Flucht-Umlage und europäische Investitionsoffensive

Eine solidarische Antwort auf die Flüchtlingsfrage in der EU - Von Katja Kipping und Bernd Riexinger

12.11.2015 / die-linke.de, 09.11.2015

"Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Frei-seins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war. Auch für das Handeln, in dem menschliche Freiheit in der Welt primär erfahren wird, ist Bewegungsfreiheit die unabläßliche Bedingung." (Hannah Arendt)

Die Fluchtbewegungen haben uns in Bezug auf die EU zweierlei sehr deutlich vor Augen geführt. Erstens hat die EU angesichts eines Grenzregimes, das auf der Verabredung zum Sterbenlassen aufbaut, angesichts des Massensterbens im Mittelmeer und der hungernden und frierenden Flüchtenden auf der Balkanroute endgültig ihre Maske fallen gelassen. So wie die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 mit Panzern zur moralischen Bankrotterklärung des real existierenden Staatssozialismus wurde, so attestiert der Umgang der EU mit den Flüchtenden den moralischen Bankrott der real existierenden EU. Wer nun allerdings meint, der Rückzug in die nationale Wagenburg oder die Aufkündigung der europäischen Integration seien die passenden Reaktionen darauf, irrt. Denn gerade die Flüchtlingsfrage unterstreicht die Notwendigkeit vertiefter transnationaler Zusammenarbeit. Die viel beschworene nationale Souveränität ist keine Entschuldigung für das Missachten von Menschenrechten. Gerade anhand der Flüchtlingsfrage wird deutlich, wie illusionär die Vorstellung ist, die großen Menschheitsfragen seien noch innerhalb des nationalen Tellerrandes zu bearbeiten.

Europa in den letzten Jahren der Krise und neoliberaler Austeritätspolitik zu einem Europa verschärfter sozialer, wirtschaftlicher und politischer Spaltungen geworden. Die wirtschaftliche und soziale Krise in Europa und die verheerende Austeritätspolitik haben nicht nur die gesellschaftlichen Bedingungen für die Akzeptanz von Geflüchteten verschlechtert und dem Rechtspopulismus in vielen Ländern Auftrieb gegeben. Sie haben auch die Mittel des Staates verschlechtert, angemessen auf Herausforderung der Aufnahme von Flüchtlingen reagieren zu können. Wir erleben in den provisorischen Flüchtlingslagern und fehlender sozialer und medizinischer Betreuung vielerorts einen durch jahrelange neoliberale Politik versuchsachten Notstand.

Als es darum ging die neoliberale Dreifaltigkeit von Sozialkürzungen, Privatisierungen und Schwächung der Rechte von Beschäftigten in Südeuropa entgegen aller volkswirtschaftlicher Vernunft durchzudrücken, da zeigte die deutsche Regierung ihre ganze Stärke und ihre Fähigkeiten im Erpressen. Merkel und Schäuble wussten bei diesen Erpressungen die osteuropäischen Mitgliedsstaaten, in denen nach der politischen Wende der Neoliberalismus ohne Abfederung auf die Gesellschaft einwirken konnte, da mögliche Gegenspielerinnen und Gegenspieler wie Sozialverbände, Gewerkschafen oder linke Parteien schlecht aufgestellt waren, verlässlich an ihrer Seite. Jetzt, wo es darauf ankommt, ein Mindestmaß an Menschlichkeit und humanitärer Verantwortung gegenüber Flüchtenden innerhalb der EU durchzusetzen, versagt die Durchsetzungsfähigkeit der Regierung Merkel. Die Einigung über eine mögliche Aufteilung der Flüchtenden in der EU will einfach nicht gelingen. Daran ist die deutsche Regierung selber mit schuld. Immerhin tat sie jahrelang das ihrige, um innerhalb der EU einen Umgang mit Flüchtenden hoffähig zu machen, der davon ausging, dass möglichst andere das Problem bearbeiten sollen. Deutschland hat in diesem Rahmen schon seit Jahren die Aufgabe der Aufnahme von geflüchteten Menschen im wahrsten Sinne des Wortes auf die südlichen EU-Staaten abgeschoben. Wer selber jahrelang in dieser Frage nationalen Egoismus pflegte, ist nicht besonders glaubwürdig, wenn er auf einmal europäische Solidarität einfordert.

Das Dublin-System, wonach Flüchtende in dem Land verbleiben und registriert werden, in dem sie als erstes EU-Boden betreten, hat besonders Länder mit EU-Außengrenzen wie Griechenland und Italien gefordert. Dieses System ist gescheitert. Zumal gerade diese Länder die Aufgaben schlichtweg nicht mehr bewältigen können. Ein Problem, das durch die Auflagen der Troika zum Personalabbau in Griechenland noch verschärft wurde.

