Neues Kräfteverhältnis in der EU? Italien sieht sich als Sieger des EU-Gipfels

Von Joachim Bischoff

04.07.2014 / sozialismus.de, 29.06.2014

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben auf ihrem Gipfeltreffen endlich den konservativen Politiker Jean-Claude Juncker als nächsten Kommissionspräsidenten nominiert und zugleich eine strategische Agenda für die fünfjährige Amtsperiode verabschiedet. Diese Leitlinien sind wie die Nominierung des Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei ein neues Element im Politikbetrieb der EU.

Die strategische Agenda ist ein politischer Kompromiss zwischen den Forderungen der Sozialdemokraten nach einer Stärkung des Wirtschaftswachstums und dem konservativen britischen Premierminister David Cameron, der für eine Beschränkung der Kompetenzen der EU eintritt. Die zentristische Position hat Angela Merkel übernommen, die einerseits Junker als Kommissionschef durchsetzte, andererseits aber inhaltlich durchaus für eine Einbindung Großbritanniens sorgte.

Die Bundeskanzlerin hält fest: »In der Agenda finden sich gerade auch Großbritanniens Vorstellungen, die ich teile, von einer modernen, offenen, effizienten EU.« Italiens Premier Matteo Renzi, der inhaltlich vom französischen Präsidenten François Hollande unterstützt wurde, sieht sich als Sieger im politischen Ringen um ein neues Personalpaket für die Spitzenpositionen der EU und um die »Leitlinien« für die nächste Regierungsperiode der EU-Kommission. »Die Einigung ist positiv. Ich habe im Namen Italiens für Juncker gestimmt, weil ein politisches Abkommen der Koalitionskräfte vorhanden ist«, kommentiert Renzi das politische Gesamtergebnis.

Es ist nicht wegzudiskutieren, dass die strategische Agenda für den aktuellen Zeitpunkt eine Verschiebung zu den Kernanliegen der französischen und italienischen Regierungen enthält. Denn mit dem Dokument wird eine stärkere Flexibilität beim EU-Stabilitätspakt ermöglicht. »Das Dokument ist sehr positiv. Erstmals steht Wachstum im Vordergrund. Das ist eine Wende für Europa. Man darf die Regeln des Stabilitätspakts nicht missachten. Wer jedoch nur auf Stabilität und nicht auf Wachstum beharrt, verletzt die Regeln des Vertrags«, so Renzi. Gleichwohl ist dies eine charakteristische Übertreibung des selbsternannten »Verschrotters« der alten politischen Klasse in Italien.

Die mehrseitige »Agenda« unterstreicht die bisherigen Festlegungen für die nationale Finanzpolitik, darunter die Obergrenzen von 3% des Bruttoinlandprodukts (BIP) für das Staatsdefizit und von 60% des BIP für die Bruttoverschuldung. Anderseits sollen diese Regeln so angewandt werden, dass eine Verschiebung von einer austeritären Struktur- und Kürzungspolitik hin zu einer Förderung des Wirtschaftswachstums erkennbar ist.

Die EU brauche entschlossene Schritte, um das Wachstum zu fördern, Investitionen zu steigern, mehr und bessere Arbeitsplätze zu schaffen und Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit anzuregen. Dies erfordere es auch, »die in den geltenden Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts enthaltene Flexibilität in bester Weise zu nutzen«.

Am 1. Juli übernimmt Italien für sechs Monate die EU-Präsidentschaft. Auf dem Programm steht damit die Umsetzung des Kompromisses vom EU-Gipfel. Renzi hat, unterstützt von der neuen Kommission, zwar nicht die Chance, einen Kurswechsel in Europa durchzusetzen, aber durchaus eine Stärkung der Wachstumskomponente anzuschieben. Der neue Handlungsrahmen lautet: mehr öffentliche Investitionen und mehr Spielraum, wenn es darum geht, die Neuverschuldung einzudämmen.

Eine Verschiebung von der neoliberalen Strukturpolitik hin zu Investitionsförderung ist auf dem Papier erreicht. Doch wie kommt Europas Wirtschaft praktisch wieder auf Wachstumskurs? Die Europäische Kommission erwartet für dieses Jahr ein BIP-Plus von 1,2%. Dies verweist mehr auf eine Stagnationstendenz.

