Kapitalismus – was ist das?

14.11.2008 / Von Harry Nick, Neues Deutschland

Heiner Geißler, ehemals CDU-Generalsekretär, ist zwar für die Marktwirtschaft, aber gegen den Kapitalismus. Wer ist heute nicht wenigstens gegen den »Raubtierkapitalismus«? Ist der aber der eigentliche Kapitalismus oder nur eine Missbildung?

Marx definiert Kapital als »prozessierenden Wert«, »Selbstverwertung des Werts«, bloße Plusmacherei. Der eigentliche Zweck des Wirtschaftens, die Produktion von Gebrauchswerten für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, ist im Kapitalismus nicht direkter Zweck, sondern nur Vehikel der Plusmacherei. Der Gebrauchswert interessiert nur indirekt, als Träger von Wert. Plusmacherei am Gebrauchswert vorbei wird, wo möglich, bevorzugt.

Geld am Ende und Geld am Anfang wirtschaftlichen Kreislaufs können sich nur quantitativ unterscheiden. Maßlosigkeit ist die Grundeigenschaft des Kapitals. Gier mag ja manchem Menschen per Gen eingepflanzt sein, für das Kapital ist sie objektiv systemisch. Nicht Raubtiereigenschaften sind dem Kapitalismus systemfremd, sondern Mittel und Wege, diese Bestie zu zähmen.

Kapitalismus hat also nicht die Konsumtion, auch nicht die Konsumtion der Kapitaleigner, zum Ziel, sondern deren Pendant: die Akkumulation. Und das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« ist nach Marx die Akkumulation von Reichtum auf der einen und die Akkumulation von Armut auf der anderen Seite.

Zu Recht heißt es vom Kapitalismus, dass es ihm an Plausibilität mangelt. Er kann sich nicht durch seine fundamentale systemische Eigenschaft legitimieren. Was sollte er bei dem Versuch auch sagen? »Mein Zweck ist die Geldvermehrung als Selbstzweck.« Das Kapital kann sich nur über Umwege, mit »geborgtem Geist« zu legitimieren versuchen. Der wichtigste Legitimationsversuch des Kapitalismus ist, dass die dem Geldvermehrungsmotiv »angehängte« Tendenz der Vermehrung der Gebrauchswerte und der Produktivitätssteigerung die wirksamste Triebkraft in der Geschichte sei. Eine viel wirksamere als die in den untergegangenen Planwirtschaften. In der Tat war kein sozialistisches Kraut gegen die mächtigsten Triebkräfte des Kapitals – Gier und Angst – gewachsen. Was aber, wenn Kapitalismus zur »Blasenökonomie« wird? Wenn er Geldvermehrung vorbei an realer Gebrauchswertvermehrung ermöglicht, durch Investitionen ins Geldsystem und nicht in die Realwirtschaft? Wenn er zu gesellschaftzerstörender sozialer Polarisierung führt? Wenn er Grundlagen menschlicher Existenz zerstört?

Präsentiert sich der Kapitalismus heute nicht mehr und mehr in seiner wirklichen Wesenheit? Resultiert die tiefe Beunruhigung auch der Parteigänger des Kapitalismus nicht daher, dass er die letzten Reste an Legitimität verliert; weil selbst die wackligen Beine, auf denen seine Legitimierungsversuche immer daherkommen, sichtbar einknicken? Ohne jegliche Zivilisierung des Kapitalismus kann eine Gesellschaft, kann er selber nicht existieren.

Die Frage ist, ob die heutigen Tendenzen fortschreitender »Entkleidung« der kapitalistischen Wesenheit aufgehalten und durch eine entgegengesetzte Tendenz zivilisatorischer Verkleidung abgelöst werden können. Gelingt die »Zivilisierung des Kapitalismus« nicht, kann man mit Heiner Geißler nur sagen: Weg mit ihm! Wann und wie eine solche Prophetie sich erfüllen könnte, ist ungewiss. Dass aber die von einem CDU-Finanzexperten jüngst verkündete Losung »Mehr Kapitalismus wagen!« zu den aberwitzigsten dieses Jahrhunderts gerechnet werden muss, ist schon heute gewiss.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.