Alice im Wunderland?

Von Richard Detje und Otto König

02.11.2012 / sozialismus.de, vom 31.10.2012

Was will der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank Walter Steinmeier mit dem Satz »Deutschland steht im Augenblick aus mehreren Gründen wie Alice im Wunderland da« zum Ausdruck bringen?

Zweifelsohne ist Lewis Carrolls erstmals 1865 erschienene Erzählung Alice im Wunderland eines der inspirierendsten, einflussreichsten Kinderbücher. Neben all den phantastischen Gestalten – z.B. dem Schildkrötensupperich – und Geschichten – z.B. dem Faible der Herzkönigin, Köpfe abhacken zu lassen – macht der Wechsel der Perspektiven den Schwung der Erzählung aus: mal ist Alice zu groß, dann wieder zu klein für das Wunderland, was für jede Menge Durcheinander sorgt.

Nun ja, politische Prosa führt oft auf Abwege. Gemeint ist: Deutschland – genauer die deutsche Industrie – steht in einem wieder rezessionsgeplagten Umfeld blendend da, allerdings nicht im Wunderland, sondern als Wunderland aus der Perspektive der Krisenländer gesehen. Steinmeier: »Wir haben weiter, wie wir das gut können, Waschmaschinen, Schrauben, Dübel, Maschinen und Autos gebaut – mit großem Erfolg«. Industriestandort Deutschland – eine Erfolgsgeschichte?

Wenn wir kurz zurück schauen, zeugt die politische Geschichte doch mehr vom Chaos im Wunderland. Frank Walter Steinmeier weiß das durchaus. Die Skizze von drei kurzen Etappen:

Erstens: Die rot-grüne Koalition, die er maßgeblich prägte, hatte zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts zunächst einen anderen Fokus. Dort sah man sich in einem Zeitalter, in dem nicht mehr die Industrie, sondern das Regime des Vermögensbesitzes den Ton angibt. Deshalb jene großzügige Verfügung, dass Banken steuerfrei gestellt werden, die ihre Industriebeteiligungen veräußern, um sich dem Investmentbanking zu widmen. Heute weiß man: ein krisenverschärfender Faktor. Deshalb auch die private »Riester-Rente«, mit der Finanzmarktakteure neue Anlagemöglichkeiten wittern konnten. Ebenfalls eine kostspielige Fehlbuchung.

Zweitens: Nach dem Platzen des kurzen Traums der »New Economy« machte Rot-Grün mit der Agenda 2010 einen zweiten Fokus wieder stark: erneute Unterordnung aller Lebensbereiche unter das Primat globaler Wettbewerbsfähigkeit. Das wird heutzutage als Stunde der »Renaissance der Industrie« gefeiert. Ganz zu unrecht. Heute sollte man es besser wissen. Die Exportweltmeister-Strategie von Steinmeier/Schröder auf der Grundlage hoher Produktivität und sinkender Lohnkosten durch zunehmende Prekarisierung in expandierenden Niedriglohnsektoren führte geradewegs in jene Spaltung Europas, aus der die so genannten Krisenländer durch Austeritätspolitik keinen Ausweg finden.

Drittens: Das »Comeback der Industrie« wird im Oktober/November 2012 zu einem Zeitpunkt ausgerufen, zu dem der Rückschlag einer einseitig exportorientierten Wirtschaftspolitik längst spürbar ist.

Richtig ist: Der rabiate De-Industrialisierungsprozess in Großbritannien – dort sank der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach der Orientierung auf die Finanzmärkte der City of London unter Margret Thatcher und ihren Nachfolgern unterschiedlicher parteipolitischer Couleur zwischen 2002 und 2011 noch einmal von 13,9 auf 10,8% – ist heute ein Krisenfaktor par excellance. Auch in Italien, wo man sich vom neuen Reichtum der Metropolen wie Mailand blenden ließ: dort sackte die industrielle Wertschöpfung von 19,1 auf 16% ab.

Aber schon in Frankreich ist es mit den politischen Leitbildern schwieriger. Obgleich industriepolitischer Interventionismus immer auf der politischen Agenda war – man schaue sich aktuell die Konflikte auch mit der deutschen Bundesregierung im Fall des Luft-, Raumfahrt- und Rüstungskonzerns EADS oder der Automobilindustrie an – ist der Anteil industrieller Fertigung von 14% mit heute 10,1% sogar noch unter das Britische Niveau abgesackt. Frankreich ist Deutschlands Haupthandels»partner« – kein Schelm, der da Zusammenhänge sieht.

Kein Schnee von gestern. Wer heute die deutsche Industrie im Wunderland wähnt, sollte über die so gänzlich nicht-literarischen Hintergründe nicht schweigen. Bis in den Spätsommer 2012 stieg die Produktion in der Deutschen Metall- und Elektroindustrie. Das Problem: Seit gut zehn Monaten sind die Auftragseingänge rückläufig, die Auftragspolster schmelzen ab. Die Aufträge aus dem Euro-Raum brechen weg und können aus dem außereuropäischen Weltmarkt immer weniger kompensiert werden.

