Peter Grottian an Katja Kipping und Bernd Riexinger: eine Wortmeldung zum Verhältnis Partei und Bewegung

10.08.2012 / 15.7.2012

Linke sind bei Lob eher verlegen - aber Euch, Katja und Bernd, muss man einfach danken, dass Ihr meines Wissens erstmals in der Geschichte der Partei Die LINKE soziale Bewegungen, die Partei und die Gewerkschaften zu einem generellen Rat­schlag zusammengebracht habt.

Das lechzt nach Verstetigung, zum Beispiel im November klösterlich-köstlich sich für drei Tage mit mehr Basisaktivisten und weniger Promis zu versammeln, um das, was nun zartpflänzig begonnen hat, fortzusetzen. Mit zwei bis drei gemeinsamen, größeren Projekten, die wir auf den Weg bringen könnten.

Alex Demirovic, der uns nahestehende unermüdliche sozialwissenschaftliche Analytiker hat auf einem Rosa-Luxemburg-Symposium eine vorzügliche, aber für uns alle unbe­queme Perspektive für die Linke entworfen: Relativierung der Staatsfixierung und der Beteiligung an der repräsentativen Demokratie - und hin zu einer Partei der Bürger­macht von unten.

Damit wären erhebliche Konsequenzen verbunden, die man der Partei in ihrem der­zeitigen Zustand schwer zutrauen mag. Verbunden wäre die These, dass zwar die Führungskrise der Linken massiv geschadet hat, aber viel entscheidender nach der NRW-Wahl ist: dass die Menschen es für eine Zumutung halten, links zu wählen, weil die Kompetenz und Glaubwürdigkeit für die soziale Frage auf den Hund gekommen ist - und linke Wähler in Scharen auf den Sofas bleiben, zur SPD oder den Piraten über­laufen, aber nicht zu den sozialen Bewegungen stoßen. Da müssen doch alle Alarmglocken läuten, wenn die Kraft-SPD mit dem Versprechen des sozialen Herzens Hartz IV vergessen machen kann. Wer also einen Erneuerungsprozess der Partei-Linken will, der muss seine strategischen Zentren und seine inhaltliche Ausrichtung grundsätzlich überdenken:

Das Schwergewicht des strategischen Zentrums - ich wage das gerade als Nicht-Partei­mitglied zu sagen - müsste sich von der Bundestagsfraktion, bei allen Verdiensten, in einer neuen Balance mehr auf eine unverstockte, lebendige, spaßmachende Partei von unten verschieben. Partei als Anhängsel einer öffentlich präsenten Bundestagsfraktion ­ein großer Binsenirrtum! Eine Bundestagsfraktion hat ein enges Korsett der Möglich­keiten - eine Partei könnte mehr, wenn sie einen Biss hätte, der sie unverzichtbar und antreibend macht. Und weil wir gerade bei der innerparteilichen Demokratie sind: Ein Hauch von liquid democracy stünde Euch gut an, genauer: Euer basistötendes Delegiertenprinzip gehört abgeschafft. Bewältigt Eure Angst, anders nicht alles unter Regiekontrolle zu haben, lasst die Basis atmen, sich entwickeln - so viele Fehler wie die Parteiführung können die gar nicht machen. Diese zerknautscht-maulende-depressive Basis verdient einen aufrechten Gang. Junge Leute - nicht nur die Piraten-Sympa­thisanten - nehmen Euch überwiegend als graumäusige, spaßtötende und empathie­lose Partei wahr - bis zum SDS, bis zu Solid. Eure politische Seele kommt verkommen daher, sie hat keine brennende Kerze am Ende des Tunnels, da kann man so anti­kapitalistisch-aufgeblasen daher kommen, wie man will.

Die Partei müsste - jenseits aller Strömungsstreitigkeiten - ein spannendes Angebot zu mehr Bürgermacht machen, zumindest ein Diskursangebot zum Herbst, bevor sie wieder in die Logiken der Landtags- und der Bundestagswahlen fällt. Dieses drei- bis viermonatige Zeitfenster ist mutmaßlich entscheidend für eine strategische Neuaus­richtung. Wie aber könnte die aussehen?

