Die Frage »Wer bekommt wieviel vom gesellschaftlichen Reichtum?« sollte für die Gewerkschaften im Zentrum stehen. Anstatt auf eine große Koalition zu spekulieren, könnten sie mit Hilfe der Linkspartei einen Politikwechsel einfordern
In getrennten Interviews plädierten vor wenigen Wochen der DGB-Vorsitzende Michael Sommer und der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber mehr oder weniger direkt für eine Wiederauflage der großen Koalition. Zwei wichtige Gewerkschaftsführer zeigen der Öffentlichkeit, daß sie keinesfalls gewillt sind, ihre Organisationen für einen Politikwechsel im Bundestagswahljahr 2013 zu mobilisieren, sondern daß sie mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin und der SPD als Juniorpartnerin durchaus leben können. Insbesondere Huber drückt damit aus, daß seine Organisation mit der Politik der großen Koalition ganz gut durch die größte Krise der Nachkriegsgeschichte gekommen ist, mit Hilfe insbesondere der Verlängerung der Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld und der Abwrackprämie, was die Basis für zahlreiche innerbetriebliche Bündnisse bildete.
In Wirklichkeit sind Millionen Menschen nicht gut durch die Krise gekommen. Über acht Millionen Menschen müssen im Niedriglohnbereich arbeiten, davon 1,5 Millionen unter fünf Euro die Stunde. Prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit, Befristungen, Minijobs, unfreiwillige Teilzeitarbeit bzw. Werkverträge dehnen sich krebsartig aus. Die Tarifbindung der ostdeutschen Beschäftigten ist unter 40 Prozent und der westdeutschen unter 60 Prozent gefallen. Relativ gut durch die Krise sind also, wenn überhaupt, die »Kernbeschäftigten« der gut verdienenden Industrie und der noch besser verdienenden Exportindustrie gekommen. Offensichtlich denkt Huber, daß er dies im voraussichtlichen Krisenjahr 2013, indem doch erhebliche Gefahren durch die nicht bewältigte Euro-Krise und die auch in Deutschland nachlassende Konjunktur drohen, im Bündnis mit einer großen Koalition wiederholen kann. Wenn er sich da nur nicht täuschen wird.
Offensichtlich haben sich sowohl Huber als auch Sommer entschieden, nicht mehr die Interessen der gesamten »Arbeiterklasse«, also auch der prekär Beschäftigten, Erwerbslosen sowie Rentnerinnen und Rentner in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Politik zu stellen. Damit wächst jedoch die Gefahr, nur noch als Interessenvertreter einer kleiner werdenden Gruppe von tariflich gebundenen Kernbelegschaften wahrgenommen zu werden.
Eine Erklärung dafür lieferte IGM-Chef Huber, der zu später Stunde in einem Interview sagte: »Die (spanischen) Metallgewerkschaften haben in erster Linie den Reallohnausgleich als Sinn und Zweck ihrer Tarifpolitik gesehen. (…) Damit haben die spanischen Gewerkschaften ihren Vorteil verspielt, daß sie nämlich billiger als die deutsche Industrie waren.« Trefflicher kann man nicht ausdrücken, daß statt europäischer oder gar internationaler Solidarität Wettbewerbskorporatismus angesagt ist. Vermeintlich erhofft man, von der Exportstärke der Metallindustrie zu profitieren und mehr als andere für die eigenen Mitglieder herausholen zu können.
Kurzfristig mag das stimmen, mittelfristig und langfristig geht diese Politik jedoch in die Hose, von den sozialen und politischen Folgen einmal ganz zu schweigen. Schon jetzt kommen die Einschläge der wirtschaftlichen Krise in Europa näher und treffen mehr und mehr Betriebe, die darauf mit Standortschließungen, Sparprogrammen und Arbeitsplatzvernichtung reagieren (Opel, Siemens, MAN usw.). Unter gewerkschaftlichen und gewerkschaftsnahen Ökonomen gibt es keinen Zweifel, daß die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Ländern und Regionen eine Ursache für die »Schuldenkrise« sind. Deutschland trägt mit seinen immer noch wachsenden Exportüberschüssen, gestützt auf eine geringe, wenn nicht gar stagnierende Lohnstückkostenentwicklung erheblich zu diesen Ungleichgewichten bei. Sinkende Reallöhne in einem politisch gewollten, extrem gespaltenen, auseinanderdifferierenden und deregulierten Arbeitsmarkt sind neben einer hochproduktiven und weltmarktorientierten Industrie eine wesentliche Basis für diese Entwicklung.
