"Die Marktradikalen sind nur kurz aus den Talk­shows verschwunden"

Gunter Quaißer über Alternativen zu Marktradikalismus und Neoliberalismus

07.06.2012 / Das Interview führte Kai Eicker-Wolf, Interview WISO-Info 2/2012

WISO-Info: Du bist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die auch unter den Kürzeln "Memorandum-Gruppe" oder "Memo-Gruppe" bekannt ist. Ihr versteht Euch als Gegenpol zum herrschenden wirtschafts­wissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Mainstream. Seit wann gibt es die Memo-Gruppe, warum ist sie von wem gegründet worden?

Gunter Quaißer: Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat erstmals im Herbst 1975 ein MEMORANDUM vorgelegt - kurz nach der Verabschiedung des 1. Haushaltsstrukturgesetzes, mit dem der Sozialabbau in der Bundesrepublik eingeleitet ­wurde. Darauf galt es zu reagieren. Das MEMORANDUM war und ist seitdem eine einmal jährlich erscheinende wissenschaftliche Analyse der aktuellen wirtschaftlichen Situation. Wir nehmen darin eine ganze Reihe von politischen Feldern kritisch unter die Lupe: nicht nur die Wirtschafts-, sondern zum Beispiel auch die Sozial- und Bildungspoli tik. Seit der Gründung hat eine Vielzahl von Fachleuten in der Memo-Gruppe zusam mengearbeitet - das MEMORANDUM ist ein richtig langlebiges Gemeinschaftsprodukt.

WISO-Info: Wie sieht Eure Arbeitsweise aus? An wen richtet Ihr Euch? Was hat es mit dem EuroMemorandum auf sich?

Gunter Quaißer: Wir treffen uns mindestens drei Mal im Jahr, um unsere Themen intensiv zu diskutieren. Dabei kommen immer rund 40 Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter zusammen, um das jährliche MEMORANDUM vorzubereiten, Themenschwerpunkte festzulegen, Texte zu schreiben und gemeinsam Positionen zur aktuellen Wirtschaftspolitik zu entwi­ckeln. Wir wollen damit der Politik zeigen, dass es Alternativen gibt - TINA, also "There is no alternative", gilt für uns nicht! Aber wir werden auch in den Gewerkschaften wahrgenommen und zeigen mit unserer wissenschaftlichen Expertise, dass eine andere, progressive Wirtschaftspolitik nicht nur geboten, sondern auch möglich ist - das MEMO­RANDUM erscheint immer zum 1. Mai.

Das EuroMemorandum gibt es seit 1995 - hier treffen sich einmal jährlich Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler aus ganz Europa, um eine gemeinsame Alternative zu formulieren. Die letzte Konferenz war in Wien, die nächste wird im September im polnischen Poznan sein. Das EuroMemorandum erscheint immer Anfang Dezember und wird in mindestens einem halben Dutzend Sprachen veröffentlicht.

WISO-Info: Kommen wir zu Eurem aktuellen Memorandum. Wie schätzt Ihr den weite­ren Verlauf der Euro-Krise ein? Was sind weitere Schwerpunkte?

Gunter Quaißer: Ganz klar - die bisher angewandten Maßnahmen zur Bekämpfung der Euro-Krise sind meist nicht nur unwirksam, sondern geradezu schädlich. Die Spar­politik, die Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Irland aufgedrückt wird, ist völlig kontraproduktiv. Man wird sich nicht aus der Krise "heraussparen" können - eine expansive Wirtschaftspolitik ist absolut notwendig. Eine zentrale Ursache der Krise ist die seit über 30 Jahren weltweit betriebene neoliberale Wirtschaftspolitik. Diese Politik führt zu einer Umverteilung von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen. Vor dieser Umverteilung warnt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik seit ihrer Gründung. In vielen Ländern sanken die Lohnquoten und stiegen die Gewinnquoten. Bei zurückblei­bender Nachfrage führte dies nicht zu vermehrten Investitionen in die Realwirtschaft, vielmehr wurden die Finanzmärkte immer weiter aufgebläht. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch eine starke Deregulierung der Finanzmärkte. Dadurch wurde es möglich, dass im Finanzsektor für Vermögende zeitweise Renditen erwirtschaftet wer­den konnten, die weit über den realwirtschaftlichen Zuwachsraten lagen. All das hat sich auch nach der Krise kaum geändert. Daher bleibt der Finanzsektor das Epizentrum krisenhafter Entwicklungen. Durchgreifende Reformen wurden bislang vermieden. Vielmehr wird versucht, durch kleinere Reparaturen das Vorkrisensystem zu stabilisieren. Das wird nicht reichen - aber es gibt Auswege, wenn die Ursachen der Krise beseitigt werden. Im MEMORANDUM 2012 zeigen wir aber auch Wege auf, den Bankensektor zu reformieren, beschreiben unser steuerpolitisches Konzept für mehr soziale und ökologi­sche Nachhaltigkeit und wir belegen die Notwendigkeit eines finanziell gut ausgestatte­ten Bildungssystems.

