Zu viele Menschen nahezu chancenlos am Arbeitsmarkt

Diakonie Sachsen fordert öffentlich geförderte Arbeit

12.11.2013 / www.diakonie-sachsen.de, 08.11.2013

Mehr als 435.000 Menschen in Deutschland sind so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf einen regulären Arbeitsplatz gegen Null gehen. In Sachsen haben mindestens 28 000 Personen auch mittelfristig keine Chancen mehr auf dem normalen Arbeitsmarkt. Das haben Wissenschaftler des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz ermittelt. Die Studie wollte wissen, wie groß die Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung ist.

„Diese Menschen dürfen nicht vergessen werden. Ein Sozialer Arbeitsmarkt ist notwendig, um den Betroffenen und ihren Familien Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, anstatt sie auf Dauer zu isolieren. Langzeitarbeitslose Menschen müssen durch öffentliche Förderung wieder eine Perspektive erhalten. Die Politik sollte Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Mit dem Finanzierungskonzept des Passiv-Aktiv-Transfers wäre dieser soziale Arbeitsmarkt umsetzbar“, fordert Christian Schönfeld, Chef der Diakonie Sachsen.

Seit Jahren kritisieren Wohlfahrtsverbände, dass die Förderung von (Langzeit-)Arbeitslosen immer weiter reduziert wurde – stets mit dem Verweis auf die steigende Zahl Erwerbstätiger. Doch der Aufschwung kam nicht bei allen an und es bleibt ein Kreis von Arbeitslosen, die so „arbeitsmarktfern“ sind, dass sie kaum Perspektiven auf einen regulären Arbeitsplatz haben.

Doch wie groß der Personenkreis der „Arbeitsmarktfernen“ überhaupt ist, war bislang unklar. Diese Lücke schließt nun eine Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz. Das Ergebnis: Über 435.000 Menschen in Deutschland gelten als arbeitsmarktfern und können damit zur Zielgruppe für öffentlich geförderte Beschäftigung gezählt werden. Grundlage der Berechnungen ist das jährlich durchgeführte Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), für das mehr als 15.000 Personen in 10.000 Haushalten befragt werden.

Kaum Chancen am Arbeitsmarkt: Wann ist ein Arbeitsloser arbeitsmarktfern?

„Arbeitsmarktferne“ Menschen mit extrem geringen Chancen am Arbeitsmarkt definieren die Wissenschaftler dabei als Arbeitslosengeld II-Bezieher im Alter zwischen 26 und 60 Jahren, die zum Befragungszeitpunkt und auch in den vorherigen drei Jahren überwiegend (mehr als 90 Prozent der Zeit) nicht gearbeitet haben. Haben diese Personen zusätzlich noch mindestens vier so genannte „Vermittlungshemmnisse“, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren können, zählen sie zu der Zielgruppe. Die Studie identifiziert neun zentrale Hemmnisse, wie gesundheitliche Einschränkungen oder ein fehlender Schul- und Ausbildungsabschluss. Die betrachteten Personen haben durchschnittlich 2,6 Hemmnisse und mehr als 22% der Personen haben vier oder mehr Vermittlungshemmnisse.

Diese Eingrenzung sei äußerst restriktiv, erklärt Prof. Dr. Stefan Sell. Zahlreiche persönliche Vermittlungshemmnisse, beispielweise das äußere Erscheinungsbild oder Suchtverhalten seien statistisch auch mit dem PASS nicht zu erfassen. Die Zahl von mehr als 435.000 Personen sei daher als absolute „Untergrenze potenzieller Teilnehmer für öffentlich geförderte Beschäftigung“ zu verstehen, denen mit dem Sozialen Arbeitsmarkt ein freiwilliges Angebot gemacht werden könnte.

Soziale Teilhabe und Arbeitsmotivation

Neben der Größe des für öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen infrage kommenden Personenkreises untersuchten die Forscher auch den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Sozialer Teilhabe. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Beschäftigungslose sich weniger als Teil der Gesellschaft fühlen. Arbeitslosigkeit führe also zu einer wahrgenommenen gesellschaftlichen Ausgrenzung. Dieses Gefühl werde zudem stärker, je länger die Menschen ohne Arbeit sind.

Hinzu komme, dass Arbeit für Beschäftigungslose einen hohen Stellenwert einnehme. Der Aussage: „Arbeit zu haben ist das wichtigste im Leben“ stimmen sie sogar deutlich stärker zu als Beschäftigte, heißt es in der Studie. Von einer mangelnden Motivation, eine Arbeit aufzunehmen, könne also nicht gesprochen werden, so die Wissenschaftler. Vielmehr zeigten Beschäftigungslose sogar eine höhere Arbeitsmotivation als die erwerbstätige Bevölkerung. Und auch von einem Einrichten in der Arbeitslosigkeit könne keine Rede sein, denn „mit zunehmender Dauer der Beschäftigungslosigkeit nimmt die Arbeitsmotivation nicht ab, sondern bleibt auf hohem Niveau“.

Arbeitsmarktpolitik für „Arbeitsmarktferne“: Exklusion oder Inklusion?

Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitsbereitschaft und der gesellschaftlichen Exklusion, die die Arbeitsmarktfernen erleben, ginge es bei der Diskussion um das Für und Wider eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors daher in erster Linie um die Frage, ob eine „teilhabeorientierte Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik“ gewünscht sei oder man den „harten Kern der Langzeitarbeitslosen im passiven Transferleistungsbezug auf Dauer stilllegen“ wolle, argumentieren die Wissenschaftler. Diese Frage sei auch deshalb von höchster Brisanz, weil in den Haushalten der arbeitsmarktfernen Personen über 300.000 Kindern leben, die von der Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern betroffen sind.