Die Gewerkschaften wurden und werden erheblich geschwächt. Es ist fast nicht möglich und aus gewerkschaftlicher Sicht auch riskant, z.B. befristet Beschäftigte zum Streik aufzurufen. Im Einzelhandel, aber auch durchaus in anderen Branchen sind längst 20 bis 30 Prozent der Beschäftigten in befristeten Arbeitsverhältnissen. Unter diesen Bedingungen ein Kaufhaus oder eine größere Lebensmittelfiliale lahmzulegen, ist mehr als schwer. Ähnlich verhält es sich mit Beschäftigten im Rahmen von Werkverträgen. Auch Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter sind schwer zu organisieren und zu mobilisieren. Bei der Modekette H&M etwa wurden diese in der letzten Tarifauseinandersetzung systematisch als Streikbrecher eingesetzt. Als Lohnbremse funktioniert weiterhin Hartz IV. Die Hartz-Gesetze bedeuten nicht nur Armut per Gesetz, sie richteten sich nie ausschließlich gegen Erwerbslose, sondern wurden immer als Disziplinierungspeitsche gegenüber den Beschäftigten eingesetzt.
Die Gewerkschaften haben hier eine doppelte Aufgabe. Sie müssen einerseits die Beschäftigten im Niedriglohnbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen (viele sind auch an der Nahtstelle zur prekären Beschäftigung) besser gewerkschaftlich organisieren. Gleichzeitig müssen sie mit ihnen betriebliche und tarifliche Kämpfe um die Regulierung ihrer Arbeitsverhältnisse und höhere Löhne führen. Das ist nicht einfach, aber möglich, wie viele Kämpfe in den letzten Jahren bewiesen haben, so im Reinigungsgewerbe, im Einzelhandel, im öffentlichen Dienst, bei Servicediensten in Flughäfen oder auch im Bewachungsgewerbe. Die Gewerkschaften müssen sich von ihrer immer noch viel zu stark ausgeprägten Orientierung auf die Kernbelegschaften lösen und deutlich mehr Ressourcen zur Organisierung der anderen Bereiche, die längst keine Randgruppen mehr sind, einsetzen. Gleichzeitig müssen die Kernbelegschaften im eigenen Interesse für die Kämpfe um die Regulierung der Arbeitsbeziehungen gewonnen werden.
Andererseits müssen die Gewerkschaften auf dem politischen Feld für die Reregulierung auf dem Arbeitsmarkt kämpfen. Gerade im Bundestagswahljahr heißt das für die Gewerkschaften, in den Betrieben und auf der Straße Flagge zu zeigen und für den gesetzlichen Mindestlohn, für ein Zurückdrängen der Leiharbeit und übergangsweise Equal Pay, erweiterte Mitbestimmungsrechte bei Werkverträgen, Verbot von Minijobs wie für eine sanktionsfreie Mindestsicherung usw. machtvoll zu mobilisieren. Es gleicht dem Hase-und-Igel-Spiel, wenn sich die Gewerkschaften auf Betriebs- und Tarifpolitik beschränken. Verbunden mit außerparlamentarischer Mobilisierung könnten die Gewerkschaften klare Anforderungen an alle Parteien stellen und so starken Druck aufbauen. Das würde mehr bewirken, als im Kanzleramt ein- und auszugehen.
Die linken Kolleginnen und Kollegen bei der IG Metall sollten den Druck auf ihre Organisation, sich an dieser Kampagne zu beteiligen, entschieden erhöhen oder sich dafür einsetzen, daß ihre Basisorganisationen sich vor Ort beteiligen. Auch die Mitglieder der IGM sind Patienten, Benutzer des ÖPNV, ihre Kinder besuchen Kindertagesstätten oder Schulen, ihre Eltern müssen gepflegt werden. Kurz: Der Zustand der öffentlichen Daseinsvorsorge und der öffentlichen Infrastruktur entscheiden auch über ihre Lebensqualität. Sollte hinter der Zurückhaltung der IGM-Führung die Absicht stehen, dadurch eine bessere Verhandlungsposition mit einer möglichen großen Koalition für irgendwelche Konjunkturmaßnahmen (neue Form von Abwrackprämien oder ähnliches) zu bekommen, wäre das eine verheerende politische Fehlentscheidung, bei der erneut Sonderinteressen über die Gesamtinteressen gestellt werden.
Leider hat das Bündnis bisher versäumt, eine größere Dynamik in die Kampagne »Umfairteilen« zu bringen. Nach einem unter den bestehenden Bedingungen leidlich gelungenem Auftakt Ende September dümpelt die Kampagne doch etwas vor sich hin. Die Abstände zwischen den Aktionstagen sind zu groß, und es fehlt irgendwie der Pep. Es muß zum Ausdruck kommen, daß hier mit den Forderungen ernstgemacht wird und es keinesfalls am Willen fehlt, den dafür nötigen Druck zu machen. Positiv ist, daß für das nächste Jahr bereits dezentrale Aktionstage geplant sind und auch an eine Großdemonstration vor den Wahlen gedacht wird. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß bei einer solchen Demonstration in Berlin oder gleichzeitig in mehreren Großstädten weit über 100000 Teilnehmer mobilisiert werden können, wenn jetzt schon klare Signale ausgesendet werden und die Kampagne vor Ort, in den Betrieben und Verwaltungen, umgesetzt wird.