1)

Revitalisierung der sozialen Fragen mit Gewerkschaften, kirchlichen Basis­organisationen, Erwerbsloseninitiativen, kritischen Tafeln, Teilen der Sozialverbände, Attac und anderen. 12 bis 14 Millionen Menschen schurren an der Armutsgrenze, egal, ob sie wenig verdienen, erwerbslos oder altersarm sind. Die sind Adressaten unseres politischen Verständnisses. Die wollen zunächst kein bedingungsloses Grundein­kommen, die wollen aufrechten Gangs überleben. Und wir tun außer der Mindest­lohnforderung oder erhöhten Eckregelsätzen fast nichts für diese Menschen. Blutleer ist da die LINKE - eine Forderungspartei auf Papier, keine, die Menschen mitnimmt. Eure Basisaktivisten sind zum Teil zum Abgewöhnen, oft inkompetent und menschlich nicht menschenfischerisch unterwegs, zumindest im Westen und im Süden.

Wir müssen einen neuen Anfang wagen, gerade weil die ökonomische Krise in wenigen Monaten die Republik als soziale Krise erreicht hat. Lasst uns in Berlin ein großes Zelt nach dem Muster des Tahrir-Platzes vor dem Brandenburger Tor aufschlagen und diese 12 bis 14 Millionen Menschen unterschiedlicher Betroffenheit einladen, mit uns nach Wegen zu suchen, den Marginalisierten Mut zu Protest und Widerstand zu machen. Aus dem Raum für Verständigung könnte eine Dynamik entstehen und die Linke könnte praktizieren, was sie im Munde führt, aber fast niemals macht: zivilen Ungehorsam! Wer nicht mehr aufschreit, wenn fast eine Million Hartz-IV-Empfänger hart abgestraft werden, weil sie Termine nicht eingehalten haben, der wird zurecht nicht mehr als der sozialen Frage mächtig angesehen. Wir schauen dem Von-der-Leyen-Absolutismus nur noch zu. Wer - wie die LINKE - in Frankfurt vehement gegen Finanz­märkte und Bankenmacht kämpft, muss die soziale Frage mit der ökonomischen Krisendiagnose verbinden. Mit der sozialen Frage ist die LINKE aufgestiegen und abge­stiegen - nicht primär wegen des Führungsstreits.

2)

Partei der Bürgerkommune: Die LINKE hat nur eine Chance, wenn sie Anwalt der demokratischen Bürgerkommune ist. Wasser, Energie, Verkehr, Bildung, Demokratie und anderes sind die Basics einer Bürgerkommune der Zukunft - und zugleich ein zweites Sozialprogramm. LINKE und Recht-auf-Stadt-Bewegungen wie in Köln, Ham­burg, Stuttgart wären gute Allianzen. Im Osten hat die Partei oft Gutes geleistet, im Westen ist schon das Personal nicht stimulierend und wirklich präsent.

3)

Partei der Demokratie: Der Überdruss an der jetzt praktizierten Demokratie ist übermächtig, die Bürger und Bürgerinnen wollen eine andere Demokratie - Gorleben, Stuttgart 21, Rekommunalisierung, Initiativen gegen Rechtsextremismus sind die auf­brechenden Stichworte. Aber die LINKE muss diese andere Demokratie beredt und farbig ausmalen können, sie muss wissen, wie eine Bürgerkommune aussieht, sie muss sagen, wie mit infrastrukturellen Großprojekten umzugehen ist. Sie muss die Bürger­proteste stärken, fantasievolle Demokratieverfahren von unten entwickeln - eben nicht nur Bürgerbegehren und Volksentscheide. Was der grüne Ministerpräsident Kretsch­mann als Demokratie des Gehörtwerdens inszeniert, ist ein elegant-charmanter schwäbischer Absolutismus, hat aber mit Demokratie fast nichts zu tun. Kretschmann hat die Bürger von unten noch nicht einmal im Blick. Aber wo bleiben da streitbare Gegenkonzepte von S21-Gegnern, Gewerkschaften, Linken? Partei der Demokratie werden ist profilträchtig, aber die Vision dazu im Parteiprogramm wirkt bürokratisch­verdruckst, jedenfalls nicht aufbrechend.

Und wenn die LINKE wirklich noch den zivilen Ungehorsam als Protestmittel entdeckt, würde ihr das als Partei der sozialen Frage, Bürgerkommune und Demokratie sehr gut zu Gesicht stehen.