Für einen praktischen Radikalismus der Linken

11.11.2008 / Wolfram Elsner∗, Klaus-Rainer Rupp∗∗, Christoph Spehr ∗∗∗, erschienen in: SOZIALISMUS 11/2008

(Auszug/ den vollständigen Text können Sie untenstehend als PDF-Datei herunterladen)

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Die Linke in den Parlamenten – Überrascht?

Die Linke ist wieder in den Parlamenten. Eine neue Situation für die alte Bundesrepublik. Und eine neue Situation für die neue Linke. Es kam - nach der brutalen Abschaffung der ‚rheinischen’ Variante des Kapitalismus (‚Sozialstaat’), v. a. durch ‚Rot/Grün’, nach den unübersehbaren ökonomischen, finanziellen, sozialen, ökologischen und moralischen Krisen, nach der unübersehbaren Zerstörung öffentlicher Handlungskompetenz und schließlich nach der Bündelung der linken Kräfte für soziale Gerechtigkeit – dann doch erstaunlich schnell, hat viele überrascht, auch die Linke selbst.

Bremen war nicht zufällig das erste alte Bundesland, in das die Linke in Fraktionsstärke in das Landesparlament gewählt wurde. Ein kleiner Stadtstaat ist in vieler Hinsicht ein Reagenzglas krisenhafter Prozesse und ein Labor für Innovationsversuche kritischer Kräfte. Das kleinste Bundesland befindet sich seit den achtziger Jahren in einer extremen öffentlichen Haushaltnotlage und hat dabei in drei ‚großen’ Koalitionen in Folge eine bleierne Zeit des Neoliberalismus, des Sozial- und Staatsabbaus und der Geldverschwendung für Beton, Pomp und Seilschaften erleben müssen, hat aber eben auch mehr als zehn Jahre einer linken kommunalpolitischen und finanzpolitischen Alternati-vendiskussion, hart an den aktuellen Entwicklungen orientiert, vorzuweisen gehabt[1].

Linke Politik als Parlamentsarbeit?

Die Position eines Parlamentsabgeordneten im politischen System der Bundesrepublik ist von sehr begrenztem Einfluss. Allerdings ist man auch nicht wirklich darauf vorbereitet, wenn ein Landesverband einer linken Partei erstmals eine Fraktion in den Landtag schicken kann. Die Frage ‚Was würden wir tun, wenn wir in dieser Situation wären, wie würden wir unsere grundsätzlichen Ziele und Ansprüche in konkretes Handeln umsetzen?’ stellen wir uns vorher kaum.

Viele meinen, man könne typische linke Ansprüche mit der Position als Parlamentarier gar nicht in Einklang bringen. Da sind zum einen die etablierten Parteien, Kapital- und Interessengruppen, die Geld- und Macht-‚Eliten’, nicht vorrangig Gewählte, aber selbsternannte ‚Auserwählte’. Sie suggerieren uns die absolute Alternativlosigkeit zu ihrem neoliberalen Kurs (der ja weder ‚neo’ ist noch, da vorrangig dem großen Kapital dienend, liberal sein kann). Jede noch so kleine Abweichung von der herrschenden Politik gilt pauschal als unmöglich, ja geradezu blasphemisch. Schon für kleinste, kosmetische Kurskorrekturen wird sogar ein SPD-Vorsitzender und ursprünglicher Kanzlerkandidat von der neoliberalen, fundamentalistischen wirtschaftlichen, politischen und medialen Einheitsfront ins Aus gemobbt.

Auch Teile der Linken und der Partei der Linken gehen davon aus, dass man als linker Parlamentarier nichts bewegen kann. Weil ja Kapitalismus ist, weil die Machtverhältnisse so sind wie sie sind und weil im Parlament die eigentlichen Entscheidungen gar nicht fallen. Man tausche nur Personal und Parteien aus, aber das System der Herrschaftsbeziehungen lasse sich dadurch nicht ändern.