Der Kampf um die Umverteilung kann die Gewerkschaften wieder stärker in die Offensive bringen. Ohne Politisierung der Mitglieder und ohne ernsthafte Mobilisierung ist das jedoch nicht zu haben. Gerade hier könnten auch die SPD und die Grünen unter Druck gesetzt werden. Auf dem Feld der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums findet der Lackmustest statt, ob die ganze Hinwendung zu einer sozial gerechteren Politik, für Mindestlohn usw. wirklich ernstgemeint ist oder wie so oft lediglich wahlstrategischen Charakter hat. Anstatt auf eine große Koalition zu spekulieren, könnte mit Hilfe der Linkspartei ein tatsächlicher Politikwechsel eingefordert werden.
– Entgrenzung der Arbeitszeit, insbesondere bei den qualifizierteren Tätigkeiten und im Angestelltenbereich, befördert durch die vor über 20 Jahren eingesetzte Flexibilisierung der Arbeit und durch Methoden der indirekten Steuerung. Hier wird im Kern durch Anhäufung von Gleitzeitguthaben oder Arbeitszeitkonten die Arbeitszeit verlängert – durchaus nicht immer bezahlt.
– Auch bei vielen Beschäftigten im Niedriglohnbereich steigt die Arbeitszeit, getrieben von den sinkenden Reallöhnen und der Notwendigkeit, durch Überstunden oder einen Zweitjob das Einkommen aufzubessern.
– Gleichzeitig wächst die strukturelle Unterbeschäftigung, also unfreiwillige Teilzeit, Mini- und Midijobs. Sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, daß nach wie vor die gesellschaftliche Arbeitsstundenzahl fällt. Millionen Menschen würden gern länger arbeiten, bekommen jedoch nur Teilzeitjobs oder geringfügige Beschäftigung angeboten, von der sie nicht leben können. Praktisch haben wir es hier mit einem permanenten Prozeß von Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich zu tun.
Zudem dürfen wir nicht vergessen, daß die Rente erst ab 67 eine weitere Niederlage auf dem Feld der Arbeitszeitpolitik darstellt, eben die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Ebenfalls dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, daß die Massenarbeitslosigkeit noch lange nicht beseitigt ist. Wenn wir die vielen statistischen Korrekturen, die jedes Mal die Arbeitslosigkeit »sinken« ließen, herausrechnen, sind immer noch mehr als 4,5 Millionen Menschen erwerbslos. Bereits Ende des Jahres 2012 begannen erste Konzerne, die Vernichtung von Arbeitsplätzen anzukündigen, wie Siemens, Daimler, Metro, Zwangsurlaub bei MAN, Reduzierung der Schichten bei VW usw. Das sollte Anlaß für eine erneute Debatte zur Umverteilung von Arbeitszeit durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sein. Auch bei der erneuten Debatte um die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes handelt es sich ja um eine subventionierte Form der Arbeitszeitverkürzung. Es wird jedoch davon ausgegangen, daß sich die Kapazitätsauslastung wieder verbessern wird und zur »Normalität« zurückgegangen werden kann. Tatsächlich zeigt das Beispiel Opel, aber auch zwischenzeitlich Ford und Peugeot, daß in der Automobilindustrie gewaltige Überkapazitäten aufgebaut wurden. Es führt zu nichts, für das Desaster bei Opel hauptsächlich Managementfehler verantwortlich zu machen. Überkapazitäten können durch Standortschließungen und Arbeitsplatzabbau reduziert werden, aber eben auch durch Arbeitszeitverkürzung. Anstatt dem Gegeneinanderausspielen der Beschäftigten in den verschiedenen Standorten mehr oder weniger hilflos zuzusehen, wäre ein Projekt für eine europäischen Arbeitszeitverkürzung dringend notwendig.
Es ist also alles in allem höchste Zeit für eine neue Arbeitszeitauseinandersetzung, die so angelegt ist, daß sie die verschiedenen Gruppen und Interessen zusammenbringt. Statt der Trennung in überbeschäftigte »Normalarbeitende« und unterbeschäftigte und unterbezahlte Prekäre müßten wir eine begriffliche Neudefinition des Normalarbeitsverhältnisses finden, welche die verschiedenen Interessenlagen berücksichtigt. Es muß genügend Spielraum für eine Anpassung der Arbeitszeit an die individuellen Interessenlagen geben, z.B. Erziehungsphasen, Alterslagen usw. Immer mehr Menschen leiden unter der Zerrissenheit ihrer Lebensbedingungen, können kaum noch Kindererziehung, Partnerschaften, Freundschaften, Pflege der Eltern usw. in ihrem Lebensentwurf zusammenbringen. Hier ist eine gesellschaftlich-kulturelle Debatte erforderlich, die an das Bedürfnis, Arbeit und Leben, soziale und kulturelle Teilhabe auf einer gesicherten Grundlage zusammenzubringen, anknüpft.
Es wäre ein lohnendes Zukunftsprojekt für die Gewerkschaften, diese Debatte zu führen, um so die Auseinandersetzung um kürzere Arbeitszeiten überhaupt führen zu können. Der politische Wille, das zu tun, ist jedoch eine elementare Voraussetzung dafür.
GREGOR GYSI: 90 Prozent unserer Zeit darauf verwenden, Politik zu machen