Eine EU-weite solidarische Lösung sollte von drei Prämissen ausgehen. Erstens dass es sich hier um eine europäische Gemeinschaftsaufgabe handelt, an deren Lösung sich alle Mitgliedsstaaten zu beteiligen haben. Zweitens dem Recht der Flüchtenden, selber zu entscheiden, in welchem Land sie entweder vorrübergehend Schutz suchen bzw. sich mittelfristig niederlassen wollen. Schließlich will man ja niemanden zwingen in Ungarn oder anderswo, wo Menschenrechtsverletzungen auf der Tagesordnung stehen, Asyl zu beantragen. Auch kann es fürs Ankommen, bei Jobsuche und bei der Suche nach einer Bleibe hilfreich sein, wenn sich Flüchtende dort niederlassen, wo sie bereits Menschen kennen. Drittens: zwischen Nord-, Süd- und Osteuropa bestehen nicht die gleichen Voraussetzungen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Diese Voraussetzungen werden durch die Kürzungspolitik in Europa untergraben, sie müssen durch staatliche Investitionen erst geschaffen werden. Die Frage EU-weiter solidarischer Lösungen ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit in Europa: die Reichen und Vermögenden, die in der Krise immer reicher geworden sind, müssen die Lasten tragen.

Um diesen beiden Ansprüchen gerecht zu werden, muss ein Verteilungsschlüssel ermittelt werden, die die jeweiligen nationalen Bevölkerungszahlen und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit berücksichtigt und die errechnen kann, wie hoch der Anteil der jeweiligen EU-Mitgliedstaaten wäre.(1)

Nicht alle Staaten nehmen entsprechend viele Flüchtende auf und das aus unterschiedlichen Gründen - entweder weil weniger Flüchtende dort bleiben möchten, oder weil einige Staaten sich weigern, ihrer humanistischen Verantwortung nachzukommen. Um damit umzugehen schlagen wir eine Flucht- Umlage vor. Diese Idee nimmt Anleihen an dem Konzept der Ausbildungsplatzumlage, welches in Gewerkschaftsjugenden vertreten wird. Der Ausbildungsplatzumlage zufolge sollen Unternehmen ab einer bestimmten Größe, die nicht ausbilden, in einen Fonds einzahlen, der Unternehmen zu Gute kommt, die ausbilden. Die Mitgliedsstaaten, die nicht die entsprechende Zahl von Flüchtenden bei sich aufnehmen, müssen jährlich entsprechend große Ausgleichsummen bezahlen. Diese Summe muss so bemessen sein, dass sie den tatsächlichen Kosten einer guten Flüchtlingsunterbringung und -versorgung entspricht. Von Seiten einiger Bundesländer wurde in den Finanzverhandlungen zwischen Bund und Ländern die Zahl von 1000 Euro im Monat ins Gespräch gebracht. (Diese Summe ergibt sich aus Unterkunftskosten, Sozialleistung, Krankenversicherung und anteilige Kosten Verwaltung).

Die Pflicht zur Ausgleichzahlung besteht unabhängig davon, ob die Staaten weniger Flüchtende bei sich aufnehmen, weil sie keine aufnehmen wollen oder weil kaum ein Flüchtender in dem Land bleiben will. Diese Ausgleichzahlungen gehen an die Länder, die mehr Flüchtende aufnehmen. Man ahnt, dass Länder, die dafür bekannt sind, Geflüchtete schlecht zu behandeln, zukünftig hohe Ausgleichzahlungen begleichen müssen, da sich auch unter den Flüchtenden rumspricht, wo sie menschenwürdig behandelt werden.

Der Vorteil einer solchen Regelung liegt auf der Hand: Heute zahlen vor allem die EU-Mitgliedsstaaten, die mehr Flüchtende aufnehmen. Wer auf Abschreckung setzt, beteiligt sich insofern kaum. Diese Mechanik setzt einen unmenschlichen Abschreckungs-Wettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten in Gang, jeweils im eigenen Land Geflüchtete schlechter zu behandeln, damit die Flüchtenden schnellstens andere Länder aufsuchen.

Bei einer Flucht-Umlage hingegen sind alle Mitgliedsstaaten an den Kosten beteiligt. Hinzukommt, dass Länder, in denen sich mehr Flüchtende niederlassen wollen, letztlich einen volkswirtschaftlichen Vorteil haben. Da das Geld, das an die Flüchtenden als Sozialleistung ausgezahlt wird (und an dessen Finanzierung alle Staaten beteiligt sind) ja vorrangig vor Ort ausgegeben wird, kurbelt es die Nachfrage in den Ländern an, die Flüchtende besonders gut behandeln.

Zugleich müssen mit der Flucht-Umlage die Voraussetzungen einer sozial gerechten Aufnahme geschaffen werden. Es braucht erstens ein EU-weites Investitionsprogramm in die soziale Daseinsfürsorge, das die gesellschaftlichen Bedingungen für Integration schafft und zugleich die Lebensbedingungen für alle Menschen in Europa verbessert, einen Beitrag zur Bekämpfung gestiegener Armut und Ungleichheit in Europa leistet: 100 Milliarden Investitionen in den Ausbau von Schulen, Kitas, Krankenhäusern und die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für alle Menschen. Zweitens müssen die Reichen und Vermögenden die Lasten tragen: durch eine Vermögensabgabe auf Privatvermögen über einer Millionen Euro.

Anmerkung
(1) Die Europäische Kommission hatte einen entsprechenden Verteilungsschlüssel bereits im September 2015 für die Notumsiedlung von 120.000 Geflüchteten ins Gespräch gebracht.