In der Tat haben wir die korrumpierende Kraft des Parlamentssystems historisch und aktuell erlebt. Nicht nur als die SPD Ende des vorletzten Jahrhunderts in die Parlamente kam und in wenigen Jahren von der internationalistischen Massenpartei zur nationa-listischen kriegsbereiten Parlamentspartei mutierte. Zuletzt konnte man bei den Grünen in den neunziger Jahren verfolgen, wie Parlamentsmandate korrumpieren, wie Druck auf kritische Abgeordnete ausgeübt wird, wie sie zugleich umsorgt und umschmeichelt werden, wie sich die Persönlichkeit verändert. Plötzlich ist man wichtig, kann den ganzen Tag über Gott und die Welt reden, hat zu allem etwas zu sagen, ist begehrt bei den Medien, wird zitiert, ist mit den wichtigsten Dingen des Staates und der globalen Politik befasst, debattiert in Ausschüssen und wird protokollarisch festgehalten, bekommt Zugänge zu den Kreisen und Events der Herrschenden. Der Parlamentarismus ist ein seit mehr als hundert Jahren gut ausgeklügeltes und systematisch entwickeltes System der Korruption, Anpassung und Veränderung der Parlamentarier.

Ohnmacht, Macht und Selbstentmachtung der Parlamente

Es stimmt, dass viele Entscheidungen nicht oder nicht mehr im Parlament fallen und wenn, dann nur zugunsten der vorgegebenen Kräfteverhältnisse. Entscheidungen fallen in Koalitionsausschüssen und Regierungssitzungen, in Parlamenten werden sie in der Regel nur noch nachvollzogen. Der Erfolg außerparlamentarischer Interventionen, die durchaus häufig sind, hängt ab von der realen oder vermuteten Macht der Akteure. Wenn ein Unternehmen mit Sitz in der Stadt sagt, die Umweltzone muss geändert werden, weil die Angestellten sonst ihre Autos umrüsten müssen, dann findet das Berücksichtigung. Wenn Hartz-IV-Empfänger sagen, der Heizkostenzuschuss muss an die realen Heizkosten angepasst werden, hat das (noch) keinen Effekt.

Trotzdem darf die Macht von Parlamenten nicht unterschätzt werden. Ohne parlamentarische Beschlüsse geht gar nichts, nur durch sie entsteht Gesetzeskraft. Rein formal sind Parlamente in der Lage, wichtige und weitreichende Entscheidungen zu fällen, und sie könnten selbst Machtkämpfe mit den mächtigen etablierten Interessen führen, wenn sie von anderen Gruppen dabei unterstützt werden.

Gerade in den Jahren seit Beginn der ‚rot-grünen’ Koalition im Bund, haben Parlamente sich in hohem Maße selbst handlungsunfähig gemacht. Dies ist eine andere Situation, als sie in den 60er und 70er Jahren bestand. Parlamente schränken heute ihren Hand-lungsrahmen ständig selbst ein. Sie befinden sich mit ihrer Politik notwendigerweise -quasi systemisch bedingt - auf der Flucht vor der Demokratie, auf der Flucht vor ihren tatsächlich bestehenden Möglichkeiten, auf der Grundlage gesellschaftlicher Kräfte- und Meinungsverhältnisse weitreichende Entscheidungen zu treffen.

Die politischen ‚Blutgruppen’ der Linken

Das Spannungsverhältnis zwischen der potentiellen Macht der Parlamente und ihrer Selbstverweigerung, diese Macht auszuüben, wird von der Linken meist wenig beachtet. Das hängt oft damit zusammen, dass Linke dazu neigen, Widersprüche schematisch aufzulösen, weil sie nicht darin geübt sind, sie bewusst zur Kenntnis zu nehmen und produktiv mit ihnen umzugehen (wohl aber darin, die daraus resultierende Frustra­tion auszuhalten). Wenn in konkreten Kräfteverhältnissen Politik gemacht wird, sehen typische Widersprüche so aus:

A und B sind so etwas wie die Blutgruppen linker Politik. Wer sich nur an A hält, kann alles kritisieren, aber wenig verändern. Zwar führt außerparlamentarischer Protest, wenn er denn stark genug ist, sehr wohl zu Änderungen in der Politik. Wer aber nur den Protest organisiert, überlässt es den etablierten Kräften, was daraus gemacht wird - ob nur ein paar modifizierende Änderungen eingebaut werden, oder ob die Veränderungen darüber hinausgehen. Auch kann außerparlamentarischer Protest nur erfolgreich mobilisiert werden, wenn er sich auf konkrete Forderungen richtet. Hierfür sind linke Wahlprogramme und Analysen in der Regel nicht konkret genug. Sie haben nicht den Charakter umsetzbarer Vorlagen, sie können viele konkrete Probleme des Politikvollzugs nicht berücksichtigen, und natürlich sind sie nicht, wie das Zauberwort der typischen Ausschussvorlage heißt, ‚abgestimmt’ mit der Verwaltung, mit anderen Ressorts oder relevanten Institutionen. Sie konzentrieren sich auf die Analyse und auf die grundsätzli-che Richtung, die man nicht 1:1 in konkrete Politik umsetzen kann. Eine reine Politik der Blutgruppe A organisiert sich daher die eigene Frustration - beziehungsweise die Bestätigung des Vorurteils, dass man im bestehenden Rahmen nichts machen kann.

Wer sich dagegen nur an B hält, kann ‚mitreden’, aber nichts wirklich anders machen. Der Anspruch der politischen Opposition kommt abhanden, weil man unter allen Umständen ‚anschlussfähig’ sein will. Man hört nach und nach auf, etwas zu wollen, was nicht in die herrschende Politik passt, denn damit würde man sich isolieren und vermeintlich alles verspielen. Man will ‚konstruktiv’ sein, denkt in Koalitionen und formalen ‚Mehrheiten’, man denkt vorschnell an Regierungsbeteiligung, aber häufig ohne reale Veränderungsmöglichkeiten. Man will endlich zeigen, dass die Linken es besser können, dass sie solidere, professionellere Arbeit machen, den Staat handlungsfähig erhalten oder erst wieder machen, dass sie ernst zu nehmen sind, verlässliche Partner. Da kommen dann gespenstische Diskussionen innerhalb der Linken auf, die zeigen, wie schnell sich manche auf plattes Alltagsbewusstsein herunter-‚kompromissen’ lassen, z.B. auf eine abstrakte Solidität das Staatshandelns, wonach ein guter Staatshaushalt vor allem einer ist, der keine Schulden aufnimmt und dafür ordentlich an den Sozialausgaben spart.

Dem Spannungsverhältnis, den Widersprüchen entgeht man nicht, und das ist auch gut so. Die Praxis lehrt also, dass es eine Blutgruppe AB geben muss, Systemkritik und Interessenvertretung, grundsätzliche Alternativen und konkrete Schritte. Aber wie geht das?

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∗) Wolfram Elsner, Professor für Volkswirtschaft, Strukturforschung und Wirtschaftspolitik, Universität
Bremen. 1986-89 Leiter der Wirtschaftsförderung einer Großstadt, 1989-95 Leiter der Planungsabteilung eines Wirtschaftsministeriums, 1991-2000 Beauftragter für Rüstungskonversion
in Bremen.
∗∗) Klaus-Rainer Rupp, Diplomingenieur, Verfahrenstechniker, seit 1984 Inhaber eines Ingenieurbüros
für Steuerungs- und Automatisierungstechnik. 2000-2007 Landesvorsitzender der PDS, dann der LINKEN, in Bremen, seit 2007 Abgeordneter in der Bremischen Bürgerschaft, stellvertretender Fraktionsvorsitzender.
∗∗∗) Christoph Spehr, Sozialwissenschaftler, Autor. Seit 1993 Redakteur der Zeitschrift „alaska“, seit 2000 Tätigkeiten und Veröffentlichungen für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. 2006-2007 Parteibildungsbeauftragter
bei der LINKEN in Bremen, seit 2007 Mitarbeiter bei der Fraktion.
1 siehe z. B. W. Elsner: Industriepolitik und neoliberales Sanierungs-Regime im Stadtstaat. Die Freie Hansestadt Bremen, in: W. Krumbein, A. Ziegler (Hg.), Perspektiven der Technologie- und Innovationsförderung in Deutschland, Reihe ‚Standortdebatte’, Marburg 2005, 224-257.