Kein Sonderfall! Die fünf Botschaften der Landtagswahlen in Hessen

22.01.2009 / Von Joachim Bischoff und Richard Detje

Normal 0 21 Hessische Verhältnisse: das steht seit dem 18. Januar 2009 nicht mehr für politische Turbulenzen bei dem Versuch eine Erneuerung der politischen Kultur und möglicher­weise gar einen Politikwechsel mehrheitsfähig zu machen. Rechtzeitig bevor die neue Weltwirtschaftskrise im Banken- und Industriestandort Hessen den Alltag umpflügt, ü­bernimmt das bürgerliche Lager die politische Macht.

Wie zuvor in Bayern sichert die FDP die Mehrheit des Bürgerblocks. Kein Zweifel: die politische Blüte der Liberalen hängt zum einen mit der Erosion der großen bürgerlichen Volksparteien CDU und CSU zusammen; zum andern wird durch diese Umschichtung die politische Vorherrschaft des bürgerlichen Lagers stabilisiert.

Die FAZ titelt daher im Wirtschaftsteil süffisant „Mit Macht zurück“ und kommentiert: „Mit der Hessenwahl hat die Mittelschicht gezeigt, dass sie sich nicht länger ungestraft mit allen (finanziellen) Zumutungen der großen sozialdemokratisch agierenden Koalition in Berlin arrangiert. Sie hat die FDP mit Macht zurück ins politische Spiel gebracht.“ (FAZ vom 20.1.2009).

Die CDU und Roland Koch werden es verkraften, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Schlappe der Wahlniederlage vom Januar 2008 wieder auszubügeln. Zwar liegt die Par­tei mit 37,2% der abgegebenen Stimmen deutlich unter der mit 40+ für erforderlich ge­haltenen strukturellen Mehrheitsfähigkeit. Sie ist in Hessen gleichwohl die mit Abstand stärkste Partei. Und sie hat mit einer von 9,4 auf 16,2% erstarkten FDP einen verlässli­chen Bündnispartner.

Beide Parteien zusammen vertreten 53,4% der hessischen WählerInnen – beachtliche sieben Prozentpunkte mehr als vor einem Jahr. Der amtierende Ministerpräsident Koch startet in eine neue politische Karriere; vergessen sind die Verwicklungen in schmutzige Finanztransaktionen der Partei, die rechtspopulistischen Ausfälle gegen die BürgerIn­nenrechte von MigrantInnen oder die Law-and-order-Parolen.

In Wahlen werden politische Mehrheits- und Machtverhältnisse entschieden, kein Preis für demokratische Tugenden ausgelobt. Die Wahlbeteiligung ist ein weiteres Mal auf nunmehr 61% gesunken – 1,7 Mio. Hessen sind gar nicht erst an die Urnen gegangen. Dass CDU und FDP zusammen nur knapp 32% der gesamten Wahlbevölkerung reprä­sentieren, stört die politischen Funktionseliten nicht, indiziert jedoch eine fortschreitende Auszehrung der politischen Repräsentationskultur dieser Republik. Die zweite Botschaft der Hessen-Wahl lautet: die wahlpolitische Absicherung eines Bürgerblocks geht mit einem beschleunigten Verfall der politischen Kultur und des politischen Systems einher.

Dass die FDP in diesem politischen Biotop – fürs erste – gedeiht, überrascht nicht. Die­se Partei versteht sich mehrheitlich als eine Klientelorganisation, für die das tagtägliche Plebiszit der Warenbesitzer auf dem Markt das primäre Beteilungsmodell ist – der sozi­alliberale Flügel, dem noch demokratischer Widerstandsgeist attestiert werden kann, ist marginalisiert (auch wenn mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine seiner Reprä­sentantInnen zur stellvertretenden Ministerpräsidentin in Bayern aufgerückt ist). Von dieser Partei ist als letzter zu erwarten, dass sie systemische Erkenntnisse aus der Kri­se des Finanzmarktkapitalismus zieht.

Die FDP wird nicht gewählt, um gesellschaftliche Integrationsprozesse in einer Zeit wachsender sozialer Spaltung zu ermöglichen. Umgekehrt: "Bereichert euch" lautet die Formel jener in der Krise radikalisierten Teile des Bürgerblocks, die es sich nun erst recht nicht erlauben können, verteilungspolitische "Opfer" zu bringen. Ganz abgesehen von dem Faktum, dass die schwarz-gelbe Koalition wegen der geringen Wahlbeteili­gung eben nicht die Mehrheit der BürgerInnen repräsentiert, kehrt mit der FDP die Poli­tik der Steuersenkungen und der Privilegierung von leistungslosem (Zins- und Vermö­gens-) Einkommen an die Macht zurück, die in besonderer Weise für die Phase der neoliberalen finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation Verantwortung trägt.

Diese Vorherrschaft des bürgerlichen Lagers ist auch ein Beleg dafür, dass die Mehr­heit der Bevölkerung die Gründe für die Weltwirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts noch nicht verstanden hat oder von den nicht-bürgerlichen Alternativen nicht überzeugt wer­den konnte.

Die politisch-gesellschaftliche Erosion der bürgerlichen Volkspartei CDU wird weiterge­hen. Als bürgerliche Sammlungspartei – wenn auch abgeschmolzen – braucht sie gera­de in der Krise den Staat in doppelter Funktion: als autoritären und als regulativen Staat. Letzteren allerdings nicht in einem wohlfahrts- oder zivilgesellschaftlichen Sinne (als Instrument der Zurückdrängung von Kapitalherrschaft), sondern als "Schutzschirm" zur Restabilisierung der bürgerlichen Ordnung, der eingeklappt wird, sobald die syste­mischen Gefahren der Finanzmarktkrise gebannt sind.