WISO-Info: Die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland sind nach wie vor sehr einseitig neoklassisch ausgerichtet. Seit den 1970er Jahren erleben neoklassische, also in der Tendenz marktradikale Ansätze eine Renaissance. Gerade politisch waren und sind diese Denkweisen sehr einflussreich. Was bedeutet das für eure Arbeitsgruppe?

Gunter Quaißer: Das macht uns große Sorgen. Denn dadurch wird ein Umdenken in der Politik stark behindert. Die neoklassischen Theoretikerinnen und Theoretiker haben die Krise nicht vorhergesehen, und sie haben auch keine Antwort auf die Krise. Sie tun weiter so, als wäre nichts geschehen, und fordern wie eh und je mehr Sozialabbau, eine Zurückdrängung des Staates, weniger Regulierungen auf den Arbeitsmärkten, längere Arbeitszeiten und so weiter. Die wirtschaftspolitischen Empfehlungen sind einfach die gleichen wie vor der Krise - eine Katastrophe!

WISO-Info: Wie kommt es, dass marktradikale und neoliberale Positionen an den Hochschulen, aber auch in Politik und Medien eine derartige Dominanz erreichen konnten, wie wir sie heute feststellen müssen?

Gunter Quaißer: Irgendwer hat mal gesagt: Diese Positionen "nützen der herrschen­den Klasse". Das heißt, unsere "Eliten" profitieren davon. Man muss sich nur mal anschauen, mit welchem Finanzeinsatz die - von den Arbeitgebern gesponserte - "Initia­tive Neue Soziale Marktwirtschaft" auf die Medienlandschaft einwirkt. An den Hoch­schulen sind Alternativen zu marktradikalen Positionen in den letzten 20 oder 30 Jahren fast verschwunden. Wer hier Karriere machen wollte, musste sich der vorherrschenden ­neoliberalen - Strömung anschließen. Die Berufungspolitik an den Universitäten war völlig einseitig ausgerichtet. Einer keynesianischen Wirtschaftstheorie beispielsweise, die auf eine Stärkung der Nachfrage etwa durch höhere Löhne und eine expansive Aus­gabenpolitik der öffentlichen Haushalte setzt, wurde einfach die fachliche Kompetenz abgesprochen. Dabei sind die Universitäten der ideale Ort für einen "Streit der Theori­en". Hier könnten Theorien entwickelt werden, hier könnten die Ergebnisse der Wirt­schaftspolitik analysiert und beurteilt werden - aber dieser "Test an der Realität" findet in der Wissenschaft nicht statt. So gibt es zum Beispiel das neoklassische Credo "Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen." Ein Kollege hat vor einiger Zeit bei den großen Wirtschafts­forschungsinstituten nachgefragt, in welchen Studien das mal untersucht wurde. Die Antworten waren erstaunlich: Dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) waren schlichtweg keine diesbezüglichen Studien bekannt. Bei anderen Instituten sah es nicht besser aus.

WISO-Info: Wäre nach dem Desaster der Finanz- und Weltwirtschaftskrise nicht eigent­lich ein Umdenken zu erwarten gewesen?

Gunter Quaißer: Ja. - Aber offensichtlich sind die Marktradikalen nur kurz aus den Talkshows verschwunden und propagieren jetzt wieder die gleichen Forderungen wie zuvor.