Wachstumstreiber ist die Bundesrepublik Deutschland , während Italien und Frankreich bislang Mühe haben, die Nulllinie zu erreichen. Trotz einiger positiver Entwicklungen ist ein breiter Aufschwung nicht in Sicht. Auch die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch.

Die Sanierung von Staatshaushalten macht das nicht einfacher. Italiens Wirtschaft soll in diesem Jahr um nur 0,6% wachsen, der Staatshaushalt wird allerdings um 2,6% überzogen. Das heißt, dass auch die Staatsschuldenquote weiter ansteigen wird. Mit 133% der Wirtschaftsleistung ist sie die zweithöchste der EU, nur Griechenland ist noch höher verschuldet. Zählt man die Schulden von Privatpersonen und Unternehmen dazu, liegt die Quote in Italien bei 280% des BIP, in Griechenland und Spanien bei 300%, in Portugal und Irland bei 400%.

Schuldenquote Italien und offizielle Prognosen (Staatsschulden in % des BIP)

Zwischen 1994 und 2005 sank die Schuldenquote von 121% auf wenig über 100%. Vor diesem Hintergrund stößt Renzis Vorstoß, sich vom generellen Spardiktat zu verabschieden, auf vorsichtige Zustimmung. Die Frage bleibt, wo mehr Wirtschaftswachstum und mehr Jobs herkommen sollen.

Die Wachstumsannahmen für Italien sind nicht ermutigend. Im Durchschnitt erwarten IWF und EU ein Realwachstum von 1%. Das ist weniger als in der Phase vor der Finanzkrise und angesichts des geringen Spielraums für expansive Fiskalpolitik und der schwierigen Kreditbedingungen für die Unternehmen wäre eine Förderung und Unterstützung seitens der EU eine wichtige Bedingung für eine Wachstumsbeschleunigung.

Würde Wirtschaftswachstum wirklich im Vordergrund stehen, müsste die strategische Agenda anders aussehen. »Niemand hat eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gefordert«, resümierte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Die Regeln für die europäische Haushalts- und Wirtschaftsüberwachung sollen aber zum Jahresende überprüft werden. Auch bei dieser Überprüfung wird der Gegensatz zwischen den markigen Ankündigungen und bescheidenen Schritten bleiben.

Italiens Regierung will eine Reihe von Reformen umsetzen. In einem ersten Schritt wurden im Mai die Einkommen von Niedrigverdienern um insgesamt 10 Mrd. Euro entlastet. Die italienische Mehrheitspartei PD sieht dies als wichtigen Schritt zur Trendumkehr in Italien. Lohnabhängige und Unternehmen sollen durch Stärkung der Massenkaufkraft mit besseren Rahmenbedingungen ausgestattet werden, mit dem ein höheres Wachstum und eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der italienischen Ökonomie erreicht werden kann.

Bis 2016 sollen die Ausgaben der öffentlichen Hand um 32 Mrd. Euro reduziert werden. Eine Welle von Privatisierungen, die gerade mit dem Börsengang der italienischen Post beginnt, soll jährlich 12 Mrd. Euro zusätzlich in die Staatskassen spülen. Zugespitzt formuliert handelt es sich bei diesem Programm also um relativ bescheidene Umschichtungen in der italienischen Binnenökonomie. Renzi will nur den Rücken frei haben, um sich in Brüssel nicht beständig über einen zu zögerlichen Umgang mit den Regeln des Fiskalpaktes rechtfertigen zu müssen.

Die Erwartungen waren und sind falsch, die europäische Schuldenbremse könnte mindestens zeitweilig ausgesetzt werden. Notwendig und möglich wäre zwar – unterstützt von der EU – ein größeres europaweites Investitionsprogramm, mit dem die Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit quantitativ und qualitativ auf eine andere Größenordnung gehoben werden könnten. Erreicht ist dies mit dem Kompromiss aber noch nicht.

Wenn die Neubesetzung der europäischen Institutionen abgeschlossen ist, wird wie zuvor eine Auseinandersetzung darüber einsetzen, wie der Mix zwischen Struktur- und Wachstumspolitik aussehen soll. Damit ist auch in Frage gestellt, ob die strategische Agenda bis zum Ende der europäischen Wahlperiode Bestand haben wird.[1]