: „Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden.“

Willy Brandt: Das Recht muss gerechter werden. Dabei ist das Grundziel aller Gesellschaftspolitik jene Freiheit und Erfüllung der Individualität, die man Selbstverwirklichung nennt. Sie kann der Mehrheit unserer Bürger nur aus den Energien des Sozialstaates zuwachsen.


Wirtschaft und Gesellschaft: Eine letzte Frage zur anstehenden Bundestagswahl: Der jetzige Parteivorsitzende der SPD, Franz Müntefering, sagte 2006: „Wir werden an den Wahlversprechen gemessen – das ist unfair.“ Hat Sie das schockiert, und besteht nicht die Gefahr, dass diese politische „Kultur“ nach dem Bundestagswahlkampf wieder aufleben wird?

Willy Brandt: Eines ist unerlässlich, dass für Sozialdemokraten nach der Wahl gilt, was sie vor der Wahl gesagt haben. Hier darf nichts im Zweifel bleiben.


Interview: Thorsten Hild

Die Antworten Willy Brandts sind sämtlich zitiert aus:

„Das Grundgesetz verwirklichen, Deutsche Politik und sozialdemokratische Grundsätze. Reden von Willy Brandt, Parteitag Hannover 1973, Herausgeber: Vorstand der SPD, Abt. Öffentlichkeitsarbeit, Bonn

Willy Brandt zu 30 Jahre Grundgesetz: Der Auftrag der Verfassung heißt Frieden, in: Vorwärts, Nr. 22, Bonn, 24. Mai 1979

Willy Brandt, Nobelpreisrede, Vortrag des Bundeskanzlers Willy Brandt zum Thema „Friedenspolitik in unserer Zeit“ in der Universität Oslo am 11. Dezember 1971 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises


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