Der staatliche Zugriff auf Teile des gesellschaftlichen Reichtums wird genutzt, um die toxischen Gefahren in den Kellern der Banken zu bannen und Kapitalzuschüsse zu er­möglichen, wenn privates Kapital sich als risikoscheu erweist. Dass Letzteres als "Ver­staatlichung" bezeichnet wird, ist so falsch wie der Begriff der "Sozialdemokratisierung" der Union.

Allerdings: Die Sicherung der bürgerlichen Eigentumsordnung mündet nicht in einen status quo ante. Wann auch immer die Krise des Finanzmarktkapitalismus weitergeht: Es ist nicht die Herstellung der Ordnung vor 2007.

Und das ist die dritte Botschaft der Hessen-Wahl: Die wahl- und machtpolitische Stabili­sierung des Bürgerblocks erfolgt in ökonomischen und sozialen Verhältnissen, die nicht

– um das Bild aus der us-amerikanischen Krisendebatte aufzugreifen – "Tsunami­erprobt" sind.

Konkret: Die Verabredung von CDU und FDP, in den Bundestagswahlkampf mit dem Versprechen nachhaltiger Steuersenkungen zu gehen – die bei der "Nachbesserung" des Konjunkturpakets II schon einmal als Exempel statuiert werden sollen – ist kein Selbstläufer, wenn von Monat zu Monat die Wirtschaft um drei bis vier Prozent Jahres­rate in den Keller geht, die Arbeitslosenzahlen in heute noch nicht gedachte Größen­ordnungen ansteigen und die öffentliche Verschuldung in Progression wächst.

Sagen wir es deutlich: Der Bürgerblock überzeugt weniger durch die Fortführung des gescheiterten neoliberalen Politikkonzepts; die Trumpfkarte der Bürger ist die Zerris­senheit der Sozialdemokratie, die keinesfalls auf Hessen beschränkt ist. In Hessen ist sie nicht nur von 36,7 auf 23,7% abgestürzt. Bitterer noch: Nach dem Scheitern von Andrea Ypsilantis "Projekt Soziale Moderne", das für einige Monate so etwas wie eine Revitalisierung der SPD als Programm- und Mitgliederpartei bewirkt hatte, steht die Par­tei ohne Botschaft da.

Wahrscheinlich glaubt selbst Müntefering nicht mehr, was er zum Überdruss verkündet: dass die Themen der Zeit die der Sozialdemokratie seien. Mit dem, was an Rest sozia­ler Gerechtigkeit geblieben ist, gewinnt sie keine Wahlen, auch nicht mit einer für den Wahlkampf aufgesparten Reichensteuer. Da hätte es in den Verhandlungen um das Konjunkturpaket II mehr Einsatz bedurft: beispielsweise für die Aufstockung von Hartz IV und nicht nur des Kindergeldes (übrigens nur bis zur 9. Klasse – brauchen die Kinder der neuen Prekariats keine höheren Bildungsabschlüsse?).

Und alle Optionen auf Mehrheitsperspektiven hat sie sich selbst beraubt: Eine Reform­allianz mit dem organisierten Wirtschaftsliberalismus und den linksliberalen Bürgermi­lieu der Grünen hat noch nicht einmal den Hauch einer Perspektive. Die vierte Botschaft lautet nach Franz Walter: "Die SPD scheint vor einer scharfen Zäsur zu stehen, wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr." (Spiegel online, 19.1.09) Die Grünen hingegen haben mit ihrem guten Abschneiden in Hessen noch einmal eine Chance erhalten, sich als Oppositionskraft linksliberal zu profilieren, statt weiter – wie in Frankfurt und Hamburg – dem bürgerlichen Lager angegliedert zu werden.

Und DIE LINKE? Sie hat sich in Hessen behauptet und mit 5,4% (und annähernd den gleichen absoluten Stimmen wie vor einem Jahr) den Wiedereinzug in den Landtag ge­schafft. Nicht geschafft hat sie erstens eine Neuöffnung des politischen Systems und zweitens eine auf soziale Krisenfolgen fokussierte Prägung der politischen Auseinan­dersetzungen.

Ersteres, weil sie mit einem doppelten Problem zu kämpfen hat: mit einer zerrissenen Basis, die unter wachsendem Prekarisierungsdruck steht, und mit einem Erlahmen zi­vilgesellschaftlicher Kämpfe, die öffentlich wahrnehmbare Kritik und Ansprüche vortra­gen, die überkommenen Regeln des politischen Feldes durcheinander bringen und neue politische Akteure mit gesellschaftlichem Kapital ausstatten – also die politische Kultur verändernd wirken.

Zweitens, weil in der neuen Partei Kommunikationsprozesse offenkundig nicht funktio­nieren. In einer Zeit, in der tatsächlich Selbstverständigung, neues Denken, öffentlicher Diskurs erforderlich sind, eine angefangene Programmdebatte – die richtig verstanden nicht Programmkommissions- sondern Mitgliederdebatte ist – einzustellen, ist ein Bei­spiel dafür.

Die bevorstehenden Landtagswahlen insbesondere in Thüringen und im Saarland las­sen der Partei wenig Zeit, ihre Klärungsprozesse zu organisieren. Auch bei den Kom­munalwahlen in NRW wird vorderhand jede Menge Personal kommunalpolitisch gebun­den werden, wenn bis zu 1.000 Mandate zu besetzen sind.

Die fünfte Botschaft der Hessen-Wahl lautet: Die Linke – durchaus im umfassenderen Sinne – könnte die wahlpolitische Polarisierung aufnehmen und gegen die Steuersen­kungs- und Bereicherungs-Politik des Bürgerblocks deutlich machen, was Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums mit öffentlichen Investitionen in Bildung und Infra­struktur für eine sozial integrierende Gesellschaft heißt.