Beispiel Maschinenbau: Die Produktion nahm bis zur Jahresmitte noch um 4% zu, aber nur durch Abarbeitung der Auftragsbestände; die Zahl der Neuaufträge ist seit elf Monaten rückläufig: im Inland minus 18%, im Auslandsgeschäft minus 6%.

Beispiel Stahlindustrie: Dort waren Geschäftserwartungen schließlich nur noch auf China konzentriert gewesen. Mittlerweile steht von ThyssenKrupp über ArcelorMittal bis Voestalpine und JFE in Japan nur noch Kapazitätsstilllegung mit ein wenig Hoffnung auf Diversifizierung auf der Tagesordnung.

Beispiel Automobilindustrie, wo der Markt (Neuzulassungen) im September 2012 gegenüber dem Vorjahr in Deutschland um 11%, in Frankreich um 18%, in Italien um 26 und in Spanien um 37% eingebrochen ist.

»Comeback der Industrie«? Comeback eines Krisenszenarios!

Der IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber hat Recht: Statt einer falschen Rezeption von Alice im Wunderland steht zukunftsorientierte Industriepolitik auf der Tagesordnung. Prospektiv, nicht wie 2009 als Nachtrabpolitik. Dabei geht es in der kurzen Frist um das Instrument der Kurzarbeit: Die war 2009 auf 24 Monate verlängert, zwischenzeitlich aber wieder auf sechs Monate verkürzt worden; es gilt den Krisenstatus wieder herzustellen – übrigens: Gesamtmetall fordert nichts anderes. Da 2009 die Verknüpfung von Kurzarbeit und Qualifizierungsmaßnahmen von den Unternehmen nicht aufgegriffen wurde, fordert die IG Metall heute zu Recht ein »bildungspolitisches Sonderprogramm«, »das den Städten und Gemeinden Sonderinvestitionsmittel in Höhe von 100 Euro pro Einwohner zur Verfügung stellt. Diese Gelder müssen ausschließlich in Schulen und Wissenschaft fließen« (Huber in der Financial Times Deutschland vom 29.10.2012).

Der Hauptpunkt sollte aus unserer Sicht jedoch ein weiterer sein. Im Krisenjahr 2009 hatte die IG Metall die Auflage eines so genannten Public Equity Fonds vorgeschlagen: finanziert aus einer Vermögensabgabe, um Kapital für Unternehmen zur Verfügung zu stellen, die von Banken keine Investitionsfinanzierung mehr bekommen. Heute erweitert die Gewerkschaft diesen Ansatz über das damalige Szenario einer Kreditklemme hinaus in Richtung eines Fonds für »Sonderabschreibungen für ökologische Investitionen« und einer »ökologischen Industriepolitik bis in die Haushalte hinein, etwa durch steuerliche Begünstigungen von energieeffizienten Haushaltsgeräten oder energetischer Gebäudesanierung«.

Berthold Hubers Überlegungen für »ein neues Konjunkturpaket« sollten weiter gehen:

Erstens sollte festgehalten werden an dem demokratischen Gehalt des 2009er-Fonds: Gelder fließen nur bei erweitertem Zugriff auf die Unternehmenspolitik. Dazu war vorgesehen, dass öffentliche Gelder nur für Investitionen fließen, deren Zukunftsfähigkeit von Staat, Unternehmerverband und Gewerkschaften testiert wurde – wer hier wirtschaftsdemokratische Einflussnahme in einem tripartistischen Setting vermutet, liegt nicht falsch.

Zweitens: Sie sollten nicht nur branchenpolitisch in Hinblick auf die deutschen Standorte ausgerichtet sein. Das gegenwärtige Krisenszenario macht hinlänglich deutlich, dass Auswege nur in einer gemeinsamen europäischen Neuordnungspolitik erfolgen können, die in Deutschland mehr – qualifizierte und höher entlohnte – Dienstleistungsbeschäftigung durch Austrocknung des Niedriglohnsektors ermöglicht. Deutschlands Zukunft in Europa liegt jenseits einer Politik, die Kaufkraft aus den Nachbarländern abschöpft, um hierzulande Industriearbeitsplätze zu sichern.

Drittens: Um dies zu realisieren, sollte sich die IG Metall öffnen: zu den sozialen Bewegungen hierzulande, aber auch zu den sozialen Widerstandsbewegungen in jenen Nachbarländern, die gegenüber der Konkurrenz aus Deutschland nach Alternativen suchen. Und vor allem gegenüber den Schwesterorganisationen, die ebenso wie die deutschen Metaller versuchen, die für sie längst präsente Krise nicht nur abzufedern, sondern eine Vorwärtsstrategie stark zu machen.

Am 14. November findet erstmals ein transnationaler Ausstand gegen die Krisen- und Austeritätspolitik in Europa statt. Das könnte möglicherweise der Beginn einer neuen Erzählung werden.